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Jella

Ich kann mich noch genau an die Zeit erinnern, diese Wochen, kurz bevor sich alles veränderte. Es war nicht mehr lange bis zu meinem 16. Geburtstag, den ich regelrecht herbeigesehnt hatte. Endlich 16 sein, das stellte ich mir einfach großartig vor. Das Beste daran wäre, nicht mehr 15 zu sein. Mit 15 wurde man von allen noch wie ein Kind behandelt, obwohl man sich selber gar nicht mehr so fühlte. Die Zehntklässler, zu denen ich gehörte, waren auf meiner Schule das beste Beispiel dafür. Von den Oberstufenschülern wurde man komplett ignoriert, was mir eigentlich entgegenkam, denn Aufmerksamkeit zu erregen, dazu noch unerwünschte, war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Trotzdem konnte ich manchmal nicht verhindern, dass ich sie heimlich beobachtete, wenn sie in den Pausen zusammenstanden und lässig und unerreichbar auf mich wirkten.

Zu einer dieser Gruppen gehörte Ben, den ich schon lange heimlich gut fand. Er war 17 und kein Angeber-Typ wie manche seiner Freunde. Einmal konnte ich ihn dabei beobachtet, wie er einem Jungen aus der 7., der auf dem Schulhof von drei anderen in eine Ecke gedrängt wurde, geholfen hat. Das war typisch für ihn, deswegen mochte ich ihn auch so gerne. Deswegen ... und weil er mit seinen wuscheligen blonden Haaren und den blauen Augen auch ziemlich gut aussah. Er kümmerte sich immer um alles. Im letzten Jahr hatte er einen Artikel über Flüchtlinge geschrieben, die an unsere Schule gingen, und sogar irgendeinen Nachwuchsjournalistenpreis dafür bekommen. Trotzdem war er nicht eingebildet, sondern richtig nett und meistens gut drauf. Leider bemerkten das außer mir noch viele andere. Ben war stets von einer Gruppe von Freunden, Mädchen, die kichernd um seine Aufmerksamkeit buhlten, und einigen Mitläufern, die sich im Glanz der angesagten Clique sonnen wollten, umringt.

Zu ihnen gehörte auch Svea, die Tochter des größten Autohändlers im Ort. Sie war groß, hatte lange, in Wellen herabfallende schwarze Haare, die ihr fast bis auf die Hüften fielen, und ärgerlicherweise auch noch Grübchen in den Wangen beim Lächeln. Alle Jungs fanden sie toll, aber sie stand auf Ben. Das wusste jeder. Auch sie war schon 17 und hatte vorzeitig den Führerschein gemacht. Eigentlich durfte sie nur in Begleitung Erwachsener Auto fahren, aber ihr Vater erlaubte ihr, auf dem riesigen Gelände hinter seiner Firma mit ihrem Auto allein oder mit Freunden herumzufahren. Zu diesen Freunden gehörte auch Ben. Alle redeten darüber, wann die beiden zusammenkommen würden. Die meisten tippten auf die große Party, die Sveas Vater traditionell am 30. April zum Maitanz bei uns im Ort schmiss. Sein Autohaus sponsorte die Getränke und Sveas Bruder, der schon 22 war und studierte, spielte den DJ.

Manchmal stellte ich mir vor, dass ich auch auf dieser Party sein würde. Ben würde erkennen, dass Svea nur eine hübsche Hülle war. Er würde mich zum ersten Mal bemerken. Und wir würden zusammen tanzen … So etwas hatte ich mir schon viele Male ausgemalt. Natürlich würde mich ein Junge wie Ben in der Wirklichkeit niemals bemerken.

Ich war unauffällig. Das hatte ich jahrelang trainiert. Im Unauffälligsein war ich besonders gut. Schon immer war ich schüchtern gewesen. Es war mir ein Graus, im Mittelpunkt zu stehen. Immer war ich ein bisschen ungelenk gewesen und nicht so wie die anderen hübschen Mädchen mit ihren langen Haaren. Meine waren wellig, in einer undefinierbaren Mischung aus dunkelblond und braun, leider auch ziemlich fein und fielen nie glatt und hübsch über die Schultern. Stattdessen lagen sie meistens so, wie es ihnen passte. Mittlerweile trug ich sie halblang, was den Vorteil hatte, dass sie mir wie ein Vorhang ins Gesicht fielen und ich mich hinter ihnen unsichtbar machen konnte.

Das machte meinen Dad, wenn er denn mal zu Hause war, immer wahnsinnig. Er blickte manchmal von seinem Laptop auf, an dem noch schnell die neusten Geschäftsberichte und die aktuellen Zahlen verglichen werden mussten, und sah mich an, als hätte er mich nie vorher bemerkt. Ohnehin schien er immer erstaunt, bei seinen seltenen Aufenthalten zu Hause auf mich zu treffen. Oft hatte ich das Gefühl, er vergaß zwischendurch auf seinen Geschäftsreisen und Meetings immer wieder, dass er ein Kind hatte – mich.

Was er dann sah, schien ihm oft zu missfallen. Er fragte mich, warum ich meine Haare nicht ordentlich trug, und verstand nicht, weshalb ich wieder nicht zum Training in den elitären Hockey-Klub, den er für mich ausgesucht hatte, gegangen war. Dabei wusste jeder, der mich kannte, dass ich ein hoffnungsloser Fall beim Sport war. Ich kriegte einfach die erforderliche Koordination der Bewegungen, gepaart mit Schnelligkeit und Mut beim Spiel, nicht hin.

Einmal hatte ich bei einem Spiel, zu dem mich mein Vater voller Begeisterung geschleppt hatte, gesehen, wie Emily, einem Mädchen aus der Parallelklasse, von einem Mädchen der gegnerischen Mannschaft so unglücklich mit deren Schläger im Gesicht getroffen wurde, dass ihr ein Schneidezahn ausgeschlagen wurde. Alles war voller Blut. Und mir wurde schlecht. Mein Vater bemerkte das gar nicht, sondern lobte Emily anerkennend dafür, dass sie noch ohne Zahn und mit blutverschmiertem Gesicht weiterspielen wollte. Bis ich ihm auf seine teuren, handgenähten Lederschuhe kotzte. Er sprach den ganzen Nachhauseweg kein Wort mit mir. Für mich war klar, dass mir bei meinem Glück nicht nur ein, sondern vermutlich alle Zähne ausgeschlagen werden würden, und so weigerte ich mich von da an, auch nur ein Spiel anzuschauen.

Nach zahllosen gescheiterten Versuchen, mich zu einem Tennis-, Volleyball-, Ballett- und Reiterass zu formen, und den entsprechenden niederschmetternden Rückmeldungen der Trainerinnen, die allesamt meinten, dass mir sowohl das Talent als auch jeglicher Ehrgeiz fehlten und ich zudem keinerlei Kontakt zu den anderen Sportlerinnen aufnehmen würde, ließ Dad mich schließlich in Ruhe. Danach behandelte er mich mit dieser gewissen Mischung aus mildem Erstaunen, Desinteresse und immer auch latent vorhandener Enttäuschung, bei der ich mich sofort unbehaglich fühlte.

Wenn ich wusste, dass mein Dad zu Hause war, ging ich ihm aus dem Weg. Was leicht war, da er sowieso die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer verbrachte. Gemeinsame Abendessen oder Ausflüge am Wochenende, wie wir sie gelegentlich gemacht hatten, als ich noch klein war, gab es schon lange nicht mehr.

Als kleines Kind hatte ich es geliebt, wenn meine Eltern am Wochenende mit mir an die Ostsee gefahren waren, die nur etwa zwei Stunden Fahrtzeit entfernt war. Im Auto durfte ich Hörspiele hören und Reiswaffeln essen und am Strand buddelte ich und hüpfte bei warmem Wetter in die Wellen, obwohl ich noch nicht richtig schwimmen konnte. Ich liebte das Wasser einfach schon immer. Mein Dad lachte und feuerte mich an, meine Mutter stand mit halb skeptischem, halb belustigtem Blick an der Wasserkante und hielt ein Handtuch für mich bereit. Wenn ich dann eingekuschelt in meinem blauen Bademantel mit den weißen Punkten zwischen ihnen im Strandkorb saß, diskutierten sie scherzhaft darüber, von wem ich diesen Spaß am Wasser und die Abenteuerlust im Meer geerbt hätte. Immer gewann mein Vater die Diskussion, der behauptete, er sei als Kind genauso gewesen, nur habe er sich schon mit fünf Jahren das Schwimmen selbst beigebracht, bis ich schrie: „Ich hab alles nur von mir selbst geerbt, und wenn ich groß bin, segele ich mit Pippi Langstrumpf nach Taka-Tuka-Land!“

Pippi war meine Heldin. Meine Mutter hatte mir alle Geschichten immer und immer wieder vorlesen müssen. Gerade weil ich eher der schüchternen, braven Annika glich, liebte ich die wilde, freche, mutige Pippi umso mehr.

Mit meiner Mutter war es anders als mit meinem Dad. Schon als kleines Kind hatte ich gelernt, viel Rücksicht auf sie zu nehmen. An manchen Tagen kümmerte sie sich hingebungsvoll um mich. Dann machten wir alles, was ich wollte. Wir backten Kuchen nach verrückten Rezepten, die ich mir selber ausdachte, und verwandelten die Küche in ein Schlachtfeld. Wir lachten und lachten, bis uns die Luft wegblieb. Oder wir verkleideten uns mit Mamas alten Hippieklamotten, die ganz hinten im Kleiderschrank hingen, und gingen so spazieren. Wenn uns dabei jemand begegnete und schief ansah, streckte ich ihm die Zunge heraus, und Mama lachte.

An solchen Tagen durfte ich so lange aufbleiben, wie ich wollte und abends vor dem Fernseher Eis essen, bis mir der Bauch wehtat. Ich liebte diese Tage. Sie kamen über mich wie ein unerwarteter Regenbogen nach einem langen Regen. Am nächsten Morgen wachte ich meistens hin- und hergerissen zwischen freudiger Erwartung, was ich mit meiner wunderbaren Mama heute wieder erleben durfte, und unruhiger Aufmerksamkeit, welche von den beiden Mamas, die ich kannte, mir heute begegnen würde.

Denn auf die Sonnentage folgten die Regentage. Düstere, schwere Tage. Meine Mutter war wie ausgewechselt und schien mich kaum wahrzunehmen. Oft stand sie an solchen Tagen gar nicht erst aus dem Bett auf. Die dunklen Samtvorhänge, die schon meine Urgroßmutter vor ihren Fenstern hängen und die sie an meine Mutter vererbt hatte, wie auch das große alte Haus, in dem wir lebten, blieben zugezogen und ließen alles im Dämmerlicht. Mama schlief dann stundenlang, und wenn sie irgendwann hinunter in die Küche kam, wo ich mich bemüht hatte, ein besonders leckeres Essen zu kochen, damit sie bald wieder gesund werden würde, sah man an ihren roten Augen, dass sie geweint hatte.

Dann saß sie erschöpft auf dem harten Küchenstuhl und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Das Essen rührte sie nicht an und statt mir auf mein Geplapper zu antworten, sah sie durch mich hindurch und seufzte. Irgendwann schleppte sie sich dann immer nach nebenan auf unser gemütliches braunes Cordsofa, das so breit war, dass bequem drei Leute gleichzeitig darauf liegen konnten, rollte sich zusammen und schlief ein. Damit ihr nicht kalt wurde, holte ich meistens rasch meine alte Babykuscheldecke, die noch immer in meinem Bett lag, auch wenn ich eigentlich schon viel zu groß dafür war, und deckte sie damit zu. Dann setzte ich mich auf den Boden vor die Couch, um auf Mama aufzupassen. Sie sollte, wenn sie aufwachte, sehen, dass ich da war und sie lieb hatte.

Ich verstand damals nicht, was mit meiner Mutter los war. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was ich wohl getan hatte, dass Mama so traurig machte. Damit sie wieder lieb und fröhlich war, versuchte ich, schon im Voraus zu erahnen, womit ich ihr eine Freude machen konnte.

Manchmal freute Mama sich, wenn ich ihr Blumen brachte, die ich auf der Wiese neben unserem Haus gepflückt hatte. Im Mai stand oft der ganze Küchentresen voller kleiner Vasen mit Löwenzahn, den wir wegen seiner gelben Farbe Butterblumen nannten. Dann konnte es sein, dass meine Mutter mich drückte und lachte und mich: „Jella, mein Sonnenkind“, nannte. Und die Vorhänge im Schlafzimmer waren offen.

Manchmal strich sie mir geistesabwesend über den Kopf, lächelte zerstreut und sah an mir vorbei. Und manchmal stellte ich die Blumen vor Mamas Schlafzimmertür, und sie standen am nächsten Morgen immer noch dort. Bis Frau Hansen, unsere Putzfrau, die zweimal in der Woche die Böden wischte, staubsaugte und aufräumt, die Blumen mitnahm, weil sie die Köpfe hängen ließen.

Die Regentage verschwanden davon nicht. Manchmal klappte es, dass Mama einen Sonnentag hatte, wenn ich es am Tag zuvor auf dem Rückweg von der Schule geschafft hatte, auf keine der Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten. Das ging bei den großen Steinen auf dem Pausenhof und direkt hinter der Schule noch ganz leicht. Mein Weg führte aber auch durch eine kleine Gasse mitten im Ort, vorbei an der einzigen Bäckerei, aus der es immer so lecker roch, wenn im Sommer die Tür aufstand, und hier passierte es mir immer wieder, dass ich doch auf eine der Ritzen zwischen den kleinen Pflastersteinen trat.

Manchmal bemerkte ich es auch gar nicht, aber wenn der nächste Tag ein Regentag war, wusste ich, dass ich nicht gut genug aufgepasst hatte, und war wütend auf mich. Ich flüsterte dann Mama durch die geschlossene Schlafzimmertür zu, dass ich am nächsten Tag noch viel besser aufpassen würde. Und dass dann alles wieder gut sein würde.

Als ich in der zweiten Klasse war, erzählte meine Lehrerin Frau Thomas von Religionen aus fernen Ländern und davon, dass manche Menschen dort ihren Göttern Opfer brachten, damit die Götter die Wünsche der Menschen erfüllten. Auf dem ganzen Nachhauseweg arbeitete es in mir. Das musste ich unbedingt versuchen! Jetzt wusste ich, was Mama helfen würde!

Als ich zu Hause war, rannte ich sofort in mein Zimmer. Ich wusste schon ganz genau, dass nur ein bestimmter, einzigartiger Gegenstand ein Opfer abgeben würde, das mächtig genug war, um meinen Wunsch zu erfüllen. Mit heiligem Ernst nahm ich Bruno, den Bären mit der blauen Latzhose, der seit dem Tag meiner Geburt in jeder Nacht an meiner Seite gelegen und über meinen Schlaf gewacht hatte, und lief mit ihm nach draußen.

Frau Thomas hatte uns gesagt, dass manche Opfergaben von den Menschen verbrannt, manche auch in einen Fluss geworfen wurden. Da ich kein Feuer machen konnte, lief ich mit Bruno zu dem kleinen Fluss, der sich in sanften Rundungen durch die Wiesen am Rande unseres kleinen Städtchens schlängelte. Vollkommen sicher, das Richtige zu tun, warf ich Bruno, ohne zu zögern, in das Wasser. Dann schloss ich die Augen und wünschte mir ganz fest, dass es von nun an nur noch Sonnentage für Mama geben solle. Ich weiß noch, dass es ein warmer Tag war und ich in der Nähe das Tuckern eines vorbeifahrenden Treckers hörte. Und ich war froh, denn nun würde endlich immer alles gut sein.

Auf dem Heimweg kamen mir erste Zweifel. Immerhin hatte das mit den Butterblumen und den Ritzen zwischen den Steinen auch nicht stets die gewünschte Wirkung erzielt. Was, wenn ich Bruno vielleicht nicht richtig in das Wasser geworfen und das Opfer gar nicht funktionierte, weil ich irgendwas falsch gemacht hatte? Und hatte Frau Thomas nicht auch gesagt, dass diese Opfer oft zu bestimmten Zeitpunkten stattfanden, zum Beispiel, wenn Vollmond war oder an bestimmten Feiertagen? Was, wenn ich es mal wieder nicht RICHTIG gemacht hatte? Dann wäre Bruno ganz UMSONST im Wasser untergegangen!

Dieser Gedanke traf mich wie ein Blitz. Über Brunos Schicksal hatte ich mir vorher nicht die geringsten Gedanken gemacht. Ich war völlig beseelt gewesen von dem Wunsch und meiner Zuversicht, nun wirklich alles zum Guten wenden zu können. Nun aber wurden mir die Konsequenzen meines Handelns mit voller Wucht bewusst. Ich hatte meinen geliebten Bruno, meinen ältesten und treuesten Gefährten und Tröster, ohne den ich noch nie eine Nacht geschlafen hatte, IN DEN FLUSS GEWORFEN! Und wahrscheinlich hatte ich es auch noch FALSCH gemacht, sodass Mama noch nicht mal FROH dadurch wurde!

Ich brach in Tränen aus und rannte wie verrückt zurück zu der Stelle, an der ich Bruno ins Wasser geworfen hatte. Natürlich hatte die Strömung ihn längst fortgespült. Voller Verzweiflung hastete ich am Flussufer entlang und hielt nach etwas Braunem, Pelzigem mit hellblauer Latzhose Ausschau. Ich rannte und rannte, stolperte, fiel hin und – sah beim Aufstehen einen braunen Zipfel, der an einem Ast hängend am Ufer über den Grasrand lugte. Schnell robbte ich an den Rand der niedrigen Böschung und griff nach dem Zipfel. Um ihn zu erreichen, musste ich mich ganz lang machen, aber ich schaffte es. Erleichtert griff ich nach dem durchnässten Bären und drückte ihn an mich. Doch plötzlich verlor ich an dem rutschigen Ufer den Halt, strauchelte, balancierte kurz auf der Stelle und kippte dann rücklings in das kalte Wasser.

Der Fluss war nicht tief, es war Sommer und ich konnte schwimmen, aber vor lauter Überraschung und Schreck brüllte ich wie am Spieß, ruderte wild mit den Armen und versuchte panisch, mit den Füßen wieder Halt zu finden.

Nach wahrscheinlich sehr kurzer Zeit, die mir aber unendlich lang vorkam, packten mich zwei Hände fest an den Armen und zogen mich ans Ufer, wo ich heulend und erschöpft liegen blieb.

Es war der Bauer, dessen Trecker ich gehört hatte, als ich mir noch so sicher gewesen war, das Richtige zu tun. Er hatte auf seinem Feld nach dem Rechten sehen wollen und sagte meinem Vater später, dass ihm bei meinen Schreien fast das Blut in den Adern gefroren sei.

Noch Jahre später hatte ich wegen dieser Redewendung Angst im Winter, dass mir tatsächlich das Blut in den Adern gefrieren könnte und ich dann sterben würde.

Der Bauer fuhr mich auf seinem Trecker nach Hause und schimpfte den ganzen Weg lang, wie dumm und unvorsichtig ich gewesen war, so dicht am Ufer zu spielen. Drei Jahre zuvor war ein kleiner Junge in den Fluss gefallen und ertrunken. Er hatte im Garten gespielt und war, als die Mutter kurz hineingegangen war, um nach dem Essen zu schauen, das auf dem Herd stand, wohl zum Fluss gelaufen. Nachdem die Mutter das Verschwinden bemerkt hatte, wurde eine große Suchaktion gestartet, aber seine Leiche war erst am nächsten Morgen, kilometerweit flussabwärts, entdeckt worden.

Jeder im Ort kannte die traurige Geschichte – und allen Kindern war es verboten, am Fluss zu spielen. Auch meine Eltern hatten mich eindringlich vor der Gefahr, die vom Fluss ausging, gewarnt und mir streng verboten, in der Nähe des Flusses zu spielen. Zu meinem Schrecken über das Hineinfallen, der Erleichterung, Bruno wiederzuhaben, den ich fest an mich drückte, und der Verzweiflung, dass mein Opfer vermutlich umsonst gewesen war, gesellte sich nun noch die Angst vor dem Zorn meiner Eltern und der daraus resultierenden drohenden Strafe.

Als wir mit dem tuckernden Trecker um die Ecke bogen, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Vorhänge vor dem Fenster meiner Mutter waren OFFEN. An einem REGENTAG. Das passierte NIEMALS. An Regentagen lag meine Traurigmama im Bett. Immer. Und die Vorhänge waren zu. Immer. Nun waren sie offen. Halb tauchte Hoffnung in mir auf, dass mein schiefgelaufener Plan doch irgendwie funktioniert hatte. Aber eigentlich spürte ich ganz genau, dass hier etwas völlig anders war als sonst.

Auf unser Klingeln öffnete niemand. Der Bauer grummelte vor sich hin und ging ums Haus, um es an der hinteren Tür zu versuchen. Als auch hier niemand reagierte, spähte er durch das Küchenfenster und stellte schließlich fest, dass niemand da sei. Ratlos kratzte er sich am Kopf und überlegte offensichtlich, was er nun mit diesem durchnässten, frierenden und verängstigtem Mädchen anfangen sollte. Gerade als er mich wieder auf den Trecker hob und verkündete, dass wir erst einmal zu seiner Frau nach Hause fahren würden, und die würde schon wissen, was zu tun sei, kam unser Nachbar Herr Grünewoldt aus der Tür seines kleinen Bungalows gestürzt.

Herr Grünewoldt war Rentner und nicht mehr gut zu Fuß. Seit seine Frau vor drei Jahren gestorben war, war er meistens allein, denn Kinder gab es nicht, und seine wenigen Freunde waren alle gestorben oder früh ausgewandert, wie er mir öfter erzählte, wenn ich auf ein Schwätzchen bei ihm vorbeischaute. Ich mochte ihn gerne. Im Spätsommer, wenn die Raben schon die Kirschen von seinem immer übervollen, wunderschönen Kirschbaum pickten, erlaubte er mir immer, die schönsten Kirschen von den tief herabhängenden Zweigen zu pflücken, und ich durfte so viele von den saftigen, dunkelrot glänzenden Früchten essen, wie ich nur wollte.

Nun aber humpelte Herr Grünewoldt aufgeregt auf uns zu. Er sah mich besorgt an und murmelte aufgeregt mit dem Bauern. Ich verstand nur Wortfetzen: „… Krankenhaus ... wohl schon länger ... seit Wochen nicht mehr aufgestanden ... auch an das Kind denken.“ Ich verstand zwar nicht alles, aber ich begriff, dass es um meine Mama gehen musste. Denn sie hatte die letzten Wochen tatsächlich fast ausschließlich bei zugezogenen Vorhängen in ihrem Zimmer verbracht. Es hatte keine Sonnentage bei uns mehr gegeben, nur noch dunkle Wolken – und immer öfter auch Regentage.

Herr Grünewoldt sagte mir, dass mein Vater am Nachmittag von seiner Geschäftsreise zurückgekommen sei und meine Mutter sehr krank vorgefunden habe. Er sei sofort mit ihr ins Krankenhaus gefahren und ich solle erst einmal bei Herrn Grünewoldt bleiben. Mein Vater würde mich dann abholen, wenn er wieder zu Hause wäre.

Nachdem Herr Grünewoldt mir ein viel zu großes Schlafanzugoberteil von sich gegeben hatte, das ich wie ein Kleid tragen konnte, und meine nassen Sachen in die Waschmaschine gesteckt hatte, setzte er mich mit einer Decke und einem heißen Kakao auf die Couch, wo ich vor Erschöpfung und Müdigkeit fast sofort einschlief.

Ich erwachte, weil ich leises Sprechen hörte. Ich rieb mir die Augen und konnte mich zuerst nicht erinnern, wo ich war und was passiert war. Von draußen fiel dämmeriges Licht durch das Fenster herein. Ein Gewitter lag in der Luft, man konnte es in der Ferne schon leise grollen hören. Die Luft schien zu stehen, es war stickig im Raum. Ich lauschte auf die leise Stimme im Flur. Herr Grünewoldt schien zu telefonieren.

„Ja. ... Ja, schrecklich ... Ich auch nicht, nie. Hätte ich nie vermutet. ... Ja, das Mädchen ist noch hier. Der Vater ist noch im Krankenhaus. … „Ich weiß … Hat sie wohl gerade noch rechtzeitig gefunden … Tabletten neben dem Bett … nicht mehr ansprechbar… Nein, sie hat nichts mitbekommen … am Fluss gespielt … vollkommen durchnässt … Schande, immer allein ...“ Das Gespräch zog sich noch eine Weile, dann legte Herr Grünewoldt auf. Ich hörte leise Schritte auf mich zukommen, kniff schnell die Augen zu und stellte mich schlafend. Die Schritte entfernten sich wieder.

In meinem Kopf raste es. Ich verstand nicht genau, was ich gehört hatte. Aber es klang ernst. Richtig ernst. So, als ob Mama sehr, sehr krank geworden war. Hatte sie die falschen Tabletten genommen? Neben ihrem Bett standen immer welche, die Mama nahm, um besser schlafen zu können. Sie konnte nämlich oft nachts nicht schlafen. Waren diese Tabletten vielleicht schlecht für sie? Ich hatte sie beim Spielen einmal heimlich aus der Schachtel genommen, obwohl ich eigentlich nicht in Mamas Zimmer gehen durfte. Aber ich war allein zu Hause gewesen und konnte der Versuchung nicht widerstehen, heimlich in das mir eigentlich verbotene Zimmer zu gehen. Die Tabletten hatten eigentlich harmlos ausgesehen, kleine, runde, weiße Pillen. Ich hatte damals schnell das Interesse verloren. Aber irgendwie mussten sie Mama geschadet haben, so hatte ich Herrn Grünewoldt jedenfalls verstanden.

Am Abend, nachdem ich unseren Nachbarn drei Mal bei Mensch ärgere Dich nicht und zehnmal bei Mau Mau geschlagen und seine gesamten Keksvorräte aufgegessen hatte, kam mein Vater, um mich abzuholen. Er sah unglaublich erschöpft aus und wirkte um Jahre gealtert. Ernst bedankte er sich bei Herrn Grünewoldt, der vergaß, ihm zu erzählen, in welchem Zustand ich bei ihm aufgetaucht war. Oder vielleicht wollte er meinen Vater auch einfach nicht noch mehr beunruhigen.

Mein Vater sagte, meine Mutter werde wieder gesund werden, müsse aber einige Zeit im Krankenhaus bleiben und werde dann noch in ein anderes Krankenhaus müssen. Aber es werde schon wieder alles werden. Dann nahm er mich an der Hand, ohne zu bemerken, dass ich immer noch das viel zu große Schlafanzugoberteil trug und den nach wie vor klitschnassen Bruno an mich drückte, und wir gingen hinüber zu unserem großen, dunklen Haus. Mein Vater schloss die Tür auf, machte Licht und wir gingen in die Küche. Das Haus wirkte entsetzlich leer und still. Ich bekam Angst und fing an, zu weinen.

Mein Vater sah mich ernst an, nahm meine Hand und sagte, ich müsse mir keine Sorgen machen, Mama sei sehr krank geworden, werde aber wieder gesund. Das werde aber eine Weile dauern. Mama müsse in ein Krankenhaus, das weit entfernt sei, weil es nur da die richtige Behandlung für sie gebe, und wir würden sie eine Zeit lang nicht besuchen können. Für die Zeit, bis Mama wieder zu Hause sei, werde Frau Hansen, unsere Putzfrau, bei uns wohnen und sich um mich kümmern. Mein Vater hatte schon vom Auto aus mit ihr telefoniert und alle Details besprochen. Sie würde am nächsten Morgen mit ihren Sachen zu uns ziehen und so lange bleiben, bis Mama wieder nach Hause könne. Vielleicht auch ein bisschen länger, damit Mama sich dann in Ruhe wieder zu Hause eingewöhnen könne. Nachdem mein Vater mir das erklärt hatte, beugte er sich vor, sah mich an und sagte: „Du musst jetzt ein großes Mädchen sein. Mama soll sich keine Sorgen um dich machen müssen, versprochen?“

Ich nickte ernst. Hauptsache, Mama kam bald wieder und alles wäre wieder gut.

Frau Hansen zog bei uns ein und kümmerte sich um den Haushalt. Mit mir konnte sie nicht sonderlich viel anfangen. Sie war nicht unfreundlich, aber sie hatte selbst keine Kinder und schien sich auch nicht besonders für sie zu interessieren. Sie kochte mir gut schmeckende, gesunde Mahlzeiten, wusch, bügelte und hängte meine Kleidung auf, aber damit erachtete sie ihre Pflicht mir gegenüber als getan. Es gab keine Gutenachtgeschichten oder gemütliche Spielenachmittage am Küchentisch wie früher mit Mama an Mamas Sonnentagen. Mein Vater war noch seltener als vorher zu Hause. Wenn ich ihn sah, war er meistens mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt. Also machte ich, so gut es ging, mit meinem Leben weiter, nun ohne Mama, und betete jeden Abend, dass sie bald wieder da sein würde.

In der Schule taten die anderen, als wäre alles wie immer. Zwar wussten alle, was passiert war, denn unser Ort war klein und Neuigkeiten sprachen sich meistens schnell herum. Es sprach mich aber niemand darauf an, und ich wollte auch gar nicht darüber reden. Das Getuschel und die Blicke hinter meinem Rücken versuchte ich, zu ignorieren.

Der gemeine Luis aus der Nachbarklasse, vor dem man sich besser in Acht nahm, weil er einem richtig fest in den Arm kniff oder an den Haaren zog, wenn er schlechte Laune hatte, was ziemlich oft vorkam, schrie mir einmal auf dem Nachhauseweg: „Deine Mama ist in der Klapse, die ist verrückt!“, hinterher und brachte mich damit zum Heulen.

Ich wusste nicht, was Klapse bedeutet, aber meine Mama war ganz sicher nicht verrückt. Luis war einfach nur fies.

Papa hatte gesagt, Mama sei krank und im Krankenhaus würde sie gesund gemacht. Daran hielt ich mich fest, das wurde mein Mantra. „Im Krankenhaus wird Mama gesund.“ Ich sagte es in meinem Kopf immer siebenmal ganz schnell hintereinander. Wenn ich es immer siebenmal sagte, beruhigte mich das und ich wusste, es würde alles gut werden. Sieben war eine gute Zahl. Im Gegensatz zu vier, vier machte alles unschön und unsicher. Vier mochte ich überhaupt nicht. Ich begann, auch andere Sachen zu zählen, zum Beispiel die Pflastersteine auf dem Weg zur Schule. Das dauerte ziemlich lange, und ein paar Mal kam ich deswegen auch zu spät. Aber es beschäftigte und beruhigte mich. Ich mochte es, wenn die Dinge geordnet und immer gleich waren. Veränderungen waren gefährlich. Dann konnte es zum Beispiel passieren, dass eine Mama nicht mehr da war.

Wahrscheinlich war es in dieser Zeit, als ich lernte, mich unsichtbar zu machen. Zwar war ich auch schon vorher ein eher stilles, ernsthaftes Kind gewesen. Ich hatte früh gelernt, gut zu beobachten und zu erkennen, was Anzeichen für gute Tage waren (offene Vorhänge, Geräusche im Haus, Essen auf dem Herd), und wann ich besonders lieb und still sein musste, weil Mama schlafen musste und keinen Lärm ertragen konnte (sicherstes Anzeichen: as Fehlen jeglicher Geräusche im Haus, als hielten selbst die Teetassen im Küchenschrank die Luft an, und es kam einem so vor, als tickte sogar die Uhr leiser). Aber an guten Tagen war ich auch fröhlich und ausgelassen wie alle Kinder.

In dieser Zeit aber gab es wenig Grund für mich, zu lachen. Das Haus war bis auf mich und Frau Hansen meistens leer. Mein Vater war häufig auf Dienstreise und verbrachte die wenige Zeit, die er zu Hause war, in der Regel in seinem Büro. An manchen Wochenenden besuchte er Mama im Krankenhaus, wohin er mich aber nie mitnahm, weil es Mama noch nicht gut genug ging für zwei Besucher.

Nach ein paar Wochen sagte mir mein Vater, dass meine Mutter nun in ein anderes, weiter entfernt gelegenes Krankenhaus gebracht werde, um sich zu erholen. Ich stellte mir vor, dass Mama nun wie eine Königin in einem Himmelbett schlafen würde, nur die besten Speisen bekäme und von vorne bis hinten bedient würde.

Über all das konnte ich mit niemandem sprechen. Enge Freunde hatte ich nicht, da ich nie jemanden mit nach Hause gebracht hatte. Das Risiko, dass Mama einen Regentag haben könnte, war unkalkulierbar für mich. Ohnehin war ich schüchtern und traute mich nicht, jemanden zu fragen, ob er mich besuchen wolle. Die anderen Kinder beachteten mich wenig. Für sie war ich die stille, langweilige Jella, die gute Noten hatte, schlecht in Sport war und ihre Nase in der Pause meistens in ein Buch steckte. Das war schon alles, was sie über mich wissen mussten. Uninteressant.

Lost Place - Jellas Geheimnis

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