Читать книгу Fall eines Engels - Simone Lilly - Страница 4
ОглавлениеMerlina
Eine unruhige Nacht lag hinter ihm, schon seit den frühen Morgenstunden lag Raphal im Bett. Es war weich und schmiegte sich herrlich leicht an seinen Rücken. Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen, lediglich ein matter Schimmer stahl sich durch die Fenster zu ihm hinein. Durch ihn war es Raphal möglich, leichte Umrisse seines Zimmers zu erkennen. Den Tisch auf welchem er des öfteren - nur wenn er Lust hatte- Hausaufgaben erledigt hatte, das Bücherregal, welches sich schräg über seinem Spiegel befand und von ihm beinahe unberührt war, den flauschigen Teppich auf dem Boden sowie den wackligen Stuhl auf welchem er fast nie saß. Meistens lag er auf dem Bett, oder schwebte sinnlos in der Luft umher. Der Streit vom Vortag steckte ihm wie immer in den Knochen. Getroffen setzte er sich auf und rieb sich über das verschlafene Gesicht.
Eigentlich war er der Ältere, ihm sollte es egal sein, wie Adral mit ihm sprach, aber er dachte, nein hoffte immernoch sie würden sich gut verstehen und wären eine Einheit. Manchmal ja da gab es Zeiten, in denen er wahrlich daran glaubte. Bei gemeinsamen Festen konnten sie sich stundenlang unterhalten. Wenn es ihnen sonst zu langweilig wurde, waren sie immer füreinander da, doch Raphal hatte schon längst den Verdacht, Adral würde ihn für seine weißen Flügel verantwortlich machen und ihn dafür hassen. Doch was konnte er denn dafür? Er hatte doch nichts getan, jedenfalls nichts weiteres als ihn mehrmals verleugnet.
Langsam erhob er sich, sah sich erstmal unsicher um, entschied sich dann aber dazu, sich zu bürsten. Leicht durchfuhren die Borsten seine Strähnen und legten sie wieder ordentlich um seinen Kopf. Nach getaner Arbeit öffnete er die Zimmertür und spähte nach draußen in den Flur. Direkt seinem Zimmer gegenüber befand sich Adrals Raum. Es war ruhig, seine Tür war verschlossen, Raphal konnte nur auf eine weiße Mauer blicken. Ging man die Treppen hinunter, so wäre man im Wohnzimmer und im Schlafzimmer seiner Eltern, nichts war zu hören. Alle schliefen noch. Es musste verdammt früh sein. Froh darüber ging er wieder zurück, schloss die Tür und wandte sich zum Fenster. Er wollte fort von hier, wenigstens für den Moment. Einmal wo hinfliegen, ohne dass Adral bei ihm war. Neben ihm kam er sich langsam wie ein kleines Vögelchen vor, das ihm, wann immer das Herrchen das Haus verließ, treu hinterherflog.
Leichtfüßig glitt er aus dem Fenster in den Himmel. Vereinzelt standen noch schwache Sterne am Himmel, beruhigend funkelten sie auf ihn hinab. Jetzt da er nicht mehr im dunklen Raum war, wurde ihm erst richtig bewusst, wie hell es bereits geworden war, hier über den Wolken konnte er seine Hand deutlich vor Augen sehen. Wohin er genau wollte konnte Raphal noch nicht sagen, für den Moment aber genoss er die nächtliche Stille um ihn herum, einfach das Alleinsein, das er sich schon so lange wünschte. Ohne es überhaupt zu wissen. Immer war sein Bruder bei ihm, nein, immer war der Zwang bei Raphal seinem Bruder Gesellschaft leisten zu müssen.
Übermütig stach er nach oben, nach unten, fing sich kurz vor dem Boden jubelnd wieder auf und zischte wenige Meter in gefährlicher Tiefe geradeaus. Sein muskulöser Körper wand sich nur so um die schattenhaften Häuserecken, er verrenkte sich geradezu, damit er sich zwischen ihnen hindurchschlängeln konnte.
"So will ich immer fliegen." Am liebsten hätte er seine Gedanken lauthals in die Welt hinausgebrüllt, aus Angst aber jemanden zu wecken und sein neu gefundenes Glück damit zu zerstören, hielt er lieber den Mund.
Das Licht wurde heller. Er verfluchte die Zeit, was nahm sie ihnen doch alles. Ihr Leben, glückliche Augenblicke, geliebte Menschen, einfach alles. Schmollend zügelte er seinen Flug, streckte beide Flügel so weit es ging von sich und glitt durch die Luft, nein auf ihr, wurde vom Wind nur so getragen, hatte nur ab und an einen kräftigen Schlag zu tun, um nicht vollständig den Halt zu verlieren. Wohin wollte er? Zuerst fiel ihm nichts ein, doch dann kam es ihm plötzlich in den Sinn. Was war der schönste und friedlichste Ort, den es bei ihnen gab? Das Tor. Des Morgens strahlten die matten Sonnenstrahlen vermutlich nur so durch es hindurch, beleuchteten die Wolken rings umher und sorgten für eine heilige Atmosphäre. Er konnte es kaum erwarten dort anzukommen. Der Weg war nicht mehr weit, um den Rest zu Fuß zu gehen, setzte er sich selbst auf den Boden ab und ging voran. Doch eine unbekannte Kraft zwang ihn dazu, stehen zu bleiben. Gesang? Überrascht spitzte er die Ohren und ging, schlich näher. Es war tatsächlich Musik, eine herrlich leichte Melodie. Die Stimme war hoch, hoch und klar. Klar und unschuldig.
Genießend schloss er die Augen und ging näher. Diesmal nicht darum bedacht unerkannt zu bleiben. Was konnte es ihm schaden entdeckt zu werden.
Ein Mädchen ging fröhlich auf und ab. Es hatte lange blonde Haare, die ihr in luftigen Strähnen um die Schulter wehten. Wie alle Engel es taten, trug auch sie eine knappe Hose, sie reichte ihr lediglich bis zu der Mitte ihrer Oberschenkel, um die Brust hatte sie ein weißes Band gewickelt. Raphal war es nicht möglich ihr Gesicht zu sehen. Nur ihre Stimme, die konnte er hören. Langsam ging er näher, was tat sie um diese Uhrzeit hier draußen? Immer und immer wieder huschte sie von einem Ende zum anderen, beugte sich hinunter und blickte auf die Erde. Was suchte sie?
„Was suchst du?“, fragte er ganz unverblümt und verschränkte die Arme, dass er ihr sehr nahe gekommen war, hielt er nicht für schlimm. Ihr Lied verstummte, das Mädchen erschrak und wollte in die Luft fahren, doch er hielt sie mit einer raschen Handbewegung fest. Die Berührung löste etwas in ihm. Ein befremdendes Gefühl, überall in ihm begann es zu brodeln, er begann sich ungewohnt leicht und unbeschwert zu fühlen.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen anstatt zu antworten und machte sich vorsichtig los.
„Raphal, und du?“
Ihre Haut war von kleinen Punkten gesprenkelt, sie waren auf ihrer Nase und ihren Wangen. Ihre Augen strahlten mit der aufgehenden Sonne um die Wette, in einem solch tiefen Blau, dass Raphal beim besten Willen zwischen ihnen und dem Himmel keinen Unterschied erkennen konnte. „Es … tut mir leid, dass ich mich nicht zuerst vorgestellt habe, ich bin Raphal“, entschuldigte er sich dürftig, merkte aber sehrwohl, dass er im Begriff war, sich in den Tiefen ihrer Augen zu verlieren. Nicht einmal der Schlag ihrer Lider konnte seinen Blick aus ihnen verbannen. Sie schien es wohl zu bemerken. „Ich bin Merlina“, gab sie zurück und musterte ihn von oben bis unten. Raphal lies nicht locker, das obwohl er nun eine weitaus bessere Beschäftigung gefunden hatte, als ihr dämliche Fragen zu stellen.
„Was suchst du?“
Merlina lachte und entblöste eine Reihe schneeweißer, gerader Zähne. „Ich war noch nie hier draußen und wollte sehen, ob man von hier auf die Menschen blicken kann.“ Absurd!
„Das ist möglich“, sagte er stattdessen, nahm ihre Hand und führte sie zur Mauer, dort umschlang er frech ihre Hüften und flog mit ihr den kurzen Weg hinauf. Beide sahen hinunter. Doch es war zu dunkel und zu bewölkt, um auch nur das Geringste sehen zu können. „D … u warst noch nie hier?“ Merlina schüttelte den Kopf, als beide sich auf die harte Mauer setzten, die Füße ließen sie hinunter baumeln. „Meine Mutter erlaubt es mir nicht.“
Noch immer sah er verzaubert zu ihr. „Aus welchem Grund verbietet sie es?“
„Meine Schwester musste hierhergehen, sie war krank und sie musste gehen.“, mitten im Satz brach sie ab, ihre Stimme versagte, ihre wunderschöne Stimme. „… ich hatte gehofft sie hier sehen zu können, zu sehen was aus ihr geworden ist.“ „Wann war es?“
„Vor zehn Jahren.“
Keiner sagte mehr etwas. Die Sonne stach ihnen ungebrochen ins Gesicht. Raphal musste geblendet blinzeln, Merlina warf ihre Haare ins Gesicht und schien gänzlich hinter ihnen zu verschwinden, als wäre sie hinter einem dicken Vorhang. Fast schon bereute er es, denn so konnte er ihr engelsgleiches Gesicht nicht mehr sehen. „Du hast dich heute aus dem Haus geschlichen?“
Sie nickte, doch er konnte ihre erröteten Wangen beinahe fühlen.
„Das braucht dir nicht peinlich zu sein, auch ich habe mich aus meinem Zimmer geschlichen.“
„Wieso hast du es getan?“
„Ach, es ist nichts Schlimmes passiert, ich wollte aber einfach nur allein sein.“
Ein Ruck durchzuckte ihren Körper. „Entschuldige, nun bin ich hier.“
Ohne Aufforderung aber auch ohne von ihr abgewiesen zu werden, griff er nach ihrer Hand und umschloss sie mit seinen starken Fingern. „Das braucht es nicht. Ich könnte mir keine bessere Gesellschaft vorstellen.“ Sie schmunzelte angetan. Miteinander vertraut als wären sie alte Freunde saßen sie auf dem harten Stein, sahen sich einige Male verstohlen an, blinzelten, senkten den Blick und hoben ihn gen Himmel, auf das gewaltige Tor vor ihnen. Noch immer hielt er ihre Hand, wollte sie nicht loslassen. Genoss es zu fühlen, wie sich ihre zarten Finger ab und an bewegten, sich lockerten und dann wieder verkrampften, sich an seine Haut schmiegten. Sie war herrlich warm. Das Leben in der Stadt erwachte, das konnten beide hören. Auch waren schon die ersten kräftigen Flügelschläge zu vernehmen. Sicherlich hatten seine Eltern sein Verschwinden bemerkt.
Als beide so vor sich hin starrten, begann ein seltsames Gefühl in Raphal zu reifen. Warum eigentlich waren sie alle gleich? Glichen dem anderen wie dessen Zwilling? Natürlich gab es größere, dickere, mit langen Haaren, mit kurzen, mit glatten Haaren oder Locken. Genau konnte er es nicht sagen, doch irgendetwas war an Merlina was ihn faszinierte. Womöglich war es der bloße Umstand dass sie die Einzige war in seinem jungen Leben, mit der er je gesprochen hatte und die ihm allein ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Abheben, genau das musste er. Nicht vom Boden, sondern aus der Menge an gleichaussehenden Engeln. Verlegen griff er sich an die Schulter und drehte sich zu ihr hinüber.
Wortlos wurde ihr Gesicht von der Sonne beschienen, ihre Gesichtszüge wurden immer milder und weicher je länger sie die vorrüberziehenden Wolken beobachtete.
Ihr größter Wunsch war es gewesen, einmal auf die Erde gehen zu können, zu sehen wie die Menschen dort lebten. Sich abheben? Ja das konnte er indem ihm die entscheidende Idee in den Sinn kam: er würde es ihr ermöglichen.
„Du?“, sagte er vorsichtig.
Sofort hafteten ihre durchbohrenden Augen auf ihm. „Ja?“
„Möchtest du auf die Erde? Jetzt?“
„Jetzt?“, ihre Frage klang nicht umsonst erschrocken. Fast keiner traute sich auf die Erde, höchstens die Wächter. Ansonsten wusste ein jeder, dass man nur wenig Zeit hatte, bis das Tor sich wieder schloss. Nicht umsonst war es Brauch, dass selbst die Wächter immer zu zweit loszogen. Während der eine unten an Land seine Arbeit verrichtete, wartete der andere oben. Verpasste der unten gebliebene den Moment rechtzeitig wieder aufzusteigen, so konnte der Obere das Tor mit Leichtigkeit wieder öffnen und ihn hereinlassen. Raphal hatte wenig Angst. Wären sie nur kurz unten und würden nicht viel Zeit verstreichen lassen, würde ihnen nichts geschehen.
Um seinen Verstand besorgt neigte sie den Kopf. „Meinst du das ernst?“
Er nickte rasch, stand auf und nahm sie bei der Hand, bevor sie ihn noch länger für verrückt erklärte. „Natürlich nur kurz, nicht lange. Doch du wolltest schon immer dorthin oder.“
„Ja schon.“
Lächelnd folgte sie ihm. Sein Griff um ihre Hand tat ihm gut. Gespannt stellten sie sich vor das Tor und schritten durch es hindurch. Ein Beben überkam seinen Körper. Die Luft wurde dünner, sie begannen zu fallen. Ein lauter Schrei kam ihr über die Lippen.
Sie setzten erst nach Langem sanft auf den Boden auf, als sie sich daran gewöhnt hatten zu fallen und ihre Flügel weit von sich breiteten. Eigentlich war ihm die Umgebung egal. Es war ihm nur darum gegangen vor Merlina mit seinem Mut zu prahlen. Obwohl alles schnell gegangen war, schneller wie einschlafen.
„Das ist die Erde?“, obwohl Merlinas Blick gebannt auf die seltsamen Körner gerichtet war, auf denen sie standen, sie waren warm und von der Sonne aufgeheizt, wirkte sie enttäuscht.
Raphal konnte sich nicht von ihr abwenden. In Trance ließ er sogar den ersten Moment verstreichen um zu realisieren dass er auf der Erde war, er würde nicht mehr wieder kommen.
„Du bist wunderschön.“, brach es aus ihm heraus.
Betreten sie sie zu Boden, immer noch auf die seltsamen Körner. „Danke.“
Dumm von ihm! Er wusste doch am Besten dass dieses Kompliment alles andere als gut war. Immerhin waren sie alle gleich. Würde sie also wunderschön für ihn sein, war es auch jede andere. „Du weißt was ich meinte.“, fügte er schnell hinzu, da er an ihrem Blick merkte, dass sie genau das dachte.
Kleinlaut versuchte sie zu lächeln. „Ja, ich hoffe es jedenfalls es zu wissen.“
Ungeachtet der Gefahr die vom Boden ausgehen konnte, ließ sie sich auf ihn fallen, hob die Hände und lies ihn stückchenweise durch ihre Finger rieseln. „Sie fühlen sich wundervoll an, möchtest du auch mal?“
„Nein.“ Dafür hatte er viel zu viel Angst.
Allein dass seine Füße alles berührten machte ihn wahnsinnig. Am liebsten wäre er nicht einmal durch die Luft der Erde geschwebt. Um anzugeben tat er es. Um Mut zu beweisen, den sonst keiner besaß. Sah er sich um, verstand er auch warum. Abschätzend glitt sein Blick auf und ab. Alles hier war kahl und trostlos, dachte er an seinen Großvater, wer hier leben musste, tat ihm leid. Jeder Engel und sogar Teufel der gefallen war und sein Leben hier fristen musste, tat ihm leid.
Sein Unbehagen kümmerte Merlina wenig. Glücklich breitete sie ihre Arme und Flügel von sich. Das sonst so schöne und reine Weiß ihrer Federn war nun vollkommen verdreckt. Raphal schluckte. Kräftig schütteln würde nun nicht mehr reichen, um ihren geheimen Ausflug vor anderen zu verbergen.
„Nun komm schon!“, sagte sie, packte ihn und zog ihn zu sich hinunter. Ungewohnt nahe waren sie sich nun. Raphal überlegte. Sollte er sie jetzt Küssen? Sein Herz begann schneller zu schlagen. Ihre Augen huschten an seinem Gesicht hinauf und hinab. Als besäße er keine Macht über ihn, begann sein Kopf sich zu ihr zu neigen. Immer weiter und weiter, bis er ihren warmen Atem spürte. Auch sie schloss die Augen, ihr Atem wurde langsamer.
Jetzt war der perfekte Moment. Doch etwas störte ihn. Schlagartig bremste er ab, räusperte sich peinlich berührt und blickte wieder geradeaus von sich. Wälzte sich von ihr fort und nahm Haltung an.
Irritiert und traurig zu gleich dauerte es einige Sekunden, bis sie klare Worte an ihn richten konnte. „Was ist los? Stimmt etwas nicht ...?“
„Ich finde nur.“, unterbrach er sie schnell, um sie nicht falsch von ihm denken zu lassen. „ ... das unser erster Kuss nicht in dieser Welt sein sollte.“
„Aber es ist dann etwas Außergewöhnliches!“
Abwertend zuckte er mit den Achseln. „Ja das schon. Besser wäre es aber, wir würden so etwas in unserer Welt lassen. Verstehst du?“
Sie nickte. „Muss ich wohl, obwohl es mir nichts ausgemacht hätte.“
„Das weiß ich.“
Lange sahen sie sich an. Bevor sie es aber nocheinmal versuchten, begannen sie lieber, von unten auf ihre Heimat hinaufzusehen.
„Es ist ungewohnt.“, stieß sie hervor und nickte gen Wolken. „Man sieht sie wirklich nicht. Still sieht es aus, leicht, als ob es uns gar nicht gäbe.“
„Stimmt.“, pflichtete er ihr bei.
Minuten verstrichen. Langsam wurde es warm, zu warm. Die Kälte waren sie gewohnt, nicht aber die erbarmungslose Sonne. Merlinas Haut war ganz und gar rot gefärbt.
„Sollten wir nicht langsam wieder zurück?“
„Warte noch.“, befahl sie ihm und schloss die Augen. Tief atmete sie ein, füllte ihre Lungen mit Luft, wartete mit dem Ausatmen bis sie meinte die Luft verinnerlicht zu haben und stieß sie dann wieder aus. „Gut, jetzt können wir gehen.“
Ein Blitz durchfuhr ihn. Raphals Blut gefror augenblicklich, er wirbelte herum und funkelte sie aus erschrockenen Augen an. „Wie lange waren wir hier?“
„Ich weiß es nicht, ist das von Bedeutung?“
Selbst Merlina begann in Panik zu geraten. „Haben wir es verpasst?“, kreidebleich fuhr sie herum. Trotz der Wärme um sie herum, schien nun eisige Kälte in ihre Glieder zurückgekehrt zu sein. Raphals Mut schwand sofort. Schwindelnd beugte er sich vornüber um seine Angst schier auszuspeien.
„Komm schon!“, rasend schnell packte er sie am Arm und stob mit ihr im Schlepptau nach oben. Mit einem kräftigen Schlag seiner Flügel waren sie wieder mitten am Himmel. Das Tor kam immer näher an sie heran. Sein Atem beschleunigte sich, bald hätten sie es erreicht. Nicht auzudenken war es was geschehen würde, wäre es verschlossen. Euphorisch streckte er seine Hand danach aus. Ein lauter Knall ertönte. Schmerzerfüllt rieb er sich den Kopf, zu spät hatte er innegehalten und war mit voller Wucht gegen das harte Metall geprallt. Schlauer war Merlina gewesen und hatte sich gleich in einigem Abstand weinend zurückgeworfen. Der Schall des Aufpralls hallte noch lange in Raphals Gedanken wieder.
Beschämt sie überhaupt in diese Lage gebracht zu haben, legte er seine Hand auf ihre Schulter und rieb an ihr entlang, ignorierte den Schmerz einfach. „Das wird schon.“, säuselte er ihr entgegen, glaubte aber selbst keine Sekunde daran. Sie waren verloren. „Es tut mir so leid.“, sie waren sich so nah, dass sich ihre Flügel beinahe am Fliegen hinderten.
„Ist nicht deine Schuld.“, sagte sie leise und senkte den Blick, wollte ihm nicht länger in die Augen sehen. „Ich mache so etwas nicht, meine Mutter hält viel von mir.“, getroffen schluckte er. „Ich werde Ärger bekommen. Wie viel wird sie von mir halten wenn sie erfährt, dass ich es mir erlaubt habe auf die Erde zu fliegen. Sie wird mich dafür hassen.“, wimmernd legte sie ihren Kopf in die gespreizten Finger. „Ich werde von ihr verstoßen!“
Plötzlich überkam ihn ein leichter Luftzug, er wurde stärker als das Tor schwungvoll aufgeworfen wurde. Zuerst waren sie sprachlos, wurden dann aber ernst.
„Was macht ihr hier unten?“
Die Frage war vertraut, sie war berechtigt. Dankbar sprang er nach vorne und schlang seine Arme um Adrals Körper.
„Ich habe euch überall gesucht.“, begann Adral ohne seinen Dank oder seine Umarmung zu erwidern. „Und Gottseidank auch gefunden. Ich wusste du bist beim Tor! Ich wusste es einfach!“
Merlina bekam von ihm keine Beachtung, Adral hatte sie gar nicht gesehen so kam es ihm vor. Seine Aufmerksamkeit galt nur ihm, Raphal, der unter ihm war und hilflos mit den Flügeln schlug. „Nun komm schon rein!“, winkte er ihm und trat beiseite. Raphal gehorchte.
Schattenhaft prankte eine Hand über Adral, noch ehe sein Bruder ausweichen konnte, traf ein kräftiger Schlag seinen Kopf. Er fiel getroffen auf die Wolken. Auch Raphal war sprachlos.
Ihre Angreifer waren Wächter, welche im Begriff waren der Erde einen Besuch abzustatten.
„Teufel!“, rief er unverblümt. Erbarmungslos kümmerte er sich gar nicht darum, dass Adral sich die schmerzende Wange hielt. „Was hast du hier zu suchen? Du darfst nicht hier sein!“ Wieder packte er ihn an den Schultern und schüttelte ihn hin und her. Dann wandte er sich erst zu Raphal, erkannte, dass er halb im Himmel, halb auf der Erde taumelte. Er begann ihn kräftiger zu schütteln. „Sag bloß du wolltest ihn auf die Erde stoßen?“
Überschwänglich hechtete der zweite Wächter auf Raphal zu, ergriff seine Hand und zog ihn weiter in ihre Welt hinein.
„Danke.“, flüsterte Raphal beschämt und bemühte sich, dem Blick von Adral zu begegnen. Erschrocken hob der Wächter die Hand und deutete seinem Freund eine Zwei, denn er hatte Merlina entdeckt. Die Zwei schien zu wirken, denn er schlug Adral erneut, diesmal mit der Faust. Keuchend landete sein Bruder auf dem Boden. „Du ..:“, drohend stand er über ihm. „Du hast keinen Engel auszusperren! Du und deine Rasse ihr seid es, die dort unten sein sollten!“
Einem Impuls folgend ihm aufhelfen zu wollen, wollte Raphal zu ihm, seine Angst erlaubte es ihm aber nicht. Dadurch würde seine Lüge auffliegen.
Würde er etwas tun, würde ja ans Licht kommen, dass Raphal derjenige gewesen war, der sie alle dazu verleitet hatte etwas Verbotenes zu tun, nicht wie üblich ein Teufel. Helfen konnte er ihm doch auch nicht. Adral war sein Bruder, doch wusste das außer ihnen beiden niemand. Gerade hatte er sich unsterblich in das Mädchen verliebt, wollte er diese Liebe nicht zunichte machen, indem er ihr eröffnete sein Bruder wäre ein Teufel.
In Trance beobachtete er, wie Adral noch einmal geschlagen wurde, zu Boden glitt, die Männer ihnen noch einmal zunickten und es dann für besser hielten zu verschwinden.
Stumm blieb Adral einfach liegen. Merlina war blaß geworden. Sprachlos berührte sie Raphal an der Schulter. „Ich .. muss gehen.“, ihre Augen ruhten unentwegt auf Adrals blutigem Gesicht. „... es ist glaube ich besser so.“
Nur äußerst zittrig gelang es ihr an Höhe zu gewinnen und gleichmäßig mit den Flügeln zu schlagen. Sonst um ihre Nähe mehr als froh, war es Raphal nun über ihr Verschwinden. Zwar kannte er ihre Mutter nicht, doch wusste er, aus Erzählungen ,dass sie nur das Beste für ihre Tochter im Sinn hatte. Und eine Frage musste er sich stellen, war er das Beste? Mit einer Familie aus Teufeln? „Bis bald.“, nuschelte er noch in sich hinein, während seine Blicke ihren sanften Flügelschlägen folgten. Ob es wirklich ein bis bald gab war fraglich.
Erst das klägliche Röcheln des am Boden liegenden Adrals brachte ihn in die Gegenwart zurück. Besorgt ging Raphal in die Knie. „Kann ich dir helfen?“
Einige Male versuchte Adral ihn abzuwehren, schaffte es aber erst nach mehreren Versuchen. „Nein!“, weinerlich schlang er seine Arme wie auch Flügel um seinen Körper um seine Wunden zu schützen. Wie ein kleines Kind lag er vor ihm. In seinem Blut. Es tropfte ihm von der Nase, von der Stirn, von den Lippen und sogar von dem Auge. „Das hättest du gekonnt solange diese ... Bastarde auf mich eingeschlagen haben!“, schrie er ihm entgegen, während er versuchte sich kläglich aufzurichten. Seine Atmung ging nur schwer und keuchend. Auch Raphal hatte sich von ihm entfernt. Die Arme schützend ausgebreitet um ihn sollte er fallen auffangen zu können. „Bitte ich kann dir helfen ...“
„Ja das kannst du!“, wieder stieß er sein Angebot von sich fort. „Doch das hast du nie!“, seine Augen verengten sich zu Schlitzen, sein Gesicht wurde immer wütender. „Jeden verfluchten vergangenen Tag hättest du mir helfen können aber du hast es nie getan!“
Reumütig erinnerte Raphal sich an all die Jahre zurück und wusste genau, worauf Adral anspielte.
Wankend setzte er einen Fuß vor den anderen und fuhr sich mit dem Handrücken über die blutende Nase. „Versteckt hast du mich vor allen deinen „Freunden. Niemals hast du auch nur meinen Namen erwähnt. Und denkst du ich hätte dich nicht am Rand stehen sehen? Wann immer auf mich eingeschlagen wurde standest du ganz vorne dabei!“
Erschrocken versuchte er seine Schulter zu fassen zu bekommen. Adral aber war wendiger, trotz seiner Wunden. Barsch riss Raphal ihn zu sich herum und begann ihn zu schütteln. Die Anschuldigung er wäre niemals für ihn dagewesen wollte er nicht auf sich ruhen lassen. „Und warum denkst du stand ich dort? Weil ich dir helfen wollte, ich wollte dir beistehen!“
Betont unbeeindruckt wich Adral von ihm und schlug ihm einmal kräftig ins Gesicht. Vermutlich als Genugtuung dafür, dass an diesem Tag nicht nur er einen Schlag ins Gesicht bekommen hatte. „Ändert das was?“, aprubt breitete er seine Flügel von sich aus und sprang nach oben zu den weißen Wolken hin. „Denkst du dein Vorhaben mir zu helfen ändert etwas an der Tatsache, dass du es nicht getan hast?“, brüllte er ihm von oben herab entgegen und begann, gefährlich trudelnd das Weite zu suchen.
Zuerst wollte Raphal ihm hinterher, ihm helfen. Blieb aber auf einen erneuten zischenden Befehl: „Bleib bloß fern von mir!“, hin, dort wo er war.
Verübeln konnte er seinem Bruder den immer größer werdenden Hass nicht. Feige war er ja, aber was war so verkehrt daran seine eigene Haut schützen zu wollen. Im Endeffeckt kam es doch auf jeden Einzelnen an und wenn Adral nicht die Kraft hatte sich selbst zu wehren, konnte sie auch kein anderer haben.
Traurig setzte er sich in einen Schneidersitz. Getrocknetes Blut klebte zu seiner Linken auf dem Untergrund. Schaudernd versuchte er den Gedanken es sei das seines Bruders zu verdrängen. Schaffte es allerdings nicht. Merlina fand bestimmt auch er wäre feige gewesen und hinterhältig. Selber hätten sie es beide nicht geschafft wieder in den Himmel zu gelangen, waren auf Adrals Hilfe angewiesen gewesen. Zum Dank hätte Raphal ihm helfen müssen, hatte es aber nicht. Mit Sicherheit war Merlina aus diesem Grund übereilt geflohen. Hatte die Tortur die der Teufel ausgesetzt war nicht mehr mit ansehen können und hielt nun keine großen Stücke mehr auf ihm.
Wer auch immer jetzt noch zu ihm hielt, eines konnte Raphal auf jeden Fall behaupten. Er war niemals allein. Sein schlechtes Gewissen war zu jeder Zeit bei ihm.
In seiner Gesellschaft, stützte er seinen Kopf auf seine Hände und wollte am liebsten selbst Blind vor Wut auf ihn einschlagen. Nur um teilweise den Schmerz nachempfinden zu können, den Adral sein Lebtag lang fühlte.
Wohin er flog wusste Raphal nicht. Brauchte er auch nicht, denn er fühlte sich so frei und leicht wie nie zuvor. Übermütig drehte er sich auf den Rücken, hob die Arme und fiel einige Meter nach unten, er drehte Kreise, überschlug sich, wirbelte gen Sonne, dann wieder zu den Häusern hin, er konnte sich einfach nicht entscheiden was schöner war. Nichts war es, im Vergleich zu Merlinas Augen. Der Ärger war vergessen, alles war es, gab es doch sie. Sie hatte ihn unten beinahe küssen wollen, das genügte ihm. Dieses Wissen lies ihn höher und immer höher steigen.
„Weißt du wirklich nicht wo Raphal ist?“
Ohne von seinem Essen aufzublicken, schüttelte Adral den Kopf. „Nein, woher auch?“ Seine Mutter hob die Hände und ging dazu über, seinem Vater einen rießen Kleks zermantschtes Müsli auf den Teller zu klatschen. „Ich mache mir nur Sorgen.“ Ja, das machten sie sich alle. Außer Adral. Was war daran so schlimm wenn sein Bruder einmal an einem Morgen nicht im Haus war? Er hatte anderes zu tun, traf sich mit Freunden oder wollte allein sein. Dass er ihren Eltern nichts davon erzählt hatte bestärkte Adral nur noch mehr in seinem Verdacht: Raphal wollte damit nur Aufmerksamkeit erhalten, das tat er auch, es klappte wunderbar. „Hoffentlich ist ihm nichts passiert“, schloss sein Vater und stieß den schon abgelutschten Löffel in den Haufen an kleinen Weizen. „Es gibt ja diese Jungs, die euch immer ärgern, richtig?“
Adral nickte, wurde aber sogleich wütend. „Ja, sie ärgern aber MICH Vater. Nicht Raphal.“
„Wie auch immer, nicht dass diese Jungs ihm etwas angetan haben.“
In diesem Moment wäre ein: ach wirklich, das tut mir leid, das habe ich vergessen, oder ein: du Armer, ich hoffe sie haben dir nichts getan, angebracht gewesen. Nicht aber ein: wie auch immer.
Beleidigt legte er seinen eigenen Löffel in die Schüssel und verschränkte die Arme auf dem sauber geputzten Tisch. „Nein Vater, er ist unversehrt, denn sie haben es auf MICH abgesehen.“
„Hm.“, wortlos beugte er sich weiter über seine Zeitung, die er mit halbem Auge gelesen hatte.
Adral verstand es nicht. Sein Vater war doch auch ein Teufel, ein Ausgeschlossener, warum also verstand er ihn nicht? Warum hatte er nichts dagegen unternommen, als Adral mit einer blutenden Nase nachhause gekommen war und ihm gesagt hatte, dass eine Gruppe junger Engel seiner Schule ihm aufgelauert hätten, ihn im Halbkreis hin und hergeschubst hatten und ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst hatten. Warum hatte er nur: so etwas gehört dazu, geantwortet und nicht: ich werde mit der Leitung sprechen. Ich werde mich darum kümmern. Aber was dachte er da. Niemals würde sein Vater mit der Leitung sprechen, was er ihm andererseits nicht verübeln konnte, denn es war ein offenes Geheimnis, dass keiner auf ihn hören würde, allein schon deswegen, da er das Gebäude mit schwarzen Flügeln betrat und auch wieder verließ. Ebenso wie sein Sohn.
Niemand sagte mehr etwas. Am Vortag war Adral schwer verletzt gewesen, von den Schlägen der Wächter. Gekümmert hatte das keinen, es war normal. Beschloss aber Raphal warum auch immer morgens durch die Luft zu fliegen, waren alle krank vor Sorge.
Seine Mutter hatte sich an den Tisch gesetzt, sich einen Teil der Zeitung geschnappt und ihn demonstrativ aufgeschlagen, so als wolle sie ihm damit mitteilen: ich spreche nicht mit dir. „Also“, sagte Adral, machte eine Pause, sprach dann als niemand etwas sagte aber ungehindert weiter. „Ich geh dann mal raus.“
„Wohin?“
Ach, hört mir also doch einer zu. „Ich weiß es nicht.“
„Du könntest für mich etwas einkaufen gehen.“
„Muss das sein?“
„Du weißt doch nicht was du machst. Dann kannst du genauso gut neue Weizen kaufen.“
„Aber Mama …“
Sie wurde ernst.
„Das war keine Bitte, Adral.“
Gereitzt schlug er auf die Tischplatte und rückte mit dem Stuhl. „Na schön. Mache ich, bis dann.“
„Bleib nicht zu lange, und wenn du Raphal siehst …“
Erbost knallte er mit der Tür, blieb vor ihr stehen und brüllte zurück. Ob sie ihn durch die dicke Haustür hören konnte, war ihm egal. „… dann sag ich ihm, dass er zu euch kommen soll, ja! Verdammt nochmal!"
In Rage verzichtete er sogar darauf, den kurzen Weg zum Laden zu fliegen.
Er befand sich mitten in ihrer Stadt, es war also nicht weit, auch wenn man lief.
Seine Mutter hasste es einkaufen zu gehen. Deshalb schickte sie grundsätzlich immer nur Raphal. Er wurde wenigstens von anderen bedient, sobald er etwas suchte. Da Raphal nicht hier war, musste jetzt er herhalten
Er kam nur langsam voran. Aber Fliegen würde nur bedeuten, dass er glücklich war, sich frei wie ein Vogel fühlte, leicht wie eine Feder. Dabei war ihm alles andere als das zumute. Das wollte er auch allen zeigen. Trübsinnig setzte er einen Fuß vor den anderen. Dass man zu Fuß viel langsamer vorankam, doch das war ihm egal, zurück wollte er ja doch nicht. Jedenfalls nicht allzu schnell.
Hunderte Menschen zischten hoch über ihm an ihm vorüber, manche tauchten über die dünne Wolkenschicht nach oben und waren nicht mehr zu erkennen. Eine Mutter landete mit ihrem Kind nicht weit vom gut besuchten Park, setzte es dort vorsichtig auf den Boden und animierte es zu spielen. Adral musste schmunzeln. Er hatte gar nicht erst dort spielen dürfen. Die anderen Kinder hatten kein Interesse und wurden von ihren Eltern auch keines Besseren belehrt. Im Gegenteil, sie stichelten ihre kleinen Engel auch noch dazu an, ihn auszuschließen, denn er verkörperte ja das Böse. Das allgemeine Lachen und Schreien der Kinder lies ihn kalt. Traurig ging er weiter. Die Häuser wurden größer, höher und breiter. Eine Glasfront nach der anderen stach aus den Wolken unter seinen Füßen und schlängelte sich malerisch nach oben zur Sonne hin. Der Markt. Dort kauften alle. Es gab nichts anderes.
Die Türen schwangen zur Seite, augenblicklich wurde er von noch kälterer, stickiger Luft umhüllt. Um in den Einkaufsbereich zu gelangen, hatte man erst einen schier endlos langen Gang hinter sich zu bringen, dort konnte man seine schweren Taschen zurücklassen, oder sogar manchmal kleine Kinder, die dort zu warten hatten. An diesem Tag hatte niemand etwas dort hinterlassen. Adrals Schritte hallten schwer und tragend zur hohen Decke hinauf, denn der Boden war glatt, in den Fließen konnte man sich spiegeln, so sauber waren sie. Fast begann er auf ihnen zu rutschen. Er war da. Eine lange Schlange tat sich vor ihm auf, eine Schlange bestehend aus vielen Tischen. Auf ihnen lagen alle möglichen Nahrungsmittel. Obst, Fleisch, Gemüse. Alles was das Herz begehrte.
Ihre Wächter waren dafür zuständig, die Nahrung von der Erde zu "stehlen". Hier oben würden alle allein verhungern.
Weizen, er brauchte Weizen. Lustlos wandte er sich nach rechts. Der Weizen lag immer auf den hinteren beiden Tischen, fast niemand wollte ihn essen. Mal wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, dass seine Familie anders war. Sie gehörten zu den wenigen Himmelsbewohnern, welche ihn aßen.
Ein Schatten huschte an ihm vorüber, gerade als er seine Hand ausstrecken wollte, und nach einer schön verpackten Tüte Weizen greifen wollte. Sofort wurde er aufmerksam. Es verhieß nie etwas Gutes, sobald etwas an ihm „vorüberhuschte“.
Alarmiert entschied er sich, sich zu beeilen. Riss die Packung an sich und wollte zur Kasse, als er abrupt an der Schulter gepackt wurde. „Na sieh mal einer an.“
Er schloss die Augen. Er wollte ihn nicht ansehen, noch nicht. Sein Gesicht war genau wie das Raphals, wie jedes Engels. Doch er war gemein. Den Namen kannte er nicht. Doch er gehörte zu ihnen. Das genügte.
„Ich rede mit dir.“, ruhig drehte die Hand ihm zum dazugehörenden Gesicht um. Als würde er seinem Bruder in die Augen sehen, fixierte er ihn widerwillig. „Ich hör dich doch!“
„Was machst du hier?“
Drei Engel hatten sich um ihn geschart, als wäre er eine Attraktion und die anderen hier um ihn zu bestaunen. Der Frontmann, der ihn umklammert hatte, begann zu grinsen. Es war ein fieses und berechnendes Grinsen. Sie wollten ihn provozieren. „Hat dir unsere Drohung letztens nicht gereicht?“ Gelassen hob er die Hände, eines war ihm schon längst klar geworden. Egal was er jetzt noch sagte, er würde so oder so verprügelt oder verspottet werden. Obwohl er innerlich vor Wut kochte und sie allesamt in der Luft zerreißen könnte, blieb er ruhig. Es lohnte sich doch gar nicht mehr sich darüber aufzuregen.
„Erstens kaufe ich hier ein und zweitens, nein, sie hat mir nicht gereicht.“
Ein heftiger Stoß erreichte seine Schulter. Von ihm wenig beeindruckt taumelte Adral kurz nach hinten, stieß leicht gegen die Tischkante, blieb dann aber stehen. „Du bist wohl ganz mutig, was?“
Er nickte. Natürlich war er das.
„Du … Teufel!“
Er seufzte, doch weiter kam er nicht, denn der Junge rannte förmlich auf ihn zu und stieß ihn mit voller Kraft auf und gegen den Tisch. Adral konnte nicht schnell genug reagieren, er überschlug sich über den Weizen, kullerte nach unten und landete samt dem Tisch auf dem Boden. Hunderte Körner und Halme landeten auf ihm.
„Was ist hier los?“
Die Stimme kannte er. Sie gehörte dem Geschäftsleiter. Er war schon etwas älter, hatte grau durchwachsenes Haar und kleine Lachfalten. Doch es wunderte Adral, denn er hatte den mürrischen Mann noch nie lachen sehen.
„N … nichts“, murmelte einer der Jungen plötzlich ganz kleinlaut und klopfte sich einige Körner aus der Zottelmähne. „So, nichts?“, barsch wandte sich der Mann direkt an ihn, riss ihn nach oben und hielt ihn abschätzend von sich fort. Um sie herum hatten sich umstehende Himmelsmenschen versammelt, alle beäugten ihn als wäre er ein giftiges Insekt. „Nichts, Sir“, stammelte auch Adral, der zwar vor Zorn platzte, aber wusste, dass er es sich nicht mit dem Mann verscherzen durfte.
„Dein Nichts kenne ich schon!“
Beleidigt wies Adral von sich. „Aber die Jungen haben mich doch gestoßen!“, sein zitternder Zeigefinger deutete genau auf die drei Engel, die erschrocken dabei waren das Weite zu suchen.
Der Mann rüttelte ihn. „Lüg nicht! Aber das sieht euch ähnlich, einfach andere zu beschuldigen!“
Das Wort „Euch“ war gefallen. Damit war natürlich wieder ihre gesamte Rasse gemeint. Ein jeder hatte beobachten können, dass Adral hier das Opfer war, doch keiner hielt es für nötig für ihn einzustehen. „Aber bitte, ich war es doch nicht …“
Der Leiter zerrte ihn mit sich, seine Beine berührten kaum den Boden. „Ich rufe die Wächter, dann kannst du dich ihnen erklären!“
„Nein bitte!“, flehend wollte er sich losreißen, doch er hatte ihn fest an den empfindlichen Federn gepackt. „Man kann den Wachen doch nichts erklären!“
„Exakt.“
„Bitte.“
„Nein.“
Sie näherten sich einer Tür, dort würde man ihn mit Sicherheit einschließen bis die strengen Wachen eintrafen. Er schluckte. Mit ihnen konnte man nicht reden, ihrer Willkür war man einfach ausgeliefert, ob man wollte oder nicht.
„Die Jungen haben wirklich angefangen.“
Alle hielten inne. Ein kleines Raunen ging durch den holen Raum, Adral sowie der Mann, der ihn mit sich zerrte, hielten erschrocken an und drehten sich um. Die zarte Stimme war nicht mehr zu hören, doch hallte sie noch lange in seinen Ohren nach.
„Wer?“
Langsam, aber so, dass sie jeder sehen konnte, trat eine junge Frau aus der Reihe von Menschen, senkte den Blick und schlug fast demütig die Hände auf den Oberschenkeln zusammen. „Ich … habe es gesehen, sie gingen ohne Grund auf ihn los, stießen ihn, sodass er fiel.“
Ohne Grund, er war ein Teufel, das war Grund genug und rechtfertigte jede Tat. Adral befürchtete beinahe, der Geschäftsführer würde ebendiese Entschuldigung aussprechen, doch er tat es nicht. Abwechselnd sah er von dem Mädchen zu Adral und wieder zurück.
„Wollen Sie etwa sagen, dass ich lüge? Ich ein Engel?“, ihre Frage klang herausfordernd, und das war sie auch, denn niemals würde ein Engel gegenüber eines Teufels zugeben, dass ihre Rasse log. Seine Äuglein verengten sich zu kleinen Schlitzen. „Na gut“, schlagartig ließ er ihn fallen. Zum zweiten Mal an diesem Tag landete Adral hart auf seinem Hintern. „Du kannst gehen, aber wehe ich erwische dich noch einmal.“
Er nickte. Mehr wollte er nicht tun. Unter Schmerzen hechtete er nach oben, stieg in die Luft und wirbelte nach draußen an die frische Luft.
„Danke“, sagte er ohne sich umzudrehen, als er merkte, dass ihm jemand folgte.
Das Mädchen kam auf ihn zu, lächelte und veranlasste ihn dazu, zu landen und stehenzubleiben. „Das war selbstverständlich.“
„Nein war es nicht.“
„Du warst im Unrecht.“
„Das ist denen egal, ich bin ein Teufel.“
„Hm“, sie schwieg. Adarls Blick schweifte unwillkürlich über ihre vollen Lippen, die sie überlegend gekräuselt hatte, auf der Suche nach einer geeigneten Antwort. Sie hatte wundervolle, leuchtende Augen, ein rosiges Gesicht und blonde Locken. Er lächelte. „Trotzdem, ich danke dir.“
Sie schwiegen, eine Weile gingen sie nebeneinander her, ohne zu wissen, warum sie eigentlich gingen. „Was hast du heute vor?“, fragte er und hielt den Atem an. Bestimmt würde sie ablehnen, andererseits hatte sie ihm geholfen.
Ihre Mimik verhärtete sich. „Oh, das tut mir leid, aber ich muss meine Mutter unterstützen, sie braucht heute meine Hilfe.“
Sein Lächeln erstarb.
Tröstend legte sie ihren Arm auf seine Schulter und drückte sie kurz, seine Haut kribbelte, die Berührung tat ihm gut, erfüllte ihn mit einem Gefühl, das er so noch nie gekannt hatte. „Aber wir können uns an einem anderen Tag treffen, wenn du es möchtest.“
Sie sagt doch nicht Nein. Innerlich jubelnd musste er sich zusammenreißen, um vor Glück nicht lauthals loszuschreien. „Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?“
Sie lächelte. „Zuerst du, wer bist du?“
„Adral.“
„Ich bin Merlina.“ Sie stieg wieder in die Höhe. „Ich muss jetzt wirklich los, bis dann, Adral.“
Auch er winkte zum Abschied. „Bis dann, Merlina.“
Obwohl er in ihren Augen ein rechter Feigling sein musste, wollte Raphal Merlina nicht so leicht aufgeben. Wollte noch einmal mit ihr sprechen und sich (falls nötig) bei ihr entschuldigen. Schon seit mehreren Stunden war er auf der Suche nach ihr. Schwer, denn wie sollte er sie erkennen? Wahllos, sobald ein Engel ihrem Alter ensprach, sprach er ihn einfach an. "Entschuldigung, Merlina?"
Leider schüttelte jedes Mädchen den Kopf. Sie war es nicht.
Gerade wollte Raphal seine Suche beenden, als sie plötzlich gegen ihn stieß. Mitten am Himmel.
"Raphal?"
Daran erkannte er sofort, dass sie es sein musste. Wer sonst kannte ihn? Und noch mehr: Wer sonst freute sich so ihn zu sehen?
"Merlina! Du bist hier?"
"Ja auf dem Heimweg. Und du?"
Jetzt bloß nicht lügen. "Ich suche dich."
"Was?"
"Ja wirklich. Ich wollte seid gestern mit dir sprechen, und mich bei dir entschuldigen."
"Du ich habe keine Zeit. Und das ist auch nicht nötig."
Enttäuschung machte sich breit. "Wann hast du denn Zeit für mich?"
"Morgen." In Eile flog sie um ihn herum. "Morgen um die gleiche Zeit am Tor."
Morgen um die gleiche Zeit. Mit klopfendem Herzen landete Raphal viel zu früh auf dem dünnen Weg, der zum heiligen Tor führte. Die ganze Nacht hindurch hatte er wachgelegen, sich Gedanken über ihr Treffen gemacht, sich herumgewälzt, die Augen geschlossen nur um sie Minuten später wieder zu öffnen.
Das Mädchen gefiel ihm mit jeder Minute in der er über sie nachdachte. Wie gütig sie doch war, nachtragend schien sie nicht zu sein.
Sie hatte wunderschöne lange Haare, die so leicht wie Seide im Wind wehten, feurige Augen, welche einen jeden, sobald er einen Blick hineinwarf, um den Verstand brachten, sie war höflich, nett und zurückhaltend. Kurz gesagt: sie war perfekt. Perfekt für Raphal. In jeder Hinsicht.
Nervös knetete er seine Hände, während er auf und abschritt. Sie war noch nicht hier, nicht weiter vorne bei ihm und auch nicht vor den Türen des Tores. Was wenn sie ihre Verabredung vergessen hatte, was wenn sie niemals vorgehabt hatte, zu kommen? Vielleicht hatte sie einfach fliegen wollen und ihn damit vertröstet?
Nein. Fast wütend auf seine eigenen Überlegungen schwang er sich wie immer auf einen Teil der Mauer, ließ die Beine über deren Ende baumeln und legte seine Finger auf den kalten Stein.
Wieso nur musste alles hier oben so kalt sein, konnten die Wolken nicht mal etwas Wärme von sich geben? Fröstelnd biss er die Zähne zusammen und hielt weiter Ausschau nach Merlina. Jetzt war es sechs Uhr. Er wurde hibbelig. Immer noch keine Spur von ihr, noch nicht einmal das leise Rauschen ihrer Flügel. Konnte es sein, dass etwas passiert war? Hatte sie einen Unfall gehabt, oder wurde es ihr von ihrer Mutter verboten zu kommen?
Hoffentlich war es so, denn das würde wenigstens ausschließen, dass sie ihn nicht sehen wollte.
Nichts geschah.
Zu gerne wäre er zu ihrem Haus geflogen, hätte sie von dort aus abgeholt, doch er wusste nicht wo sie wohnte.
Die Minuten verstrichen. Seine Finger begannen zu kribbeln. „Tut mir leid“, hörte er direkt neben seinem Ohr und erkannte gerade als er aufblickte, dass Merlina dabei war zu landen. Graziös stellte sie zuerst einen, dann den anderen Fuß auf die Mauer, ging dann in die Knie und schlang ihre Arme überschwänglich um seinen Hals. Überrascht aber auch froh darüber, dass sie nun doch endlich gekommen war, traute Raphal sich und drückte sie herzhaft an sich.
„Das macht doch nichts. Ich habe mir nur schon Sorgen gemacht.“
Merlina setzte sich, wie am Vortag saßen sie auf dem harten Gestein, so als hätten sie sich niemals fortbewegt. „Das ist lieb von dir.“
„Wo warst du so lange?“
„Ich musste noch etwas für meine Mutter erledigen.“
Fast beleidigt verschränkte er die Arme. „Und das konnte nicht warten?“
Merlina sah ihn an, blinzelte ein- zweimal. Schnell hob er die Hände. „Versteh es nicht falsch, es war nicht als Vorwurf gemeint.“
„Als was dann?“
Er schluckte. „Ich … hatte mich einfach gefreut dich wieder zu sehen. Da konnte ich keine Sekunde länger warten.“ Seine Antwort schien ihr zu gefallen. Malerisch warf sie ihre Haare nach hinten und strich sie mit ihren dünnen Fingern glatt. „Was hast du bis jetzt getan?“
„An dich gedacht“, gab er direkt zurück.
Sie lächelte verlegen. „Nein, ich meinte gestern Abend und heute Morgen.“
„An dich gedacht“, sagte er wieder und erkannte erst dann, wie plump seine Antworten doch waren. „Verzeih, es soll nicht klingen als würde ich dich mit meinen Worten einlullen wollen.“
„Das willst du nicht?“ Davon, dass sie darüber so erstaunt war, war Raphal fast gekränkt, was dachte sie nur von ihm? „Nein, das ist nicht meine Absicht“, sagte er schnell um die Wogen zu glätten.
„Nun das schaffst du aber.“
„Danke.“
Sie lachte und Raphal hätte sich am liebsten ohrfeigen können. Danke, wie war er auf die Idee gekommen, ihr dafür zu danken? Aber er hatte es als Kompliment verstanden, so wortgewandt zu sein.
„Bist du noch in der Ausbildung?“ Ihre Frage klang wie ein Flehen, ein Flehen dafür, dass er sie verneinte.
Und das tat er auch. „Nein, ich bin fertig, jetzt mache ich … nichts.“
„Nichts?“
„Jedenfalls nichts Besonderes.“, schnell lenkte er ein. „Ausser mich mit dir zu treffen.“
„Das ist etwas Besonderes?“
„Ja, für mich schon.“
Das laute Kreischen eines Vogels war zu hören, er flog dicht an der Wolkendecke unter ihnen vorüber. Raphal nutzte die Gunst der Stunde, um ihn genauestens zu beobachten. Es geschah selten, dass sich ein Tier so hoch oben bei ihnen bewegte.
„Du frägst mich gar nicht, was ich tue“, merkte Merlina auf und begann ihre Haare zu flechten, in langen Strähnen legte sie es übereinander. Den Vogel beachtete sie nur kurz.
„Das tut mir leid.“
„Braucht es nicht.“
Peinlich berührt grinste er. Doch es kam ihm eher wie ein unbeholfenes Grunzen vor. „Also, was tust du?“
„Ich bin noch in der Ausbildung. Ist mein letztes Jahr.“
„Was möchtest du danach tun?“ Sie zuckte mit den Achseln, genau das, was auch er am Ende seiner Ausbildungszeit getan hatte, und – zugegeben – immer noch tat.
„Ich weiß es nicht. Ich würde gerne eine Wächterin werden.“ „Was, wirklich?“ Sie nickte und Raphal konnte nicht anders, als sie bewundernd von allen Seiten zu beäugen. Nicht einmal er traute sich Wächter zu werden. Sie mussten schnell sein und die Himmelsmenschen vor ihrem größten Feind bewahren. Sich selbst. Sie hatten ihnen bei schweren Unwettern zur Seite zu stehen, sie mussten sie vor besonderen Veränderungen in der Luft warnen und hatten Engel wie auch Teufel vor einem ungewollten Fall durch das Tor zu schützen. Alle zu versorgen war nicht leicht und nach ihrem Erlebnis auf Erden, dieser Besuch auch nicht. Innerlich spielte er mit dem Gedanken sie nun auf ihr Abenteuer anzusprechen und sich noch einmal förmlich zu entschuldigen. Aber sie redete so munter drauf los, dass er ihr Gespräch nicht mit Unmut verderben wollte.
„Ja, aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt angenommen werde.“
„Mein Bru …“, schnell stoppte er mitten im Satz. Es war bestimmt nicht klug ihr von einem Bruder zu erzählen, einem Bruder, der ein Teufel war. „… Bruder erzählte mir, dass es Teufeln nicht erlaubt ist, als Wächter zu arbeiten.“
„Ach, dein Bruder ist Wächter?“
„Ja, er wollte einer werden.“
Das stimmte sogar, es war Adrals größter Wunsch gewesen. Nur dass er niemals dazu gekommen war seine Fähigkeiten zu beweisen. Und die hatte er wirklich, denn er konnte besonders schnell und wendig fliegen, lautlos, war stark und gewissenhaft. Doch das war ihnen egal, die Farbe seiner Flügel zählte.
Merlinas Augen leuchteten nur kurz, dann blinzelte sie einige Male und widmete sich wieder ihm, ihm ganz allein. „Das ist schön. Aber reden wir wieder von dir.“
„Von mir?“
„Ja, was gibt es von dir zu erzählen?“
Er wusste es nicht. Hatte bei jedem seiner Worte Angst seine Eltern und seinen Bruder zu verraten, und Merlina zu verschrecken. „Ich weiß es nicht.“, mutig hob er seine Hand und legte sie auf Merlinas. Ihre Pupillen blieben an ihr hängen. Als würde er es provozieren wollen, dass sie ihre Finger zu sich zog, beobachtete er sie, verkrampfte sich und schloss seine Handfläche um die ihre. „Müssen wir unbedingt reden?“
Merlina lächelte. „Nein, natürlich nicht.“ Ihre Hand ließ sie liegen, dort, wo sie war, unter seiner, zwischen seiner, von seiner umschlossen. Er meinte sogar kurz zu spüren, wie sie sich an ihn lehnte. Gemeinsam saßen sie vor dem Tor, niemand kam zu ihnen. Keiner sagte etwas. Sie genossen die Stille und ihre zaghafte Berührung, mehr geschah nicht. Ab und an drehte er sich zu ihr, um sie von der Seite anzublicken. Ihren langen Zopf zu sehen, ihre strahlenden Augen, die in der Sonne funkelten, ihr zartes Gesicht, ihre weiche Haut und ihre vollen Lippen. Er hatte das Gefühl, zu keinster Zeit seines Lebens genug von diesem Anblick zu bekommen. Nur einmal, ganz kurz, wenn sie sich zu ihm wandte, schaffte er es sich von ihr loszureißen und geradeauszusehen und selbst dann kam es ihm vor, als würde er von gähnender Leere erfüllt werden. Nichts konnte ihm mehr Glück bescheren, als in ihr Gesicht zu sehen. Die Stille war nicht so erdrückend, wie Raphal es erwartet hätte. Er genoss sie in jeder Sekunde, jeder Minute, jeder Stunde, die verstrich. Wie verzaubert ging die Sonne vor ihnen unter, das Licht wurde mit jedem Wimpernschlag schwächer und rötlicher. Bald schon war sie kaum noch zu sehen, ihre Gesichter schimmerten in sanften orangenen Tönen.
„Ist dir kalt?“, fragte er und schämte sich fast dafür, Merlinas Zittern nicht schon zuvor bemerkt zu haben. Wurde es Nacht, wurde es noch eisiger. Eine zarte Gänsehaut hatte sich auf ihren Armen gebildet, selbst an ihrem Bauchnabel und ihrem Dekolleté konnte er die kleinen Punkte erkennen. Wieder begann er sich zu schämen, für das was er dachte.
Merlina nickte. „Ja, es ist schon etwas kühl.“ Seine Mundwinkel zuckten nach oben, formten sich zu einem sachten Lächeln. Nie hätte er es für möglich gehalten, zwei
Himmelsmenschen könnten sich stundenlang unterhalten, ohne dass es einem langweilig wurde, ohne dennoch ein einziges Wort zu sagen. Das Licht war verschwunden. Fast traurig darüber, nun nicht mehr Merlinas funkelnde Augen sehen zu können, sich nicht mehr in ihnen verlieren zu können, stand er auf, seine Hand hielt er aber noch immer um die ihre geklammert. Sie sah ihn fragend an. „E … es ist spät“, erklärte er seine Hektik und fuhr sich über den zerzausten Hinterkopf.
„Heißt das, du möchtest mich nachhause bringen?“
Sofort hielt er den Atem an. Daran hatte er gar nicht gedacht. Jedenfalls nicht gleich. Seine Stimme wurde beschlagen, nervös versuchte er sich zu räuspern um ihr wieder einen klaren Klang zu verleihen. Vergebens. „Ähm, du … möchtest, dass ich dich nachhausebegleite?“ Sie nickte knapp.
„Du möchtest, dass ich … mit dir mitfliege?“
Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Nein“, dicht an ihn gedrückt, drängte sie ihn von der Mauer und sank mit ihm im Schlepptau auf den Boden. „Ich möchte gehen. Das dauert länger.“
Der Gedanke daran, dass eine so wundervolle Frau wie Merlina es war, ihn länger bei sich haben wollte, seine Anwesenheit genoss, machte ihn glücklich, von diesem Gefühl beflügelt wäre Raphal am liebsten hoch in den Himmel gestiegen, hätte sich von den eisigen Wolken umhüllen lassen und wäre auf ihnen durch den verhangenen Sternenhimmel geschwebt. Am besten noch mit ihr. Sie machten sich auf den Weg. Vereinzelt flogen Himmelsmenschen an ihnen vorüber, allerdings konnten sie kein Wort, von dem was sie sprachen, hören, denn sie waren zu weit entfernt. Sein Magen wollte es, noch mehr als ein jeder ihrer Finger sich an ihn klammerten, an seinen starken Arm, ihn nicht mehr losließen und sich in sein Fleisch bohrten. Sein Magen wollte fliegen, zappelig konnte Raphal kaum Ruhe bewahren. Er wollte schreien, wollte herumwirbeln, wollte lauthals loslachen und seine Freude in die Welt hinausbrüllen.
„Wird deine Mutter sich nicht Sorgen machen?“
„Warum sollte sie das?“
Sie erreichten die Stadt. Alle Lichter waren schon erloschen, nichts war mehr zu erkennen, nur schwerlich fanden sie den Weg und schafften es nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. „… wenn sie sieht, dass ich dich zurückbringe?“
Ob seine Angst begründet war wusste er nicht recht. Er kannte ihre Mutter nicht. Merlina stockte.
Du Trottel! Jetzt hatte er diesen wundervollen Spaziergang zerstört. Den Moment vereint unter den Sternen zu stehen, die Stille um sich herum zu genießen, sich anzusehen, ihre Hände zu fühlen und seinen Gedanken und Träumen nachzuhängen, unterbrochen. Das alles konnte er nun nicht mehr. Warum hatte er überhaupt etwas gesagt? Etwas anderes, außer: ich glaube ich liebe dich. Nein: Ich WEISS ich liebe dich.
„Woran denkst du?“ Ihre Frage war begründet, für einen Augenblick war er tatsächlich weggetreten.
„An dich“, gab er unverblümt zu und biss sich auf die Lippen. „Nur an dich.“
Sie schwieg. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Warum sagte sie nichts mehr? Überlegte sie schon, wie sie ihn am besten loswerden konnte?
Urplötzlich packte sie ihn fester und setzte sich wieder in Bewegung. „Bitte, denk nicht falsch von mir.“ Instinktiv schüttelte er den Kopf. Das würde er niemals. „… kann ich dich begleiten?“
„Ja!“ Der Schrei war ihm so rasch über die Lippen gekommen, dass er ihn nicht mehr hatte hinunterschlucken können. „Entschuldigung“, sagte er deshalb schnell, doch ihr war es egal.
„Wo wohnst du?“
„Komm mit.“ Mit dem Wissen, Merlina bald ganz für sich allein zu haben, in seinem Zimmer, kam er viel schneller voran. Beeilte sich sogar. Hatte er den langsamen Gang zuerst genossen, so konnte er es nun kaum abwarten bei sich anzukommen. Er hoffte nur inständig, seine Eltern wären nicht mehr wach, oder Adral. Wie würde er reagieren? Bestimmt mit Wut und Enttäuschung, würde alles wieder auf die verdammten Engel schieben und mit den Türen knallen. Wie immer.
„Warte!“ Kurz bevor sie sein Haus erreichten, hielt er sie zurück. „Darf ich?“
Ohne zu wissen was er überhaupt wollte, nickte sie. Leichtfüßig hob er sie auf seine Arme, sie war herrlich leicht. Mit Anlauf schwang er sich nach oben und stieg auf die gleiche Höhe mit seinem Fenster. Ein kurzer Tritt und es war offen. Leise setzte er sie auf dem Boden ab und schloss es wieder. Der Verschluss war leicht verzerrt, doch man konnte es noch notdürftig anlehnen.
Unsicher blickte sie sich um. Gefiel es ihr nicht? Ebenfalls verunsichert hob er die Arme. „Nun ja, hier sind wir.“
„Was sollte das eben?“, in ihrer Stimme schwang etwas mit, was er nicht recht deuten konnte. Es schien ihm als wollte sie ihm damit provozieren.
„Ich wollte nicht, dass sie uns hören“, antwortete Raphal, bückte sich und hob herumliegende Bücher an sich, legte sie auf den Tisch und warf ein Handtuch darüber. Als ob allein das etwas an der Unordnung geändert hätte.
„Also, was möchtest du nun tun?“ Es klang eher wie eine Anspielung auf etwas, als eine Frage. Kommentarlos setzte sie sich aufs Bett, tupfte mit ihren Fingern prüfend auf die Matraze und machte es sich dann dort bequem. „Schlafen.“, sie lächelte. „Keine Angst, ich möchte wirklich nur schlafen.“ Keine Angst. Wenn sie wüsste, Angst hätte er gewiss nicht gehabt, auch nicht, wenn sie ihm ein anderes Angebot gemacht hätte. „Na gut. Brauchst du eine zweite Decke?“ „Komm her.“, er ergriff ihre ausgestreckten Hände und ließ sich von ihnen zu ihr ziehen. Sie brauchte nichts zu sagen, er begriff auch ohne Worte, was er tun sollte. Leise quetschte er sich zwischen Wand und ihrem Körper, versuchte seine rießigen Flügel so eng wie möglich an seinen Körper zu pressen und bettete seinen Kopf auf seine Armbeuge. Sofort als er platzgenommen hatte, hatte Merlina ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, die Knie angezogen und sie über seine Hüften gehangen. „Gute Nacht“, sagte sie leise, rutschte noch ein zweimal hin und her, und schloss dann die Augen. Wie schnell sie eingeschlafen war, konnte Raphal nicht sagen, denn er hatte alle Hände voll damit zu tun, sich eines Satzes bewusst zu werden: ein Mädchen liegt in meinem Bett, ein wundervolles Mädchen liegt dicht an mir. Angetan hob er die Hand und fuhr ihr kurz über die verhedderten Haare. Sie rochen herrlich, sie roch herrlich, sie war herrlich, sie war alles. Ohne Aufforderung drückte er sie enger an sich, sie war wohlig warm, ihr Herzschlag gleichmäßig. Er würde stundenlang bei ihr liegen können, nächtelang, eine Ewigkeit. Sie schmiegte sich an seine Brust und atmete langsam ein und aus. Als hätte sie sich in der Nacht kaum bewegt. Raphals Rücken schmerzte, doch er hatte sich nicht eingestehen wollen, dass er sehr ungemütlich auf seinem Bett lag. Aber es war so schön bei ihr zu sein, dass er es bisher nicht bemerkt hatte.
In der Küche begann es zu Scheppern. Seine Mutter war bereits aufgestanden. Als wäre das für seinen Magen ein Stichwort gewesen sich zu melden, begann er laut zu knurren. Peinlich berührt wartete er, ob Merlina etwas gehört hatte. Nein sie schlief tief und fest. Fürs Allererste wäre es gut wenn er seine Eltern vorwarnen würde und ihnen von seinem unerwarteten Besuch erzählen würde, bevor sie Merlina entdeckten. Verbissen schlängelte er seinen Arm unter ihrem Kopf hervor, stand auf und schloss das offene Fenster. Kalter Wind stob zu ihm hinein und trieb ihm eine eisige Gänsehaut auf den Körper. Die Sonne war schon aufgegangen, an diesem Tag waren die Wolken dichter, es würde bestimmt ein Unwetter geben.
„Guten Morgen“, brüllte er nach unten in die Küche. „Morgen Raphal“, kam es fröhlich zurück, das Klirren wurde stärker, seine Mutter stellte Schüsseln und Tassen auf den Esstisch. Noch stand er an der Spitze der Treppe, haderte mit sich, als auch Adrals Zimmertür langsam geöffnet wurde. „Guten Morgen.“; grüßte er auch seinen Bruder freundlich, erhielt aber nur ein müdes Brummen. Hinter Adral konnte man einen ungehinderten Blick auf seine Unordnung werfen. Seine Bücher und Hefte lagen quer auf seinem Boden verstreut, seine Hosen hingen über dem Bett und über dem Stuhl. Ohne zu fragen ging Adral an ihm vorüber. „Halt, wo willst du hin?“
„Mir von dir etwas zum Anziehen holen.“
„Wozu?“
Mürrisch wies er nach hinten auf seine Unordnung. „Ich habe momentan keine frischen Sachen.“
„W … wieso dann bei mir?“
Adral wurde wütend. „Tu mir doch den Gefallen!“
Er sagte nichts mehr. Ihm fiel keine passende Ausrede ein, aus welchem Grund Adral an diesem Morgen nicht zu ihm durfte. „Mach was du willst.“, sagte er deshalb und lies ihn eintreten.
„Kommt ihr essen?“
„Ja. Gleich.“
Die Sekunden vergingen langsam. Was auch immer Adral dort drinnen tat, es dauerte viel zu lange. Nägel kauend blieb ihm nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten. Lautlos ging er an ihm vorüber. Ohne etwas zu sagen blieb er plötzlich stehen. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Nicht einmal die weißesten Wolken konnten mit seiner Blässe mithalten.
„Was ist los?“
Seine Lippen bewegten sich, zögernd ging er weiter.
„Du Bastard.“
„Wieso?“
„Sag, dass ich allein sein möchte.“
„Warum?“
Doch seine Frage wurde nicht mehr gehört. Wankend ging Adral in sein Zimmer zurück und warf die Tür ins Schloss.