Читать книгу Lost Place - Jellas Geheimnis - Simone Holthaus - Страница 9
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Maya
Am Montagnachmittag konnte ich meine Nervosität kaum noch bändigen. Vor lauter Aufregung, Vorfreude und auch ein bisschen Angst hatte ich in der Nacht kaum schlafen können. Anni und ich standen erwartungsvoll in der Diele, während Papa mit unserem Mercedes in die Einfahrt gefahren kam. Als Papa anhielt, blieb meine Mutter noch einen Moment lang sitzen. Irgendwann schien es, als gäbe sie sich einen Ruck, dann stieg sie aus. Mama blieb stehen und blickte um sich, als sehe sie unser Haus und den Garten mit der hohen, alten Tanne zum ersten Mal. Aufmerksam musterte sie alles.
Und ich stand stocksteif auf meinem Platz in der Diele. Meine Knie fingen an zu zittern und meine Augen füllten sich mit Tränen. Anni drückte fest meine Hand. Dann kam Mama endlich ins Haus. Sie sah mich an, dann kniete sie sich hin und breitete die Arme aus. Da brachen in mir alle Dämme. Schluchzend warf ich mich in diese Umarmung, die ich so lange so unfassbar vermisst hatte. Mama weinte auch.
Irgendwann merkte ich, dass mein Vater mich sanft wegzog. „Mama muss sich jetzt ausruhen“, meinte er und warf mir einen ernsten Blick zu. Ich wusste, dass er mich an mein Versprechen erinnerte, lieb zu sein.
Ich nickte schniefend. Anni zog mich in den Garten, wo wir in der Ecke hinter dem alten Kirschlorbeer ein geheimes Quartier hatten, in dem wir stundenlang kichern und spielen konnten. Hier saßen wir den ganzen Nachmittag. Anni beruhigte mich und brachte mich mit ihrer zuversichtlichen, fröhlichen Art wieder ins Lot.
Obwohl Mama nun zu Hause war, blieb sie seltsam fremd. Äußerlich war sie wie früher. Ein bisschen blasser, ein bisschen zarter, man sah, dass sie längere Zeit in einem Krankenhaus verbracht hatte. Sie kümmerte sich um den Haushalt, ging einkaufen und machte mit mir die Hausaufgaben. Sie traf keine Freundinnen und ging nie aus, aber das hatte sie auch früher nicht gemacht. Sie hatte immer gesagt, Papa und ich, wir seien alles, was sie braucht. An Fröhlichtagen hatte sie dazu ihr glockenhelles, zartes Mamalachen gelachte. An Traurigtagen hatte sie dabei mit Tränen in den Augen aus dem Fenster gesehen.
Nun gab es weder das eine noch das andere. Alle Tage schienen für meine Mutter gleich zu verlaufen. Sie stand morgens auf, erledigte ihre Pflichten, nahm ihre Medikamente und abends ging sie wieder ins Bett. Nichts schien ihr besondere Freude zu machen. Nichts schien sie wütend oder traurig zu machen. Anfangs, in der Zeit nach dem Krankenhaus, liefen wir alle wie auf Zehenspitzen durchs Haus, sogar Frau Hansen, um sie zu schonen.
Ich versuchte, keine Unordnung und nichts kaputt zu machen. Mein Vater stritt nicht mit ihr, wie er es früher manchmal getan hatte. Er fragte sie häufig nach ihrer Meinung, zum Beispiel zur nächsten Bundestagswahl oder ob wir die Tanne im Garten fällen sollten, um mehr Licht in die Küche zu bekommen, vor deren Fenster sie stand. Manchmal lächelte Mama dann und zuckte leicht die Schultern, manchmal reagierte sie auch gar nicht.
Es kam vor, dass sie nachmittags lange Zeit gedankenverloren aus dem Fenster sah. Worüber sie nachdachte, sagte sie nie. Wenn die alte Wanduhr im Flur dann fünfmal schlug, schrak sie auf, atmete tief durch, ging in die Küche, und bereitete das Abendessen vor.
Mit der Zeit gewöhnten wir uns daran, eine andere Mama wiederbekommen zu haben. Ich hatte weniger Angst, aus der Schule nach Hause zu kommen und Mama wieder im Bett bei zugezogenen Vorhängen zu finden. Das passierte nicht mehr. Mama war nun tagsüber immer wach und tat, was von ihr erwartet wurde. Nachts schlief sie wie ein Stein. Das sagte mein Vater einmal mit einem seltsamen Unterton zu meiner Mutter am Frühstückstisch, worauf sie wie immer mit vagem Lächeln reagierte.
Ich war beruhigt, dass meine Mutter wieder da war, und froh, dass es keine Traurigtage mehr gab. Dass meine Mama mich nie von sich aus zu sich zog, um mit mir zu kuscheln, dass sie nicht angelaufen kam, um mich zu trösten, wenn ich weinend mit aufgeschlagenem Knie angehumpelt kam, so wie Annis Mutter es machte, und dass es für sie keinen Unterschied zu machen schien, ob mein Vater und ich überhaupt da waren, löste in mir ein leichtes Unbehagen aus, das ich versuchte, zu verdrängen. Wenn das der Preis dafür war, dass Mama wieder da war, dann zahlten wir ihn. Und ich begann, mich mehr und mehr damit abzufinden, dass zwischen uns und Mama eine unsichtbare Mauer zu sein schien.
Einmal in der Woche fuhr Mama mit unserem Mercedes zur Therapie in die Kreisstadt und weinte. Die Psychologin bestellte uns zu einem Familiengespräch und erklärte, dass das Weinen wichtig für Mama sei, um ihre Gefühle auszudrücken. Als wir nach Hause fuhren, fragte ich meinen Vater ernst, ob es für Mama nicht besser wäre, fröhliche Gefühle auszudrücken. Das erschien mir sinnvoller, als jeden Donnerstag eine Stunde lang zu weinen. Mein Vater antwortete nicht, vielleicht hatte er die Frage auch gar nicht gehört. Wie ich mich fühlte oder mein Vater, fragte die Psychologin nicht.
So blieb es.
Lange.
Wann immer ich konnte, verbrachte ich Zeit bei Anni und ihrer Familie. Meistens schlief ich samstags bei ihr und wir verbrachten den halben Sonntag im Schlafanzug und picknickten auf ihrer Bettdecke.
Als ich zehn Jahre alt war, fuhr ich zum ersten Mal mit Anni und ihrer Familie in den Urlaub – drei Wochen nach Frankreich, in die Bretagne. Annis Mutter sprach mit meinen Eltern und versicherte ihnen, man könne es einfach nicht übers Herz bringen, Anni und mich zu trennen, und sie würden gut auf mich aufpassen.
Meine Eltern stimmten zu, wahrscheinlich waren sie insgeheim froh, eine Weile ohne die Verantwortung und die täglichen Pflichten zu sein, die das Leben mit einem Kind mit sich brachten.
Ich erlebte drei sorgenfreie, unbeschwerte Sommerferienwochen mit Anni und ihrer Familie. Auch nach den Ferien verbrachte ich meine gesamte freie Zeit bei ihnen, immer halb froh, der unnatürlichen Stille bei uns im Haus zu entkommen, und halb mit schlechtem Gewissen – aus genau dem gleichen Grund. Eine andere Freundin hatte ich nicht. Anni reichte vollkommen.
Anni kannte meine Geheimnisse – und ich ihre. Als Einzige wusste Anni, dass ich insgeheim manchmal Angst vor meiner schönen, abwesenden Mama hatte und mich nicht traute, ihr zu erzählen, dass ich die Halskette mit dem kleinen silbernen Vogel daran, die ich zu meinem elften Geburtstag bekommen hatte, verloren hatte. Ich dagegen wusste, dass Anni davon träumte, später ein berühmtes Topmodel zu werden, das aber niemals gegenüber ihren Brüdern zugeben würde.
Und wir lästerten beide zusammen über den idiotischen Darius aus der Klasse über uns, der Anni und mich belästigt hatte, wann immer er uns auf dem Schulhof oder in den Gängen zwischen den Klassen erblickt hatte. So lange, bis ihre beiden Brüder ihn einmal nach der Schule abgefangen und mit ihm die künftigen Regeln für unseren Kontakt klargemacht hatten. Seitdem wurde er immer starr vor Schreck, wenn er eine von uns auch nur von Weitem sah, drehte sich blitzschnell um und verschwand. Das fanden Anni und ich zum Totlachen.
Die Therapeutin, zu der mein Vater mich brachte, als ich zwölf war, stellte viele Fragen über meine Mutter, meinen Vater und die Schule. Wie es für mich gewesen sei, als meine Mutter nicht da gewesen war, wollte sie wissen. Ich schaute zu Boden und sagte nichts. Niemand sollte und würde je erfahren, wie einsam ich tief in mir gewesen war – und immer noch war, und wie weh das tat. Niemand, nicht einmal Anni, ahnte, wie schlecht es mir manchmal ging. Auf keinen Fall wollte ich mit jemandem darüber sprechen und schon gar nicht mit dieser Frau, die fragte und fragte und dabei doch dachte, sie wisse schon alles über mich. Ich erzählte ihr gerade so wenig, dass sie zufrieden schien und nicht weiter nachbohrte. Ja, ich sei traurig gewesen, als meine Mutter krank geworden sei, und ja, ich hätte mich auch manchmal allein gefühlt. Aber ich hätte ja auch meinen Vater und Anni. Und meine Mama sei wieder gesund (wie es wirklich war, neben meiner geistesabwesenden Mutter zu leben, sagte ich natürlich nicht), also gehe es mir jetzt wieder gut. Und nein, ich wünschte mir nicht, mehr Freunde zu haben und das beliebteste Kind der Klasse zu sein – das stimmt sogar, denn Anni reichte mir vollkommen. Eine andere Freundin brauchte ich nicht. Was ich wirklich brauchte, wollte ich dieser Therapeutin jedenfalls ganz bestimmt nicht sagen.
Nach fünf Sitzungen, in denen ich erst endlos ausgefragt wurde und dann mit der Therapeutin spielen musste, teilte sie meinem Vater mit, dass sie der Meinung sei, ich sei hochsensibel, vielleicht auch hochbegabt, brauche viel Raum und Verständnis, um mich zurückzuziehen, und sei für emotionale Probleme anderer sehr empfänglich. Darauf sollten meine Eltern Rücksicht nehmen und mich so sein lassen, wie ich nun mal wäre. Mein Vater bedankte sich bei der Therapeutin, packte mich ins Auto und fuhr mit enttäuschtem Gesichtsausdruck nach Hause. Ganz sicher hatte er erwartet, dass diese Therapeutin aus mir eine selbstbewusste, in allen Lebenslagen erfolgreiche und eloquente Vorzeigetochter machen würde. Stattdessen hatte sie ihm quasi gesagt, man solle mich schüchternen Sonderling am besten in Ruhe lassen und mich so nehmen, wie ich nun mal war. Bham. Nach meiner Mutter nun also die große Enttäuschung Nummer zwei im Leben meines Vaters. Fast mochte ich die Therapeutin dafür.
Meine Eltern lebten nebeneinander her. Mit der Zeit verbrachte mein Vater immer mehr Zeit im Büro und auf Dienstreisen. Als Prokurist eines mittelgroßen Pharmazieunternehmens, das auch im Ausland Medikamente verkaufte, war er viel beschäftigt. Er sagte es nicht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass meine Mutter und ich ihn enttäuschten. Keine von uns erfüllte seine Erwartungen, so wandte er sich mehr und mehr von uns ab. Wenn er zu Hause war, zog er sich meistens in sein Arbeitszimmer zurück. Meiner Mutter schien das nichts auszumachen. Sie lebte in ihrer eigenen, immer gleichbleibenden Welt, aus der sie uns ausschloss. Irgendwie gewöhnten wir uns alle daran, und vielleicht merkten wir drei deshalb auch lange nicht, dass etwas begann, sich zu verändern. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Eine Zeitung, die einen ganzen Tag auf dem sonst immer ordentlich aufgeräumten Tisch im Wohnzimmer liegen blieb. Der feinblättrige Farn im Bad, an dessen Spitzen sich mehr und mehr braune Flecken zeigten, weil er zu wenig gegossen wurde. Kleine Zeichen von Nachlässigkeit meiner sonst roboterhaft funktionierenden Mutter.
Und eines Nachmittags, als es schon warm genug war, um es sich mit einer Decke auf dem Rasen und meinem zerlesenen Lieblingsband von Jane Austen (Sinn und Sinnlichkeit, ich liebte einfach diese romantischen Liebesgeschichten und den feinen Witz der Autorin, auch wenn Anni darüber immer die Augen verdrehte) gemütlich zu machen, blieb ich vor Schreck stocksteif stehen.
Ich hatte Unkraut in Mamas Gemüsebeet entdeckt. Und nicht wenig! Hier zog sie Salat, Mohrrüben, Erdbeeren und sogar eigene Kartoffeln, irgendeine alte, spezielle Sorte, die man im Laden gar nicht mehr kaufen konnte. Normalerweise war das Beet immer säuberlich geharkt und kein grüner Stängel, der dort nicht hingehörte, hatte eine Chance, zu überleben. Doch nun wucherten eindeutig wilde Pflanzen zwischen den Gemüsesorten meiner Mutter.
Ich beschloss, mein mulmiges Gefühl zu ignorieren. Vielleicht war es ja auch ein gutes Zeichen, dass meine Mutter nicht mehr alles perfekt machen wollte, vielleicht konnte sie sich endlich mal ein bisschen entspannen. Beim Abendessen beobachtete ich sie heimlich genauer, aber sie gab sich wie immer. Trotzdem, ein mulmiges Gefühl blieb irgendwie bei mir.
Zwei Tage später radelte ich früher als sonst von der Schule nach Hause. Schmidtchen, der schmächtige Physiklehrer mit der hohen Stimme, war krank und so blieb uns sein langweiliger Vortrag heute erspart und die letzten beiden Stunden fielen aus. Ich wollte zu Hause nur schnell etwas essen und mich dann wieder mit Anni treffen. Bei dem schönen Wetter hatten wir Lust auf einen Eisbecher bei Mario, dem Italiener mit den besten Eissorten in der Gegend. Die halbe Klasse wollte am Nachmittag dorthin.
Als ich mit meinem Fahrrad schwungvoll um die Ecke bog und in die Einfahrt unseres Hauses fahren wollte, bremste ich allerdings abrupt ab. Etwas war anders. Die Vorhänge des Schlafzimmers meiner Mutter waren ... zugezogen. Mittags. Adrenalin rauschte durch meinen Körper und ich blieb stocksteif mitten in der Einfahrt stehen. Mein Gehirn weigerte sich, zu denken. Weigerte sich, Erinnerungen zuzulassen an die Zeit der Sonnig- und Traurigtage. Als nach Hause kommen manchmal wunderschön und manchmal schrecklich war. Bis es immer schlimm war und sie gar nicht mehr aufstand. Und dann weg war, in der Klinik.
Schlagartig riss ich mein Rad herum, sprang auf und raste los. Ich trat und trat in die Pedale, immer weiter, nur wegwollte ich. Das durfte einfach nicht sein. Es konnte doch nicht alles wieder von vorne losgehen! Mittlerweile lief mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht und ich merkte, dass ich unseren Ort schon weit hinter mir gelassen hatte.
Weiter hinten erkannte ich den Hof von Martens Eltern. Er ging in meine Klasse, aber ich hatte wenig mit ihm zu tun. So weit war ich schon gefahren, ohne es zu merken.
Plötzlich hupte es hinter mir laut und durchdringend und ein tuckernder Trecker kam neben mir zum Stehen. Es waren Marten und sein Vater.
„Mensch, Mädchen, träumst du, oder was? Steht hier rum als wär das die Fußgängerzone! Nun mach mal Platz!“, schimpfte Herr Brauer.
Marten sah mich entschuldigend an, ihm war der Auftritt seines Vaters sichtlich peinlich.
Es dauerte lange, bis ich an diesem Tag nach Hause fuhr. Als ich verschwitzt und völlig erschöpft das Rad in die Einfahrt schob, sah ich meine Mutter im Garten über das Gemüsebeet gebeugt. Sie bemerkte mich, fragte aber nichts und widmete sich wieder den Salatköpfen. Sie sah müde aus.