Читать книгу Lost Place - Jellas Geheimnis - Simone Holthaus - Страница 8

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Anni

Gerade in dieser Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass sich über mein Leben eine dicke, dunkle, bedrohliche Gewitterwolke geschoben hatte, passierte dann aber etwas, das wieder Licht zu mir brachte. Richtiges, helles, strahlendes Sonnenlicht.

Wir hatten Mathe bei Herrn Dorn. Er schrieb Gleichungen an die Tafel, irgendwas Kompliziertes mit a, b und c, und ich beobachtete eine dicke Hummel, die auf dem Fensterbrett neben meinem Platz gelandet war. Die Hummel spazierte schon eine ganze Weile hin und her und startete immer wieder kurze Flugmanöver, um nach draußen zu gelangen, wo grüne Büsche und bunte Blumen auf sie warteten. Da das Fenster geschlossen war, kam die Hummel natürlich nicht hinaus, versuchte es aber immer wieder. Sie tat mir leid und ich fasste den Plan, sie in der Pause nach draußen zu bringen.

Plötzlich wurde die monotone Stimme meines Lehrers durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Unsere Schulleiterin Frau Henkel kam herein. Ihr folgte ein kleines, rundliches Mädchen in einem so bunten Kleid, das einem fast die Augen vom Hinschauen tränten. Darunter steckten ihre Beine in einer verwaschenen Jeans und an den Füßen trug sie Turnschuhe, aus denen zwei unterschiedliche Socken ragten. Sie hatte braune, halblange, wild gelockte Haare, die ihr in lustigen Kringeln über die Schulter fielen, und Sommersprossen auf der Nase. Ihre grünen Augen lachten freundlich. Ich mochte sie sofort.

„Kinder, ihr habt eine neue Mitschülerin“, sagte Frau Henkel mit ihrer tiefen Stimme. Frau Henkel sah aus wie ein Mann und benahm sich auch so, weswegen es immer wieder von haltlosem Gekicher begleitete Spekulationen von uns Kindern gab, dass Frau Henkel in Wirklichkeit auch ein Mann WAR und sich nur als Frau VERKLEIDETE. Was dazu führte, dass, sobald Frau Henkel den Mund aufmachte, um etwas mit sonorer Stimme kundzutun, garantiert mindestens einer von uns anfing loszugackern.

Auch jetzt braute sich das übliche Gekicher über uns zusammen, die Ersten machten schon glucksende Geräusche. Karl, der in der letzten Reihe saß, gab Brummgeräusche von sich, die Frau Henkels Bass nachahmen sollten. Wie immer ließ sie sich dadurch in keiner Weise beeindrucken.

„Ihr bekommt eine neue Mitschülerin. Das ist Anni.“ Sie deutete auf das Mädchen neben sich. „Sie ist gerade mit ihrer Familie hierhergezogen. Ihre Mutter ist die neue Pastorin der evangelischen Kirche in Oststeinwerder, in der jetzt endlich wieder Gottesdienste stattfinden können. Ihr wisst ja, wie lange die Stelle unbesetzt war.“ Hier schaute sie missbilligend. Jeder wusste, dass Frau Henkel sich sehr im Kirchenrat engagierte und schon oft und laut ihre Meinung kundgetan hatte, dass es ein Unding sei, die Stelle der Pfarrei im Nachbarort so lange unbesetzt zu lassen. Dann blickte die Schulleiterin prüfend in die Runde und blieb an dem leeren Platz neben mir hängen. Neele, die sonst neben mir saß, war gerade krank und ihr Platz somit leer.

„Du kannst dich dorthin setzen, neben Jella. Sie wird dir alles zeigen und sich um dich kümmern, bis du dich bei uns zurechtgefunden hast, Anni.“ Aufmunternd nickte sie Anni zu, drehte sich um und verließ dann in gewohntem Stechschritt das Klassenzimmer.

Der Aufmunterung hätte es allerdings gar nicht bedurft, denn Anni fühlte sich sofort heimisch bei uns in der Klasse. Sie erzählte, dass sie schon mehrere Male umgezogen sei, weil das bei Pastoren so üblich sei. Dadurch würde sie immer wieder neue Freunde finden. Ihr Papa arbeite zu Hause, das sei super, denn so sei immer jemand da, der sich um Anni und ihre drei (!) Brüder kümmern konnte, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war. Ich war beeindruckt. Vier Kinder! Das war bestimmt immer richtig trubelig und fröhlich bei denen. Ganz anderes als in meinem stillen Zuhause!

Annis fröhliche, unbefangene Art faszinierte mich sofort. Und das Wunder geschah: Wir freundeten uns an! Anders als die anderen Kinder fand sie mich nicht langweilig und störte sich nicht an meiner stillen Art. Sie stellte mir einfach ununterbrochen Fragen und so redete ich automatisch. Es war faszinierend. Noch nie hatte jemand so viel über mich wissen wollen. Anni interessierte sich einfach für alles – was ich gerne aß, was meine Lieblingsfarbe war, ob ich Geschwister hatte und ob ich Mathe nicht auch so blöd und überflüssig fand.

Ich freute mich, mit ihr zu reden, nur über meine Familie und mein Zuhause mochte ich nicht viel erzählen. Dafür liebte ich es umso mehr, bei Anni zu Hause zu sein. Sie und ihre Familie bewohnten das Pfarrhaus im Nachbarort – eine große, alte, etwas heruntergekommene Villa mit einem herrlichen Garten, in dem man toben, Fußball spielen und auf den alten Apfelbaum klettern konnte. Wenn man zur Tür hereinkam, stolperte man meist direkt über eine Ansammlung aus verschiedensten Schuhen, Schulranzen und Jacken, die immer direkt dort liegengelassen wurden, wo man sie auszog.

Das hätte es bei uns niemals gegeben. Frau Hansen putzte und ordnete den Eingangsbereich immer ordentlich. Und auch ich war es so gewohnt, meine Jacke immer gleich an der Garderobe aufzuhängen und die Schuhe ins Schuhregal zu stellen.

Annis Brüder sahen sich alle sehr ähnlich und waren im Abstand von immer nur einem Jahr geboren worden. Anni war das Nesthäkchen und fünf Jahre jünger, was sie auch oft zu spüren bekam. Aber sie wusste sich zu wehren, und ich liebte es, ihr dabei zu helfen. Einmal rupften wir den ganzen Nachmittag Gras aus einer Ecke des Gartens aus und verteilten es heimlich großzügig im Bett von Erik, Annis zweitältestem Bruder, nachdem er uns als dumme kleine Babys verhöhnt und ausgelacht hatte, weil wir es nicht geschafft hatten, ganz oben auf den höchsten Ast im Apfelbaum zu klettern.

Annis Vater war meistens zu Hause. Er arbeitete als freier Journalist, trug immer die gleiche ausgebeulte Jeans und Vollbart. Er kochte und kümmerte sich auch überwiegend um den Haushalt. Annis Mutter wurde schnell eine wichtige Persönlichkeit im Nachbarort. Als Pastorin hatte ihre Meinung Gewicht und durch ihre freundliche, klare und direkte Art machte sie bei den meisten Menschen Eindruck.

In Annis Haus herrschte meistens Lachen und wuselige Lebendigkeit. Annis Eltern waren immer freundlich zu mir und behandelten mich ganz selbstverständlich, als gehörte ich zur Familie. Dank Anni und ihrer Familie wurde dieser Sommer, in dem Mama weg war, doch noch schön, sogar schöner als alle Sommer zuvor. Zum ersten Mal hatte ich eine richtige, beste, sogar ALLERBESTE Freundin und erlebte, was es heißen konnte, als Familie zusammen zu sein. Bei Annis Familie fühlte ich mich sicher und unbeschwert. Bald kannte ich Annis geheimsten Geheimnisse und sie meine.

Als Einzige – außer mir und meinem Vater – wusste sie nun von Mamas Regentagen. Als ich ihr zögerlich berichtete, wie es oft bei uns zu Hause war, drückte sie meine Hand und sagte unbeeindruckt: „Das war vielleicht früher so, aber wenn deine Mama nach Hause kommt, dann bringen wir sie zum Lachen und sie wird immer fröhlich sein. Wir kümmern uns ganz toll um sie.“ Für Anni war es sonnenklar, warum meine Mama nun schon so endlos lange weg war. „Sie muss ja sehr krank gewesen sein, wenn sie immer so viel schlafen musste, das muss ich nämlich auch immer, wenn ich Halsschmerzen habe. Doch dann bin ich wieder gesund. Und weil sie so lange krank war, braucht deine Mama jetzt auch ganz lange, um wieder gesund zu werden.“ Anni hatte für alles eine Erklärung. Ganz anders als ich stellte sie die Dinge nie in Frage, sondern machte einfach das Beste aus allem.

An einem Samstagnachmittag am Ende der Sommerferien saß ich mit Anni und meinem Vater auf unserer Terrasse im Schatten der hohen Tanne, die mein Urgroßvater vor Ewigkeiten dort gepflanzt hatte. Wir tranken eiskalte Zitronenlimonade und aßen leckeren Apfelkuchen, den Frau Hansen morgens noch gebacken hatte, bevor sie bis Sonntagabend nach Hause gegangen war wie jedes Wochenende. Mein Vater hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und den Kuchen noch nicht angerührt.

Anni und ich kicherten über Herrn Grünewoldt, der im Nachbargarten vergeblich versuchte, große, blütenweiße Bettlaken unfallfrei auf der für ihn etwas zu hoch angebrachten Wäscheleine aufzuhängen. Dreimal war das Laken schon auf den frisch gemähten Rasen gesegelt – und dreimal hatte unser Nachbar es, begleitet von leisem Fluchen, wieder aufgehoben, um es erneut zu probieren. Früher hatte die Wäscheleine einmal die richtige Höhe gehabt, doch seit das Gehen für ihn in den letzten Jahren immer schlechter wurde, tat sich Herr Grünewoldt schwer mit dem Aufhängen so unförmiger Wäscheteile.

Mein Vater schien die Nöte unseres Nachbarn im Gegensatz zu uns gar nicht zu bemerken. Gedankenverloren rührte er in seiner Kaffeetasse. „Am Montag kommt Mama nach Hause“, sagte er unvermittelt.

Ein freudiger Schock durchfuhr mich, und ich sprang von meinem Stuhl auf. „Wirklich? Mama kommt?“, fragte ich ungläubig.

Anni klatschte begeistert in die Hände und ließ ein lautes Indianergeheul los. Ich konnte es kaum fassen. Mama würde endlich zurückkommen! Was ich mir den ganzen Sommer so gewünscht hatte, würde nun endlich passieren.

Papa legte den Löffel beiseite und trank vorsichtig einen Schluck. Dann verzog er das Gesicht, denn der Kaffee war mittlerweile nur noch lauwarm.

„Mama wird vielleicht ein bisschen anders sein“, fuhr er fort. „In der Klinik hat Mama ein Medikament bekommen, damit sie sich besser fühlt. Das Medikament hilft ihr, aber es hat auch Nebenwirkungen. Mama ist oft müde davon. Wir müssen also besonders lieb zu ihr sein, wenn sie wiederkommt.“ Er schaute mich prüfend an.

Ich strahlte. Natürlich würde ich von nun an IMMER lieb sein, was für eine Frage! Sogar NOCH LIEBER als vorher! Ich würde das ALLERLIEBSTE Kind überhaupt sein, und Mama würde nie mehr weggehen. Und traurig bräuchte sie auch nicht mehr zu sein mit dem neuen Medikament und dem allerliebsten Kind der Welt.

Das ganze restliche Wochenende wirbelte ich mit Anni durchs Haus, um alles besonders schön für Mama zu machen. Wir dekorierten die Fensterbänke, falteten Decken, stopften Kissen auf die Couch und zogen besonders schöne Bettwäsche auf Mamas Bett. Abends lag ich im Bett und konnte vor Aufregung nicht schlafen, weil nun bald alles so schön werden würde.

Lost Place - Jellas Geheimnis

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