Читать книгу Fall eines Engels - Simone Lilly - Страница 3
ОглавлениеHilflos ausgeliefert
Hart war er gegen das Holz seines Schrankes gedrückt worden. Dabei hatte Adral schwer nach Luft schnappen müssen, war beinahe nicht mehr fähig gewesen, aufrecht zu stehen, seine Knie zitterten, eines davon war sogar blutig geschlagen worden. Alle vier standen über ihm, sahen ihn an und hielten ihn an den Schultern fest.
„Lasst mich los!“, schon damals war Adral immer aufbrausend gewesen. Doch dieses Mal hatte es ihm nicht viel geholfen, immer wieder hatten sie ihn gerüttelt, seinen Kopf dumpf gegen den Schrank geschlagen, sodass all seine Schulbücher an seinen Ohren vorbei hinunter auf den Boden gefallen waren.
Raphal war dabei gestanden, er hatte sich aber nicht getraut einzugreifen, er war beliebt, jedenfalls so, dass man ihn in Ruhe ließ, obgleich seine Eltern und sein Bruder „Teufel“ waren, er gehörte dazu, diese Stellung wollte er nicht aufgeben. So wie viele von Adrals Freunden. Sie alle standen da, nicht weit von den Störenfrieden entfernt. Manche taten so, als würden sie nichts sehen, wieder andere schüttelten nur entsetzt die Köpfe.
Nie würde er das Gefühl vergessen, wie seine Finger gejuckt und gekribbelt hatten, fast wäre er auf sie zugerast, hätte sie von seinem Bruder fortgerissen und sie dem Himmelsboden gleichgemacht.
„Na was ist jetzt du Teufel? Kannst du dich nicht wehren?“
Hämisch hatten sie gelacht, konnten sich in ihrem Zorn kaum noch beherrschen. Immer wieder hob einer von ihnen sein Bein und donnerte es gegen Adrals ohnehin schon blaues Schienbein. Er war damals noch ein kleines Kind gewesen und hatte begonnen hemmungslos zu weinen. Wozu sollte er seine Tränen auch zurückhalten? Jeder Knochen schmerzte ihm, er wusste, dass er von ihnen niemals gemocht werden würde.
Die knochigen Finger der anderen Jungen hinterließen auf seinen Schultern bleiche Abdrücke, die nach und nach mit Blut unterliefen. Wimmernd knallte Adral auf den Boden, als ein greller Schrei, der den Beginn der Ausbildung verkündete, ertönte. Die Jungen waren bestrebt pünktlich zu kommen, deshalb schossen alle in die Luft und in verschiedene Himmelsrichtungen davon. Nur Adral blieb sitzen. Dicke Tränen rannen ihm über die Wangen als er seine Arme eng um seine Knie schlang.
Lange hatte Raphal überlegt zu ihm zu gehen, ihn in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, wie leid es ihm tat und dass er auf die sogenannten Freunde, welche einfach zugesehen hatten, pfeifen konnte. Auf halbem Wege, als er schon in die Luft gestiegen war, kam ihm erst in den Sinn, dass er sogar sein Bruder war und Adral nicht geholfen hatte.
Niemals würde er seine Feigheit vergessen können. Genauso wenig tat es Adral. Seitdem war er ihm gegenüber mehr als abweisend.
„Adral warte!“, gemeinsam hatten auch sie ihr Elternhaus verlassen und waren auf dem Weg ihren Lieblingsort zu besuchen. „Das Tor“, so nannten sie es bot ihnen alles was sie wollten, Schutz und Ruhe vor den anderen, keiner traute sich dorthin zu gehen. Dabei verstand Raphal gar nicht was daran so schlimm war. Es war eben ein Tor, durch es konnte man auf die Erde treten. Aber man konnte auch nicht mehr zurück. Das war das Problem. Vermutlich hatten die anderen Angst aus Versehen hinunterzufallen und dann auf der Erde festzusitzen. Absoluter Unsinn, denn ein jeder wusste, dass ein Himmelsmensch zwei Leben hatte. Starb er hier, so wurde er sterblich, sank durch die Himmelsdecke und fiel zu den Menschen. Auch den Adriel hatten sie gemeinsam zum Tor begleitet, er war alt und schwach gewesen, hatte gespürt, dass es mit ihm zu Ende ging. Zusammen hatten sie mit ihm gewartet, auf sein Ende. Als es gekommen war, hatte er einen jeden seiner Familie umarmt, die Flügel des Tores hatten sich geöffnet und er war gegangen.
Adral dachte gar nicht daran auf ihn zu warten. Er war jünger als Raphal, seine Flügel noch schwächer und kleiner, doch er war ihm weit voraus. „Jetzt warte doch!“
Leider war es nur den alten Himmelsmenschen gestattet, ihre Welt durch das berüchtigte Tor zu verlassen. Oft genug hatte Raphal Bilder des alten legendären Krieges gesehen. Wie hatte ihr Ausbilder noch gesagt? „… viele junge Himmelsmenschen, Engel wie auch Teufel wurden getötet, sie sanken auf die Knie, von ihren Fingern an begann ihre Haut zu welken, ihr Glanz schien ganz zu verschwinden, sie schrien, ihre Schreie waren über das gesamte Land zu hören. Ihre Körper wurden schwer, wie von einer unbekannten Kraft wurden sie nach unten gezogen, verzweifelt versuchten sie sich festzuklammern, an allem was sie greifen konnten, aber es half ihnen nichts, sie mussten gehen. Manche von ihnen hatten Glück, sie überlebten den Fall, wieder andere schlugen auf dem harten Erdboden auf und starben. Und ... dann aber für immer.“
Um diesen Gedanken zu verdrängen schüttelte Raphal mehrmals den Kopf, sodass seine blonden Haare nur so in sein Gesicht schlugen. Nein so wollte er nicht gehen. Er wollte alt werden und in Würde durch dieses Tor schreiten, als Adriel.
Murrend setzte Adral sich auf den erstbesten Überrest einer alten Mauer, lies seine Füße hinunterbaumeln und den Blick schweifen. Er hatte wie immer nicht auf Raphal gewartet. Sein Bruder hasste ihn, das wusste er mittlerweile. Ganz genau konnte er sich an den Tag erinnern, der ihr harmonisches Familienleben für immer zerstört hatte. An ihm war selbst der letzte Rest Bruderliebe zugrunde gegangen:
Adral war zum Ausbilder gerufen worden. Kleinlaut war er vor ihm gestanden, inmitten seiner ganzen Klasse. Er war beschuldigt worden einen wertvollen Kopfschmuck geklaut zu haben, man durchsuchte gegen seinen Willen alle Taschen von ihm und sogar seinen Schrank. Als man nichts fand, fasste Adral sich ein Herz und beichtete dem Ausbilder, dass er von anderen Engeln immer geärgert wurde, dass sie ihm schadeten ihm nichts Gutes wollten. In Fahrt unterstellte er ihnen auch, sie hätten ihm eine solche Tat nur anhängen wollen. Gar nicht begeistert hatte der Ausbilder mit der Zunge geschnalzt und war dicht an Adral herangetreten. „Beleidige nicht die Engel, du wirst es schon gewesen sein. Was anderes könntet ihr auch tun?“
Mit diesen Worten hatte er Adral am Kragen gepackt und ihn mit sich mit gezerrt, in einen Raum, in welchem nur Wolken existierten, weiße, dichte Wolken. In freier Natur waren sie immer ein schöner Anblick, saß man aber einen ganzen Tag inmitten einer weißen Wand, so verging es einem sehr schnell. Man wurde nahezu verrückt. Es war eisig kalt, man konnte kaum atmen, die Augen schmerzten, man wurde geblendet und bald gelangweilt, sah man doch nichts außer weißen Fäden. Bald schon wusste man nicht mehr wo oben und unten war, was links und rechts war, man flog, stieg in die Luft, in der Hoffnung zu entkommen, doch man kam nicht weit. Einmal war Raphal dort gewesen, nur für zwei Stunden, hatte es kaum ausgehalten. Adral aber hatte fast die Hälfte seiner Ausbildung dort verbracht, manchmal sogar einen ganzen Tag lang.
Als Adral es am Abend ihren Eltern erzählt hatte, hatten sie ihm nicht geglaubt und sich fragend an Raphal gewandt. Hätte er es ihnen bestätigt, so hätten sie mit den Ausbildern gesprochen, aus Angst dadurch aber selbst zum Opfer zu werden, zum Teufel, hatte Raphal geschwiegen und die Anschuldigung seines Bruders geleugnet. Enttäuscht hatte Adral sich an diesem Abend von ihm fort gedreht, niemals würde Raphal seinen leeren und doch hasserfüllten Blick vergessen, wie seine Augen ihn durchbohrten und ihn fast in die Knie zwangen. An diesem Tag, das wusste er, hatte er das Band, welches ihn und seinen Bruder verbunden hatte, zerrissen.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass Adral ihm niemals verzeihen würde, und das hatte er bis jetzt auch nicht getan. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, das aber nur da Raphal ihm einfach hinterherrannte, als wäre er sein kleiner hilfloser Bruder, als wüsste er ohne Adral nichts mit sich anzufangen.
Wortlos setzte auch er sich auf die Mauer und lies die Beine baumeln. Das war auch so, ohne Adral hatte Raphal keine Freunde, nicht, da er keine fand, sondern er hatte es schon immer als unfair angesehen, sich mit anderen anzufreunden, während Adral allein zurückblieb. Sie waren füreinander da und verantwortlich.
Stur blickte Adral nach vorne, auf das gewaltige Tor. Es war verschlossen. Lauschte man aufmerksam, konnte man ein leises Surren, das von den dicken Stahlwänden ausging, hören. Es wirkte beinahe bedrohlich. Für alle war es ein heiliger Ort, um den sich viele Sagen rankten. Ob sie stimmten wusste nahezu keiner, aber sie waren überliefert.
Kurz nach dem Entstehen der Menschheit hatte der Überlieferung zufolge, einer von ihnen versucht, ihr Himmelsreich zu erobern, war aber vor den verschlossenen Türen gescheitert, auf die harte Erde zurückgeprallt und dort gestorben. Unrealistisch so fand Raphal, denn erstens, wie hätte der Mensch von ihrer Existenz erfahren sollen und zweitens: wie um alles in der Welt hätte er die Kraft gehabt, bis zu ihnen hinaufzufliegen – ohne Flügel?
Wieder sah er zu Adral. Regungslos hatte er sich nach hinten gelehnt und blickte sich immer noch um. Was genau er ansah, wusste er nicht. Denn alles um sie herum bestand aus blauem Himmel, dem Tor und einigen Mauern.
In ihrer Geschichte gab es viele Lücken. So fehlte auch die Erkenntnis, ob es nun wirklich Menschen als solche gab, oder es nur gefallene Engel und Teufel, welche ihr zweites Leben dort unten verbrachten, waren.
Darauf hatte auch Adriel keine Antwort gewusst, was viel bedeuten musste, denn er wusste nahezu alles.
„Ich weiß woran du denkst.“, sagte Adral unerwartet und sprang von der Mauer.
„Wirklich?“
„Ja, wie immer. Du denkst darüber nach was du denn falsch gemacht hättest, dass ich dich ignoriere.“
So genau hatte Raphal es nicht gedacht, doch hielt er es für unklug, seinen Bruder über seine wahren Gedanken aufzuklären. Darum tat er es ihm einfach nach, sprang von den Steinen und landete steif auf seinen Füßen. „Kriege ich auf meine Frage auch eine Antwort, wenn du sie schon weißt?“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
Adral schoss in die Höhe, seine Flügel wurden von starkem Wind durchwühlt, eine einsame Feder rieselte langsam vor Raphals Nase auf den Himmelsboden und blieb dort regungslos liegen.
„Du denkst also wirklich, ich gebe mich damit zufrieden?“
Adral nickte und wurde schneller, obwohl auch Raphal in die Lüfte gestiegen war, konnte er seinen Bruder nur schwer einholen. „Ja das tue ich.“
„Aus welchem Grund?“
„Weil du das schon immer getan hast.“
Ein anderer Himmelsmensch kreuzte seinen Weg, ganz auf Adral konzentriert, rumpelte Raphal ungebremst gegen ihn. „Es tut mir leid!“, brüllte er ihm entgegen, bekam aber nichts anderes als einen wütenden Fluch als Antwort.
"Was willst du? Lass mich endlich in Ruhe!"
Er ignorierte Adrals Schrei und beschleunigte seinen Flug nur noch mehr um ihm folgen zu können.