Читать книгу Fall eines Engels - Simone Lilly - Страница 2
ОглавлениеRaphal
Ohne noch zu wissen, wovon er soeben geträumt hatte, drehte er sich auf den Rücken. Wie immer gelang es ihm nur schwer dort Halt zu finden, seine langen Flügel, welche ihm aus dem Rücken stachen, machten es ihm schwer, sich überhaupt ordentlich drehen zu können. Zum Glück waren die Knochen elastisch, sodass er sich wunderbar verbiegen konnte und schon bald an die geräumige und durchsichtige Decke blickte.
Adriel war ihm ein guter Freund gewesen. Oft dachte er noch daran, wie ihm der alte Mann vorgelesen hatte oder ihm Geschichten erzählt hatte. Die allseits bekannte Sage über ihr Volk mochte er am liebsten.
"Doch noch immer hofft man, mit der lang herbeigesehnten Geburt eines neuen ungleichen Geschwisterpaares, die Prophezeiung würde sich mit ihnen erfüllen und der Kampf von damals endlich fortgeführt und gewonnen werden."
Nur der eine Satz, mehr war es nicht. Es waren wenige Worte, jeder kannte sie, vielmehr ein Gedicht, welches die Kinder schon zu Beginn ihrer Ausbildung lernen mussten. Für Raphal aber waren es mehr als nur Worte.
Langsam rollte er sich nach oben, blieb dort erstmal wie versteinert sitzen und rieb sich die, vom Schlaf tränenden Augen.
Seit der Geburt seines Bruders erschien ihm dieser Satz wohl eher als eine Art Bestimmung, Schicksal.
„Raphal! Kommst du? Es ist spät!“
Ruckartig lies er sich mit einem kräftigen Schlag seiner Flügel auf die Beine stellen, bückte sich murrend und sammelte einen Stoß hinunter gewehter Blätter vom Boden auf und legte sie wieder sorgsam auf den Schreibtisch. Er war noch jung und konnte die Kraft seiner Federn noch nicht einschätzen, oft genug war ihm der Wind, den sie verursachten in die Quere gekommen.
„Ja, ich komme gleich!“, brüllte er zu seiner Mutter hinunter, straffte seine Schultern und schritt vor den Spiegel, wie jeden Morgen.
„Was denkst du unterscheidet uns von den Menschen dort unten?“
„Ich … weiß es nicht Adriel. Sag‘ es mir.“
Kühl war Adriel zu ihm gekommen, hatte ihn mit seinen alten Händen umarmt, ihn gedrückt und lange nicht mehr losgelassen. „Nichts mein Junge, wir sind gleich. Lediglich die Flügel unterscheiden uns von ihnen.“
„Aber es muss doch mehr geben?“
„Mein Lieber ich wüsste beim besten Willen nicht was. Selbst unsere Sprache ist dieselbe. Wir haben Häuser, Schulen, alles.“, dann war er stehengeblieben, hatte sich die kurzen grauen Haare aus dem faltigen Gesicht gestrichen und freundlich nach einem Glas Wasser verlangt. „Doch halt, eine Sache wäre es. Unten, auf der Erde, würde man mich nicht „Adriel“ nennen.“, er hatte gelacht und getrunken. Raphal ärgerte sich selbst Jahre nach diesem Gespräch über sein Unwissen. Wie dumm war er gewesen?
„Wie nennt man dich sonst, Adriel?“
„Großvater, mein Junge.“
„Großvater“ war ein schauriges Wort, hart und … seltsam lag es ihm auf der Zunge. Insgeheim hatte er nichts gegen die Menschen, zwar hatte er noch nie welche gesehen, doch taten sie ihnen nichts, sie ließen sie in Frieden. Mehr wollte er nicht. Sollten sie doch ruhig existieren, aber ohne ihrem Volk in den Weg zu geraten.
Skeptisch hob er die Arme, nur so konnte er einen freien Blick auf seine schneeweißen Flügel haben. Weich fielen sie von seiner Schulter nach unten, waren bis zu seinem Becken eng an seinen Körper gelegt und flatterten erst von dort aus frei um seine Beine. Der Spiegel vibrierte leicht, als sein Bruder direkt neben seinem Zimmer die Treppen hinunterstob. Raphal atmete durch, wartete geduldig, bis sich das wacklige Gestell beruhigt hatte und er wieder ungehindert hineinblicken konnte.
Mit seinen ein Meter neunzig reichte der Spiegel ihm gerade bis zum Kopf, knapp oberhalb seiner Stirn erstreckte sich schon der bronzefarbene Rahmen, welcher zusätzlich mit Schnitzereien verziert worden war. Seine goldblonden Haare bekam er gar nicht erst zu Gesicht. Doch das brauchte er auch nicht. Er sah sein dünnes und rundes Kinn, seine strahlend blauen Augen, seine spitze Nase und seine vollen Lippen. Er sah seinen robusten Körper und sein starkes Becken. Wie jeden Tag. Nichts Neues.
„Raphal!“, diesmal klang es nach seinem Vater. Eilig sprang er nach oben, mied es jede Stufe einzeln zu nehmen und flog gleich durch das Treppenhaus hinunter in die Küche. Wütend stellte seine Mutter eine Schale mit Milch auf den Tisch, an dem schon sein Vater Linal und sein jüngerer Bruder Adral saßen. Adral war das genaue Gegenteil von ihm, seine Flügel waren rabenschwarz, seine Haare ebenfalls. Das Gesicht und den Körper konnte man sowieso nicht beurteilen, denn jeder wusste, dass sie alle gleich aussahen.
„Entschuldige“, sagte er schnell zu seiner Mutter, setzte sich und verschränkte die Arme, anstatt etwas zu essen. Niemand sagte etwas, sein Vater trank Milch und las eine Zeitung, sein Bruder hatte damit begonnen, wie ein kleines Kind auf den Tisch zu kritzeln. Dass die Gabel dabei tiefe Fahrer in das saubere Holz zog, war ihm egal.
„Was tust du da?“, fragte Raphal amüsiert und freudig darüber, dass diesmal nicht er selbst im Begriff war Ärger zu bekommen.
„Mir ist langweilig, wie jeden Tag.“
Noch ehe Raphal etwas erwidern konnte, fuhr ihnen ihr Vater dazwischen. „Adral fängt das schon wieder an? Wir hatten die Diskussion erst gestern!“ Seine erhobene Stimme brachte ihm nichts. Adral zuckte nicht einmal zusammen, ruhig legte er das Besteck wieder zurück, wedelte aufgebracht mit den Flügeln und lehnte sich dann aber gemütlich in seinem Stuhl zurück. Ihr Vater erhob sich. „Ich werde jetzt gehen. Es wird Zeit, dass eure zweite Ausbildung beginnt. Ihr werdet gelangweilt.“
„Ach wirklich.“
Kurz bevor er die Tür öffnete, strafte er Adral mit einem kurzen Blick, ließ es dann aber sein ihn zurechtzuweisen und stolperte aus dem Haus.
Solange er ihn kannte, war Adral immer aufmüpfig gewesen. Er hatte niemals auf Anhieb das getan, was man ihm befohlen hatte. Vielleicht lag es an seinen Flügeln, das zumindest hatte Raphal geglaubt, doch auch ihre Eltern wurden als „Teufel“ bezeichnet, hingegen zu Adal waren sie aber friedlich und gefügig.
„Ich gehe auch gleich“, sagte ihre Mutter, fuhr sich durch die schwarzen Locken und räumte das von seinem Vater stehengelassene Geschirr in die Spüle. „Räumt bitte auf und kommt nicht zu spät nachhause.“
Sie nickten. Was erwartete ihre Mutter, etwa dass ihnen etwas zustoßen konnte? Immerhin war er schon zwanzig und Adral sechzehn Jahre alt, alt genug um schon für sich allein sprechen zu können.
„Passt auf euch auf“, sagte sie noch einmal, beugte sich zu einem jeden ihrer Söhne und gab ihnen einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich werde bald wieder hier sein.“
Sie nickten wieder, dann war auch ihre Mutter aus der Tür gegangen.