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Urlaub im Sinai

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»Das Glück muss entlang der Straße gefunden werden,

nicht am Ende des Wegs.«

- David Dunn -

Es gab endlich Direktflüge nach Sharm El Sheikh. Bei den ersten Urlauben hatte ich den umständlichen Weg über Ungarn oder die Tschechei nehmen müssen. Das hieß, man musste lange auf Flughäfen warten und die gesamte Flugzeit betrug mehr als 12 Stunden. Außerdem gingen die Flüge mitten in der Nacht. Wie angenehm, diesmal nachmittags, nach nur viereinhalb Stunden zu landen.

Ich konnte es kaum erwarten, den Flieger zu verlassen. Nach dem unterkühlten Flugzeug erschien mir die entgegenschlagende Hitze auf dem Rollfeld wie eine glühende Wand, die zu durchschreiten war. Doch diese heiße und trockene Wüstenluft, die es den Pflanzen erschwerte zu wachsen und zu erblühen, erzeugte in mir genau das Gegenteil. Den ersten tiefen Atemzug gierig eingesogen, kam in mir der Eindruck auf, zu allem fähig zu sein - sogar ohne Angst diesen Bus zu besteigen, der so aussah, als würde er nicht einmal die kurze Distanz vom Flugzeug bis zum Terminal überstehen.

Heil und unbeschadet in der Ankunftshalle angekommen, mischte ich mich in das unvergleichliche Chaos, das dort herrschte. Die Halle war mit Menschen regelrecht vollgestopft, die alle scheinbar planlos durcheinanderliefen. Ich war froh, dass ich mich inzwischen auskannte und wusste, wo man das benötigte Visum erstehen konnte. Ich war einigen Touristen behilflich, die sich hinter, vor und neben mir, mit ihren Pässen in der Hand ratlos umschauten.

Endlich draußen angelangt hielt ich nach einem Taxi Ausschau und sah glücklicherweise einen Beduinen, der mir als Fahrer aus Dahab bekannt war. Ich sprach ihn an und schnell wurden wir uns über einen Fahrpreis einig.

Nachdem die Touristen, auf die er gewartet hatte, hinzugekommen waren, fuhren wir Richtung Dahab los. Kaum hatten wir das Flughafenareal verlassen, sah ich sie in der Ferne: die Berge. Schier endlos zogen sie sich durch den ganzen Sinai. Ein massiver, sich nur leicht verändernder Ruhepol, der mir sicher auch diesmal wieder etwas von seiner unendlichen Kraft abgeben würde.

Das junge deutsche Paar im Taxi war mir sehr sympathisch. Auch für sie war dies nicht der erste Urlaub im Sinai.

»Sagt mal«, fragte ich sie spontan auf halber Strecke, »habt ihr vielleicht Lust, kurz anzuhalten und eine kleine Pause einzulegen?«

»Ja, warum nicht, wir haben es nicht eilig«, erwiderte die junge Frau.

»Hast du einen Teepott und Tee dabei?« wandte ich mich an den Fahrer.

»Natürlich! Warum?«, war seine von mir erhoffte Antwort.

»Ich hab es so vermisst, unter einer Akazie zu sitzen und Tee zu trinken. Ich kann es nicht abwarten«, frohlockte ich.

Der Fahrer freute sich sichtlich über meinen Vorschlag und hielt nach einigen Minuten an einem schönen Platz mit einem großen Baum an. Wir sammelten heruntergefallenes Holz der Akazie und entzündeten ein Feuer. Der Beduine bereitete den Tee. Als er ein wenig Fladenbrot aus dem Auto holte, ging auch ich an meine Tasche und steuerte deutschen Käse bei.

»Welch ein schöner Urlaubsanfang«, sagte der Deutsche und seine Freundin und ich nickten zustimmend.

In Dahab angekommen ließ ich mich am »Fighting Kangoroo« Camp absetzen und schmunzelte wieder über das handgemalte Schild über der Eingangspforte, auf dem ein kindlich gemaltes Känguru mit Boxhandschuhen abgebildet war und lachend seine Fäuste gegen eine Palme erhob.

Schon beim Eintreten wurde ich freudig von den beduinischen Betreibern begrüßt. Glücklich, die alte Besatzung wiederzusehen, ließ ich mich gerne, noch bevor ich meine Koffer in mein Zimmer brachte, zu einer weiteren Tasse des typisch süßen Tees einladen.

Ich hatte mit den Angestellten des Camps im vorherigen Urlaub viel Zeit verbracht. Sie langweilten sich oft, wenn sie das Camp, das sich in Familienbesitz befand, beaufsichtigen mussten und ich wollte schon damals alles über Land und Leute herausfinden. Die Jungs waren noch Teenager und ebenso an meinem Leben interessiert wie ich an ihrem. Die meiste Zeit verbrachte ich damals mit Sahi, mit dem ich mich vom ersten Moment an prächtig verstand. Wir konnten über Vieles lachen und er hatte immer Lust, etwas zu unternehmen.

Ich war froh, nicht allein an den Strand gehen zu müssen. Das hatte den Vorteil, dass man nicht permanent von den ägyptischen Shopbesitzern angesprochen wurde. Alle paar Meter wollte mir jemand etwas verkaufen, mich auf einen Tee einladen oder sich mit mir die Zeit vertreiben. Auf diese Small Talks hatte ich selten Lust, vor allem, da sie den Nachteil hatten, dass jeder, mit dem man einmal geredet hatte, einen sofort als seinen Freund bezeichnete und bei jedem weiteren Standbesuch wieder in ein Gespräch verwickeln wollte. Ich bevorzugte alles in Ruhe zu genießen oder von Sahi mehr über die Beduinen zu erfahren. Die Männer in den Cafés und Shops der Promenade waren zum größten Teil Ägypter und für mein Empfinden viel zu aufdringlich. Fast schon penetrant versuchten sie, die Touristen in Gespräche zu verwickeln. Mit einem sehr üppigen Repertoire an zumeist ziemlich flachen Sprüchen versuchten sie die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden auf sich zu lenken. Die Beduinen, die nicht so zahlreich vertreten waren, gaben mir hingegen nie das Gefühl, mich in irgendeiner Art zu bedrängen.

Abends gingen Sahi und ich manchmal in die Disco. Aber nachdem er wegen mir einmal von der Polizei kontrolliert und abgeführt wurde, mochte ich dieses Risiko nicht wieder eingehen. Den Einheimischen war es verboten, mit Touristinnen auszugehen, und wir mussten immer aufpassen, nicht von den Beamten erwischt zu werden. Als sie Sahi damals abgeführt hatten, rannte ich vollkommen aufgelöst zurück ins Camp und erzählte den anderen Jungs, was geschehen war. Sie beruhigten mich; man würde Sahi nur so lange in Gewahrsam halten, bis sein Bruder ihn abholen würde. Sahis Familie hätte einen guten Draht zu der örtlichen Polizei. Tatsächlich war er am nächsten Vormittag schon wieder im Camp und erzählte mir, dass sein Bruder ihn nachts noch abgeholt hatte. Für ihn war es nichts Besonderes, als Beduine von der Polizei mitgenommen und verhört zu werden. Mich hatte der Vorfall allerdings so erschreckt, dass ich mich zukünftig lieber an Plätzen mit ihm aufhielt, wo weniger Polizei unterwegs war.

Nachts legte ich meinen Schlafsack neben seinen auf das Campdach und wir redeten oft bis die Sonne wieder aufging. Unsere Unterhaltungen waren wegen der Sprachbarrieren sehr zeitintensiv. Er brachte mir die ersten Worte Arabisch bei und ich verbesserte sein Englisch. Oftmals malte ich ihm Sachen auf, um mich verständlich zu machen, und staunte, wie schnell er lernte. In Berlin dachte ich immer gern an diese ungezwungenen und entspannten Abende mit ihm und freute mich nun, ihn wiederzusehen.

»Wo ist denn Sahi?«, fragte ich Chalid.

»Der schläft wie üblich oben auf dem Dach, faul wie immer«, entgegnete der Teenager lachend. »Wenn du ihn nicht weckst, schläft er sicher noch ein paar Stunden.«

Chalid trug mir meine Koffer in mein altes Zimmer und ich ging den gewohnten Weg zur Dachterrasse, die noch vor ein paar Monaten mein bevorzugtes Nachtlager gewesen war.

Mich leise an Sahi anschleichend, verweilte ich einen Moment an der Brüstung und war beruhigt, die Aussicht noch immer so atemberaubend wie damals vorzufinden. Ein weitläufiger, dunkelgrüner Teppich, aus sich im Wind schwenkenden Palmen, ging über in das kräftige Blau des Meeres und bildete einen malerischen Kontrast zu den Bergen von Saudi Arabien im Hintergrund.

»Hey, kleiner Bruder, ich bin wieder da«, flüsterte ich leise auf Arabisch und rüttelte den tief Schlafenden sachte an der Schulter.

»Tayeb, tayeb!«, gut, gut!, knurrte Sahi und drehte sich mürrisch weg.

Eine Sekunde später warf er sich blitzartig wieder herum und schaute mich ungläubig aus verschlafenen Augen an.

»Ya marhaba!«, herzlich willkommen!, begrüßte er mich, indem er die Worte extrem in die Länge zog und damit sein Staunen und seine Freude gleichermaßen zum Ausdruck brachte.

»Wie geht es dir?«, fragte er mich.

»Gut! Ich bin unendlich froh, wieder hier zu sein. Wie geht es dir?«

»Müde«, entgegnete er und unterstrich das Ganze mit einem ungenierten Gähnen.

»Ja, so kenne ich dich«, sagte ich fröhlich und freute mich schon, mit ihm noch heute oder morgen zu seiner Familie ins Dorf zu gehen, was er mir beim letzten Mal versprochen hatte.

Bei seinem kargen Frühstück aus Tee und Fladenbrot um vier Uhr nachmittags leistete ich ihm Gesellschaft. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit gemacht hatte und gab ihm den Walkman, den ich für ihn mitgebracht hatte. Leider hatte Sahi keine Lust ins Dorf zu gehen und vertröstete mich auf morgen. Doch auch am nächsten Tag schlief er morgens sehr lang, mittags wieder und verschob unseren Ausflug erneut um einen ganzen Tag.

Er hatte sich verändert und war nicht mehr der witzige, lebenslustige Typ, mit dem ich im letzten Urlaub so viel Spaß gehabt hatte. Am dritten Tag ließ er sich doch noch überreden und wir zogen los.

Zuerst liefen wir etwa zwei Kilometer am Strand entlang. An einem herrlichen, großen Palmengarten, der seiner Familie gehörte, bogen wir ins Dorf ab. Sofort hefteten sich ein paar Kinder an unsere Fersen und bestürmten Sahi mit Fragen, die zum größten Teil mich betrafen. Bei seinem Elternhaus angekommen, liefen die Kinder zuerst in den Vorhof und riefen immer wieder: »Eine Ausländerin ist da, eine Ausländerin ist da!«

Als ich hinter Sahi auf den Hof kam, erhoben sich alle und gaben mir mit kurzer Begrüßungsfloskel die Hand. Die Familie war diesen Nachmittag vertreten durch zwei seiner Schwestern und deren Töchter. Dazu kamen ein paar Freundinnen aus der Nachbarschaft. Sahi sagte mir, die Mädchen würden mich sicher gut unterhalten und verschwand einfach, bevor ich etwas darauf erwidern konnte. Recht unsicher und verwirrt blieb ich inmitten der Frauen stehen. Doch die bildhübschen Teenagerinnen verwickelten mich schnell und ungezwungen in ein Gespräch und wir hatten keinen Moment einer peinlichen Situation des gegenseitigen Anschweigens. Je nachdem, wie es einfacher war, sich auszudrücken, redeten wir Arabisch und Englisch durcheinander. Die älteste Tochter des Hauses, Solima, sprach gut Englisch und übersetzte für die älteren Frauen, die keine Schule besucht hatten. Wenn ich Arabisch sprach, amüsierten sich die Beduininnen köstlich über meine Aussprache, denn ich schaffte es nie, das »r« zu rollen, was sich für sie wohl sehr spaßig anhörte. Mein Professor auf der Universität hatte sich redlich bemüht, es mir beizubringen, doch nach zehn vollen Minuten gab er entnervt auf und behauptete, ich wolle es vielleicht einfach nicht lernen. Das war natürlich Unsinn, aber wenn ich versuchte, meine Zunge vibrieren zu lassen, kam da immer nur ein »zsss« oder »drrr« heraus.

Sahis Mutter war eine schon damals sehr alt wirkende Frau, mit markanten Falten, die sich vertieften, wenn unsere Blicke sich trafen, da sie mir bei jedem Blickkontakt ein herzliches Lächeln schenkte. Die Gesichter der älteren, verheirateten Frauen waren bis über die Nase mit einem Tuch bedeckt, und ich sah nur ihre Augen, die durch die schwarze Verschleierung, die wie ein Rahmen wirkte, eine erhöhte Ausdruckskraft bekamen. Beim Zuhören ließ ich den Ort auf mich wirken. Das einfach gemauerte und verputzte Haus von Sahis großer Schwester, Aida, bestand aus zwei aneinander gebauten Zimmern. Die Farbe an der Fassade war schon lange nicht erneuert worden. Kinderhände und der ewige Staub hatten dunkle Spuren hinterlassen und an einigen Ecken war der Putz abgebröckelt. Die Türen waren aus einfachem Holz und weder passten die Rahmen in das Mauerwerk noch die Türen exakt in den Rahmen.

›Auf deutsche Wertarbeit scheint hier niemand Gewicht zu legen‹, flüsterte mir die Ästhetik zu.

Ein Bretterverschlag, der etwas abseits stand und nur mit Palmwedeln abgedeckt war, diente als Küche.

Am schönsten war der Vorhof, in dem wir saßen; sehr geräumig und von einigen riesigen Dattelpalmen dominiert, die gerade herrlichen Schatten spendeten. In einer Ecke war neben den Palmen ein wackeliger Zaun gezogen, hinter dem ein kleiner Garten angelegt war. Es war ein bescheidener Wohnort, der jedoch sehr gut durchdacht zu sein schien. Solima, Sahis Nichte, führte mich zwischendurch herum und erläuterte mir dessen Vorzüge. Es gab einen abgegrenzten Platz um die Ecke, an dem die Männer saßen. So konnten sich die Frauen, wenn sie sich trafen, unbeobachtet fühlen. Direkt nebenan, nur durch eine kleine, leicht zu übersteigende Mauer und die zwei Zimmer getrennt, war das Grundstück der anderen Schwester, das in etwa dieselbe Anordnung hatte, nur dass ihre Küche gemauert war. Nach der Besichtigungstour saß ich mit den Frauen und Mädchen auf kleinen Teppichen, die sie schon bei meiner Ankunft ausgebreitet hatten, um eine große, runde Feuerstelle herum, und noch bevor ich mein Teeglas ausgetrunken hatte, bekam ich von einem der Mädchen nachgeschenkt.

Mir fiel auf, dass es immer mehr Kinder wurden, die sich zu uns setzten. Es hatte sich scheinbar herumgesprochen, dass eine Ausländerin zu Besuch war und neugierig wurde ich von ihren fast schwarzen Augen begutachtet. Sie tuschelten und kicherten und zogen wieder ab. Neue kamen. Oder waren die vorher schon mal da gewesen? Ich verlor den Überblick. Es gab sehr viele Kinder hier, stellte ich verzückt fest. Jedes Mal, wenn sie die Hoftür öffneten, versuchten die Ziegen der Familie, sich mit Vehemenz mit durch die Tür zu quetschen. Beim Hinauslaufen ließen die Kinder die Tür oftmals offen und so war eines der größeren Mädchen gezwungen, alle paar Minuten aufzustehen, um die Tiere wieder nach draußen zu scheuchen. Das war offensichtlich gar nicht so einfach, denn die Ziegen wussten sehr wohl, wo es sich besser leben ließ und das Futter zu finden war. Sie versuchten überall hin zu entkommen, nur nicht zur Tür hinaus. Manchmal mussten ein oder zwei andere Mädchen helfen, um sie endlich doch noch nach draußen zu treiben. Die Situation schien für die Bewohner vollkommen normal zu sein. Keiner schimpfte mit den Kindern oder regte sich über die Ziegen auf.

Gerade kam Sabiha, die ich vom Strand her kannte. Sie hatte mich dort schon des Öfteren beim Backgammon besiegt und damit einige Flaschen Limonade gewonnen. Ihr stets geforderter Gewinn, bevor sie mit Feuereifer zu würfeln begann. Verlor sie, so bekam ich ein Armband, das sie vor meinen Augen mit schnellen, flinken und geübten Handbewegungen aus buntem Stickgarn fertigte. Ich hatte mittlerweile schon eine beachtliche Sammlung dieser Bänder. Ich kaufte den Mädchen gerne hin und wieder welche ab, da ich wusste, dass sie mit dieser Arbeit ihre Mütter unterstützten. Sabiha war fast täglich am Strand und verkaufte diese Bänder, daher sprach sie recht gut englisch und war mir oft eine wertvolle Dolmetscherin.

Kurz vor Sonnenuntergang bereitete Solima Brotteig aus Weizenschrotmehl, Salz und Wasser, während ihre Mutter ein großes Feuer errichtete und entzündete. Der fertige Teig wurde in etwa zehn gleichgroße Fladen geteilt und dann mit einem Rundholz ausgebreitet. Sehr gekonnt warf Solima diese dann von einer Hand in die andere, bis sie sich auf einen Durchmesser von etwa einem halben Meter auseinandergezogen hatten und hauchdünn waren. Die Mutter hatte inzwischen ein gewölbtes Eisenblech über das Feuer gelegt, auf dem die Fladen nun gebacken wurden. Das erste, schön geröstete und noch heiße Stück bekam ich und ergötzte mich sowohl am Geruch als auch am Geschmack des herrlich frischen Brotes. Dazu wurde eine große Schüssel Datteln, die sehr süß und saftig waren, vor mich gestellt, dass mein Gaumen sich mehr als geschmeichelt fühlte.

Früher hatte ich mir, wohl von Vorurteilen geprägt, die muslimischen Frauen grau und unscheinbar vorgestellt. Dieser Nachmittag belehrte mich eines Besseren. Die Beduininnen waren unter ihren schwarzen Umhängen kunterbunt gekleidet und fröhlicher, als ich je eine Runde Frauen erlebt hatte. Sie lachten, redeten und scherzten ununterbrochen und ihre hübschen dunklen Augen versprühten Freude und Lebendigkeit. Als wir auf die Familienzugehörigkeit zu sprechen kamen, stellte sich heraus, dass viele der Mädchen, die sich inzwischen eingefunden hatten, verwandt miteinander waren.

Diese zufriedene Großfamilie beschäftigte meine Gedanken und weckte Sehnsüchte in mir, die tief verborgen trügerisch geruht hatten: Ich erinnerte mich an die Zusammenkünfte bei meiner Großmutter, bei denen alle meine Tanten mit ihren Kindern kamen. Ich hatte mich immer schon Wochen vorher auf diese Tage gefreut. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, gab gutes Essen, nachmittags Kuchen und wir Kinder hatten eine aufregende, zufriedene Zeit. Nachdem ich von Zuhause weggegangen war, wurden die Treffen weniger, meine Großmutter erkrankte und der Familienzusammenhalt löste sich allmählich auf. Mir wurde an diesem Tag bei der Familie bewusst, wie sehr ich im Inneren solch ein fröhliches Beisammensein vermisste. Familie war für mich sehr wichtig. Dies war letztendlich auch der entscheidende Grund, warum ich mit Klaus nicht wirklich glücklich werden konnte. In allen anderen Belangen war er fantastisch. Wir hatten sehr gehaltvolle Gespräche, nie Streit und unsere Beziehung war durchweg positiv geprägt. Uns beiden war es wichtig, den anderen aufzubauen, zu stärken und glücklich zu machen. Aber ich suchte mehr. Ich wollte meine eigene Familie gründen, in der die natürliche Geborgenheit, die man dort erfahren kann, ganz groß geschrieben stehen würde. Deutschland entwickelte sich immer mehr weg vom typischen Familiensystem. Der Individualismus war hoch im Kurs und die Menschen hatten mehr und mehr Lebensabschnittsgefährten als einen Partner, lieber etwas Unverbindliches. Verantwortung schreckte ab und immer mehr Kindern wurde durch die Trennung ihrer Eltern das Urvertrauen geschmälert. Ich sehnte mich nach der konventionellen Art von Beziehungen, wo man, vor allem wenn Kinder vorhanden waren, durch gute und auch schlechte Zeiten gehen und gemeinsam alle Hürden überwinden würde. Nachdem was ich in all den Jahren zuvor gesehen und selbst erlebt hatte, empfand ich mich manchmal als sehr romantisch - aber es war nun einmal mein Traum. Das Resultat aus einer Kindheit, die mit einem Stiefvater geprägt war, den ich verabscheute und der mir immer zu verstehen gab, dass ich eigentlich nur störte. Er war ein Mann, der uns hart arbeiten ließ und brutal schlug, wenn wir seine Befehle und Aufträge nicht sofort erledigten.

Ich wollte gerne Kinder, aber musste dazu erst einmal einen Mann finden, der das Herz am rechten Fleck hatte, vor allem verantwortungsbewusst war, selber Kinder wollte und mich liebte. Viele Ansprüche? Vielleicht. Meine Hoffnung war noch wohl auf und pfiff bei diesem herrlichen Anblick einer, wie mir schien intakten Familie, fröhliche Melodien.

Bei Sonnenuntergang tauchte Sahi so plötzlich, wie er verschwunden war, wieder auf und wir gingen zurück ins Camp.

Nach einer Woche in Dahab hatte ich genug vom Strandleben. Mittlerweile kannten mich zu viele Ägypter vom Sehen her und ich konnte keine fünfzig Schritte auf der Promenade wandeln, ohne angesprochen zu werden. Wenn ich baden ging, fühlte ich die Blicke der Männer in meinem Rücken.

Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer mit der Anmache am Strand. Die wenigen Beduinen, die man sah, hatten hingegen eine sehr angenehme, zurückhaltende Art.

Sahi hatte leider keine Lust mit mir noch einmal ins Dorf zu gehen. Ich hätte gern noch einen Nachmittag dort verbracht, war aber zu unsicher, um allein zu gehen.

Ich sehnte mich nach der Wüste und weniger Trubel am Strand.

Am nächsten Morgen beim Frühstück dachte ich an einige Szenen aus meinem ersten Urlaub in Ägypten, als ich mit Klaus, Helge und Sabine in dieses wunderschöne Land gereist war.

Wir saßen gerade in Marsa Matruh in einem Restaurant und aßen frischen Fisch, als uns ein Mann in perfektem Englisch ansprach. Wir baten ihn, sich doch zu uns zu setzen und er erzählte uns, er käme ursprünglich aus dem Irak und wäre Vertreter für Wasseranlagen. Durch seinen Beruf bedingt musste er viel in Ägypten umherfahren und langweilte sich meist auf den Fahrten, was bei ihm schnell zu Anfällen von starker Müdigkeit führte.

›Das wundert mich bei dieser extremen Hitze nicht‹, sprach mein Körperempfinden.

Es stellte sich heraus, dass wir für den nächsten Tag das gleiche Reiseziel hatten und so bot uns der freundliche Iraker kurzerhand an, uns nach Siwa mitzunehmen.

Dort angekommen lud er uns zum Essen ein und sagte, er würde in drei Tagen zurück nach Alexandria und dann nach Kairo fahren. Gerne würde er uns wieder mitnehmen. Da die Fahrt mit ihm sehr unterhaltsam war und noch dazu kostenlos, waren wir dankbar und verstauten drei Tage später unsere Taschen wieder in seinem alten Mercedes. Siwa hatte uns mit seinen alten zerfallenen Lehmhäusern und dem grünen Teppich aus tausenden von Dattelpalmen sehr gut gefallen.

Yahya kannte Ägypten sehr gut und hatte immer viel zu berichten, auch über sein Land, den Irak, der zu dieser Zeit im zweiten Golfkrieg steckte. Dort hatte er sich dem Wehrdienst verweigert und musste nun mit einer langen Gefängnisstrafe rechnen, sollte er je in sein Land zurückkehren. Er vermisste seine Familie dort sehr, denn er war sich bewusst, sie vielleicht für eine unvorstellbar lange Zeit nicht wiederzusehen. Man merkte ihm an, wie sehr er darunter litt. Wenn er erzählte, konnte man die Sehnsucht fast greifen, so stark stand sie im Raum. Wie schon auf der ersten Strecke hatte Yahya einiges an Proviant dabei. Von allem sollten wir probieren und wann immer es eine Möglichkeit an der Straße gab, etwas Neues zu besorgen, brachte er weitere Leckereien, kleine Kuchen, arabische Süßigkeiten und allerlei Obst und Getränke. Wenn wir irgendwo anhielten, zahlte er die gesamte Rechnung. Hin und wieder nahm er auch etwas von unserem Proviant an, lehnte es aber strikt ab, dass wir unterwegs in Restaurants die Rechnung beglichen.

Kurz vor dem Suezkanal stoppten wir an einem kleinen Imbiss an der Straße und bestellten alle wohlriechende Fleischspieße, die gerade frisch gegrillt wurden. Da wir ihn endlich auch mal einladen wollten, sagte ich Klaus während des Essens, er solle doch schnell zahlen gehen, sonst käme uns Yahya sicher wieder zuvor. Das tat Klaus dann auch. Eine fatale Idee, denn nach dem Essen ging unser irakischer Freund wie gewohnt nach vorne, um zu zahlen. Wutentbrannt kam er eine Minute später zurück an unseren Tisch und verlangte lautstark, dass wir unsere Taschen aus seinem Auto nehmen sollten. So wie wir hätte noch niemand zuvor seine Gastfreundschaft beleidigt. Wir wussten gar nicht, wie uns geschah und versuchten den guten Mann zu beruhigen. Doch schon ging er mit schnellen, energischen Schritten zum Auto, öffnete verärgert den Kofferraum und warf unsere Taschen sehr unsanft auf den Boden. Dann setzte er sich ans Steuer und startete den Motor. Ich war schon seit je her sehr harmoniebedürftig, von daher recht diplomatisch und ging schnell an sein geöffnetes Fenster. Nach kurzer Diskussion gelang es mir tatsächlich, ihn zu beruhigen. Ich gab ihm zu verstehen, dass auch wir nur handelten, wie es uns beigebracht worden war und dass auch wir gewisse Traditionen hegten, zu denen es zählt, sich nicht ausschließlich aushalten zu lassen. Er wurde jedoch erst ruhiger, als ich ihm zu verstehen gab, von unseren Eltern so erzogen worden zu sein. Allerdings verlangte er eine Entschuldigung und das Versprechen, ihn nicht noch einmal so zu beleidigen. Fast augenblicklich war er wieder gut gelaunt wie zuvor und wir setzten unsere Reise mit ihm fort.

Am Suezkanal angelangt bestaunten wir die skurrile Aussicht auf Schiffe, die durch die Wüste zu schweben schienen. Der Kanal war tiefer gelegt und aus einiger Entfernung sah man nichts als Sandhügel, durch die sich riesige Frachter bewegten - wie die laufenden Hasen auf einem Schießstand im Vergnügungspark. Wir hatten uns geeinigt, nicht den Tunnel, sondern die Fähre zu benutzen, und ich war etwas enttäuscht, wie unspektakulär und klein der Kanal war. Den erwarteten Palmensaum wie an Flüssen gab es nicht. Das Wasser war überall an den Ufern befestigt und gab dem Wüstenboden nichts von seinem kostbaren Nass ab. Die Überfahrt dauerte nur einige Minuten, schon saßen wir wieder im Auto und setzten unsere Reise fort. Als wir Yahya zwischendurch mitteilten, dass wir doch nicht mehr so gern nach Kairo, sondern direkt in den Sinai wollten, änderte auch er uns zuliebe seine Reiseroute. Zwar hatte uns Dahab als nächstes Reiseziel vorgeschwebt, aber Yahya schlug uns einen seiner Meinung nach weitaus schöneren Ort vor und setzte uns 70 km nördlich, in Nuweiba ab. Ein letztes Mal lud er uns am späten Abend zu einem opulenten Essen ein und verabschiedete sich. Natürlich durfte er wieder die Rechnung begleichen.

›Von so viel Gastfreundschaft könnten sich deine Landsleute mal ein Scheibchen abschneiden‹, flüsterte mir der Verstand zu.

Ich sah Yahya leider nie wieder.

Doch der Exiliraker hatte nicht zu viel versprochen. Nuweiba war ein bezaubernder, verschlafener Küstenort, der laut Reiseführer, 1971 von den Israelis als Moschaw Neviot gegründet worden war. Im Hintergrund die leuchtend rot schimmernden Berge, vor uns das türkisblaue Meer, Sand, Palmen und wenig Betrieb - endlich genau der Urlaub, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Wir bezogen eine Bambushütte und duschten erst einmal, in dem wir uns mehrere Male mit einer alten Dose Wasser aus einem großen Tank über den Kopf gossen. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Es war sehr einfach, aber zutiefst idyllisch.

›Lieber Ruhe als Luxus‹, empfand die Sensibilität, die von der Atmosphäre, die der Ort ausstrahlte, sofort angetan war.

Alles schien sehr ursprünglich und auf das Wesentliche beschränkt zu sein. In der Hütte lagen zwei dünne Schaumstoffmatratzen auf der Erde, die mit sauberen Laken bezogen waren. Am Kopfende ein Kissen und am Fußende eine ordentlich zusammengefaltete Wolldecke. Zwischen den Matratzen stand ein kleiner runder Tisch, auf dem sich ein Windlicht befand, das aus einer abgeschnittenen Plastikflasche gefertigt war und eine halb verbrannte Kerze enthielt; darum waren viele schöne Muscheln drapiert. Statt eines Schrankes gab es nur eine Leine, die sich an einer Wand entlang zog. An der anderen Seite befand sich eine Leiste mit Nägeln. Unter einem Vordach standen zwei einfache Stühle aus Holz. Von dort hatten wir freien Blick zum Meer, das nur einen Steinwurf entfernt zum Baden einlud. Am Strand war niemand.

›Entspannung pur‹, freute sich mein Gemüt.

Am nächsten Morgen war ich extra früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen. Es hatte sich gelohnt. Die prächtige Veränderung der Farben und das sehr schnelle Emporklettern der Sonne über die Berge, waren Momente, die sich tief in meine Seele brannten. Kein Mensch außer mir war am Strand und ich hatte das Gefühl, die Sonne würde einzig für mich allein dieses Schauspiel aufführen.

Nach dem Frühstück sonderte ich mich von den anderen ab, um mir ein wenig die Gegend anzusehen. In einiger Entfernung erblickte ich eine Gruppe kleinerer Kinder, die Kamele, mehrere Ziegen, Schafe und einen sehr störrischen Esel an einem großen Wasserbassin tränkten. Erst beobachtete ich das mir dargebotene Schauspiel ein wenig, ging dann näher und holte eine Tüte Bonbons aus meiner Tasche. Sofort von den Kindern umringt, prasselten massenhaft Fragen auf mich ein, die ich damals leider nicht verstand. Die Bonbontüte sprach jedoch für sich und war im Nu leer. Ein kleines Mädchen nahm mich an die Hand und zog mich einfach mit sich.

»Mama tea, Mama tea«, rief sie bittend und zeigte auf das nahe gelegene Dorf. Neugierig wie ich war, ließ ich mich gerne von ihr entführen. Die gesamte Kinderschar folgte uns. Ziegen, Schafe und Kamele ebenfalls. Immer wieder fragten mich die Kinder etwas, worauf ich nur verhalten lächelnd die Schultern zucken konnte. Das Einzige, das ich verstand, war die Bitte um Stifte. Ich hatte einen in meinem Rucksack und gab ihn dem Jungen, der gefragt hatte. Sofort stritten sie sich um das einfache Ding und ich wünschte, ich hätte ihn in der Tasche gelassen. Je näher wir dem Dorf kamen, desto mehr vermischte sich der Kies mit Ziegenkot. Auch die Anzahl der Fliegen nahm mit jedem Meter zu. Sie setzten sich bevorzugt in meine Mundwinkel, was mich ziemlich ekelte, da meine Vorstellung mir Bilder schickte, wo diese Biester eventuell vorher gesessen hatten. Die Kleine ließ mich plötzlich los und kletterte flink auf einen Stein, der neben einem aus alten Brettern zusammengezimmerten Holztor stand und entriegelte die von innen verschlossene Tür. Der mit groben Blocksteinen eingefasste Hof, auf den sie mich führte, war wohl ein beliebter Treffpunkt. Um ein Feuer, in dem ein großes Stück eines Baumstammes glühte, saßen und lagen fünf Männer unterschiedlichen Alters. Sie alle trugen lange, weiße Gewänder. Als Kopfbedeckung dienten die typischen weißen oder rot-weiß karierten Tücher, die von einem schwarzen Doppelring gehalten wurden. Drei Frauen und ein paar Mädchen saßen ein paar Schritte entfernt. Als ich eintrat, standen die Frauen auf und gaben mir freundlich lächelnd die Hand. Die Männer bemühten sich nicht, erhoben nur eine Hand zum Gruß und warfen mir arabische Worte entgegen, die ich als Begrüßungsfloskeln interpretierte. Ein Teppich wurde ausgebreitet und man lud mich ein, bei den Frauen Platz zu nehmen. Kaum saß ich auf dem Boden, hatte ich ein Glas Tee in der Hand und verbrühte mir die Lippen.

›Haben sie den Tee in den Zucker geschüttet?‹, fragte mich mein Geschmack.

Dass arabischer Tee sehr süß getrunken wird, wusste ich ja nun schon, aber dieser hier war pures Zuckerwasser mit Teearoma.

›Ich sehe die Karies förmlich wachsen‹, gab auch die Vernunft ihren Senf dazu.

Einer der Männer lachte gerade mit weit offenem Mund und entblößte eine Reihe sehr brauner Zähne.

Die Ironie riet mir: ›Vielleicht solltest du nächstes Mal statt Bonbons und Kugelschreiber auch Zahnbürsten mitnehmen.‹

Verschiedene Versuche der Frauen, sich mit mir zu verständigen, blieben ohne Erfolg und ich nahm mir an diesem ersten Tag bei den Beduinen fest vor, arabisch zu lernen. Der Klang der beduinischen Sprache war sehr melodisch, erschallte wie Musik in meinen Ohren und ich wollte zu gern wissen, was mir die Menschen hier erzählen konnten. Es war sehr eindrucksvoll für mich, einen so unverfälschten Einblick in das Leben der Beduinen zu bekommen, aber dass ich nicht in der Lage war, mich mit ihnen zu unterhalten, bereitete mir Unbehagen. So beobachtete ich für eine Weile die mir präsentierten Alltagsszenen. Hinter den Frauen spielten zwei kleine Jungen ohne Hosen im Kies und steckten alles in den Mund, was sie mit ihren Patschehändchen ergreifen konnten. Ihre Gesichter waren verschmiert und um den Mund herum klebten kleine Kiesel. Bei jeder ihrer Bewegungen flogen zahlreiche Fliegen auf, nur um sich Sekunden später wieder in ihre kleinen süßen Gesichter zu setzen. Die Jungen schienen sich daran gewöhnt zu haben und beachteten sie nicht. Die Mütter zeigten denselben Gleichmut. Zwei Männer erhoben sich und verschwanden grußlos. Das Mädchen, das mich hergeführt hatte, bat ihre Mutter um etwas. Die Mutter beachtete sie nicht. Das Mädchen wurde lauter und fordernder, doch die Mutter unterhielt sich weiter mit einer anderen Frau, ohne das Mädchen auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Es begann an der Kleidung ihre Mutter zu zerren und bettelte nun regelrecht. Auf einmal herrschte die Mutter ihre Tochter in lautem Ton an und schubste sie ziemlich barsch auf den Kiesboden. Jetzt fing die Kleine an zu heulen und versuchte, ihren Willen mit verweinten, Mitleid erzeugenden Blicken durchzusetzen und fragte abermals. Während die Mutter weiter mit der anderen Frau redete, zog sie ein Portemonnaie aus dem Dekolleté und gab ihrer Tochter einen Geldschein. Diese wischte sich schnell mit ihrem Hemdärmel den Rotz aus dem Gesicht, lachte und rannte nach draußen. Einige Minuten später kam sie mit einer Packung Keksen zurück. Jetzt wunderte mich die Eindringlichkeit des Mädchens nicht mehr. Ihre Beharrlichkeit hatte sich in diesem Fall gelohnt. Ohne Aufforderung gab sie mir und den Jungen etwas ab - den Fliegen sah man die Partystimmung an.

Mit Zeichensprache versuchte ich, den Frauen nach dem dritten Glas Tee klarzumachen, dass ich nun zurück musste, und ebenso gestikulierend entgegneten sie, dass ich wiederkommen sollte. Es schien für diese Familie ganz und gar normal zu sein, mich als völlig Fremde in ihr Haus einzuladen, und ich fragte mich, ob mir so etwas jemals in Deutschland passieren könnte - höchst unwahrscheinlich.

Wieder im Camp trieb uns mittags der Hunger in ein kleines Restaurant am Strand. Dort setzten wir uns an einen der drei niedrigen Tische, die auf Teppichen standen. Unter den bunten Flickenteppichen befanden sich Matratzen und Palmstämme, die als Rückenlehne dienten. Die großzügig verteilten, farbenfrohen Kissen luden zur Gemütlichkeit ein. Am Nachbartisch schlief ein Beduine mit einem über sein Gesicht ausgebreiteten Kopftuch. Ich machte es mir zwischen den vielen Kissen auf dem Boden bequem. Ein Sudanese begrüßte uns ausgesprochen freundlich und empfahl ein beduinisches Gericht mit Huhn. Das Huhn wurde mit Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln Zucchini und einigen Gewürzen in Aluminium im Feuer bereitet und schmeckte hervorragend. Besser hätte ich in Berlin in einem der teuersten Restaurants nicht essen können. Nach dem opulenten Mittagstisch rauchten wir gemeinsam mit dem Sudanesen eine Shisha, eine arabische Wasserpfeife, und genossen die bequeme Art, sich auf dem Boden zu lümmeln.

»Welcome, welcome!«, tönte es plötzlich neben uns. Ein hochgewachsener Beduine, in strahlend weißem Gewand, mit einer dick gefütterten Weste, sprang leichtfüßig über die Kissen und setzte sich ohne Aufforderung zu uns.

›Wie kann dieser Mensch bei 45 Grad im Schatten eine mit Fell gefütterte Weste tragen?‹, fragte sich mein Verständnis.

›Frag ihn doch!‹, konterte der Wissensdrang, aber der gut gelaunte Beduine gab mir keine Gelegenheit dazu.

»Woher kommt ihr?«, fragte er frei heraus.

»Aus Deutschland.«

»Ahhh, deutsche Leute mag ich sehr gerne«, sagte er auf Englisch. Und mit »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Alles Scheiße heute und dem Lied, Alle Vögel sind schon da ...«, präsentierte er uns seine Deutschkünste in einer bemerkenswerten Schnelligkeit und Auswahl. Er selbst lachte am lautesten über sein Repertoire.

»Wenn ihr wollt, kommt später zu der großen Hütte dort drüben«, fuhr er fort und zeigte auf einen verfallenen Wellblechschuppen.

»Da treffe ich mich am Abend mit meinen anderen Freunden. Die sind wirklich nett. Ich heiße übrigens Soliman, und Ihr?«

Während er wieder aufstand, stellten wir uns alle vor. Theatralisch schüttelte er jedem mit einer überschwänglichen Verbeugung die Hand. Daraufhin ging er, ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war, drehte sich im Gehen noch einmal kurz um und rief, bevor er zwischen den Palmen verschwand: »Ich erwarte euch!«

Da wir keine anderen Pläne hatten, schlenderten wir nach Sonnenuntergang an den beschriebenen Platz. Wir klopften und wurden eingelassen. Schon an der Tür schlug mir ein süßlicher Geruch in die Nase. Mich umschauend ahnte ich, woher der Duft kam. Um einen alten Eisentisch herum saßen ein paar Beduinen und einige israelische Touristen, die ein riesiges Schillum, eine indische Haschischpfeife, rauchten. Wir waren junge, experimentierfreudige Studenten und so nahmen auch wir, nachdem wir zwischen den anderen Platz genommen hatten, die Pfeife entgegen und ich inhalierte den Rauch wohl etwas zu reichhaltig. Ein heftiger Hustenanfall war das Resultat, während sich für kurze Zeit alles um mich herum drehte. Als mein Gleichgewichtssinn sich wieder eingependelt hatte, erreichte ich nach kurzer Zeit einen Zustand absoluter Freude und Gelassenheit. Ein breites Grinsen setzte sich in meinem Gesicht fest und verblieb dort den Rest des Abends. Unser Gastgeber nahm ein Leinensäckchen aus seiner Innentasche und ich traute meinen Augen nicht. Zum Vorschein kam ein riesiges Stück Haschisch, von der Größe und Form einer Tafel Schokolade, nur doppelt so dick. Es hatte einen in Rot aufgedruckten libanesischen Stempel mit dem Symbol der Zeder. Er brach es in vier Teile. Nachdem er etwa drei Viertel wieder in seiner Westentasche verstaut hatte, nahm er das abgebrochene Viertel zwischen seine Handballen, zerdrückte das Stück und ließ es auf den Tisch rieseln. Das zu Bröseln zerfallene Haschisch schüttete er in eine große Tasse und fügte den Tabak einer ganzen Schachtel Zigaretten hinzu. Dann stopfte er wieder und wieder die Pfeife und drehte einen Joint nach dem anderen. Kleine, dicke, dünne, sogar einen, der wie eine Mistgabel aussah und drei Tüten auf einmal beinhaltete. Das Drehen von Joints schien sein liebstes Hobby zu sein, er war geradezu ein Perfektionist auf diesem Gebiet. Wir rauchten wörtlich bis zum Umfallen. Denn nach circa einer Stunde kippte der erste Israeli einfach nach hinten über, Gott sei Dank auf eine Matratze und schlief an Ort und Stelle ein. Unser Gastgeber legte ihm, mit einem Grinsen, das mich an die Katze aus »Alice im Wunderland« erinnerte, eine Decke über und fuhr fort, uns zu unterhalten.

Mein Freund und ich erwachten in unserer Hütte. Ich hatte nur noch eine schemenhafte Erinnerung, wie wir inmitten der Nacht zurückgeschlendert waren. Noch am Morgen fühlte ich mich wie in Watte gepackt und nach der ersten Zigarette hatte ich das Gefühl, erneut vollkommen benebelt zu sein. Ich musste dringend ins Wasser. Wir wollten den Tag mit der Literatur unserer Semesterarbeiten am Strand verbringen und schnorcheln gehen. Das Equipment dafür gab es günstig bei dem Sudanesen im Restaurant zu leihen.

Man musste beachtlich weit hinaus laufen, um in tiefes Wasser zu gelangen, aber es war den langen Weg mehr als wert. Kaum hatte ich die Taucherbrille aufgezogen und war über die Riffkante abgetaucht, wurde ich regelrecht erschlagen von der Fülle der Meeresbewohner und schimmernden Farbvielfalt unter Wasser: Korallen in allen Größen und Formen, Schwämme und Muscheln, die sich sofort schlossen, sobald ich ihnen zu nah kam und Unmengen verschiedener Fische, wohin ich auch blickte. Das Wasser war tiefblau und glasklar. Ich hatte schon gehört, dass das Rote Meer ein Tauchparadies sein sollte, doch so schön hatte ich es mir im Traum nicht vorstellen können.

Die überwältigende Unterwasserwelt zog mich völlig in ihren Bann und ich merkte erst an meinen brennenden Schultern, dass ich schon viel zu lang schwamm und staunte. Das Gefühl, eine ganz neue Welt zu entdecken, stieg in mir empor. Dazu kam die himmlische Ruhe unter Wasser.

›I want to be - under the sea‹, sang mein Gemüt fröhlich.

Am Abend trafen wir wieder den Meister des Jointdrehens, der uns erneut in seine Wellblechhütte einlud. Doch wir waren uns einig, dass wir nicht noch einmal solch einen Abend überleben würden, und lehnten dankend ab. Wir trafen am blauen Bus andere Beduinen und einige Touristen, die sich um ein Feuer versammelt hatten. Der Beduine, dem dieser Platz gehörte, hatte sich eine Küche in einen alten Bus gebaut, ihn blau angemalt und bewirtete davor auf den typischen Sitzgelegenheiten am Boden seine Touristen. Die Beduinen erzählten einiges über ihr Leben und die Touristen über Erlebnisse von hier und aus fernen Ländern, die sie bereist hatten.

Wir saßen nun unsere restlichen verbleibenden Tage am Abend dort.

›Hier erfährst du weit mehr über die zeitgenössische Welt dort draußen als in deiner gesamten Schulzeit‹, stellte die Erkenntnis fest.

Das Frühstück war beendet und ich entschied, nach Nuweiba aufzubrechen. Sahi war etwas traurig, aber ich wollte mehr über die Beduinen erfahren und das ging in Nuweiba besser.

Dort war es noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich bezog eine kleine Hütte am Strand und stürzte mich ins Meer, das mich immer stärker in seinen Bann zog. Stundenlang schwamm ich an dem Riff entlang und entdeckte immer wieder neue Fische und Korallen. Ein kleines Paradies unter der Oberfläche. Am Strand konnte man sich frei bewegen, ohne unangenehm angesprochen oder beobachtet zu werden. Sowohl die Einheimischen als auch die Touristen waren erfrischend freundlich zueinander. Man lächelte sich an und sprach mit jedem, den man traf, ein paar Worte. Abends saß ich mit den Beduinen und den anderen Urlaubern am Feuer und trank mehr Tee als in Berlin über das ganze Jahr verteilt. Wenn ich müde wurde, nahm ich meinen Schlafsack und legte mich zum Schlafen an den Strand. Einige Beduinen taten das auch und hatten mir versichert, hier absolut sicher zu sein, sie würden schon auf mich acht geben. Wo konnte man dies noch als alleinreisende Frau?

Morgens erwachte ich von dem Geräusch der Wellen und der aufgehenden Sonne. Das Schlafen im Sand war zwar hart, aber wie Balsam für meinen immer wieder schmerzenden Rücken. Gleich am zweiten Tag traf ich vor meiner Hütte die Kleine wieder, die mich damals mit ins Dorf genommen hatte und ließ mich gerne wieder von ihr an die Hand nehmen und zu ihrer Familie führen - nicht ohne eine eigens für diesen Ausflug mitgebrachte Tasche mitzunehmen. Die Familie freute sich sehr, mich wiederzusehen, und ich verteilte ein paar Geschenke. Für die Frauen hatte ich Parfum und Cremes, für die Kinder Zahnbürsten, Stifte und Süßigkeiten. Meiner kleinen Freundin Chadidscha schenkte ich eine Puppe. Ihre großen staunenden Augen, als sie das Babyimitat das erste Mal schwenkte und dieses ein lautes »Mama« von sich gab, waren unvergesslich. Sofort wollten alle anderen, selbst die Erwachsenen, die Puppe einmal ausprobieren und das Lachen nahm kein Ende mehr. Ausnahmslos alle Anwesenden wurden plötzlich zu fröhlich verspielten Kindern. Dass mein Geschenk so viel Heiterkeit auslösen würde, hatte ich nicht vermutet und war daher sehr angenehm überrascht. Die Mutter bat mich, am nächsten Tag zum Mittagessen zu kommen. Ich erschien dort nachdem der Muezzin zum Al Suhar, dem Mittagsgebet, gerufen hatte. Der Hausherr hatte extra für mich eine Ziege geschlachtet. Ich wurde aufgefordert, mit Selma, der ältesten Tochter, getrennt von der Familie zu essen. Wir bekamen eine riesige Platte Reis vorgesetzt, auf deren Mitte ein Berg Fleisch lag, der rundherum sehr dekorativ mit Gurken- und Tomatensalat verziert war. Dazu gab es das köstlich schmeckende, frische, noch warme Fladenbrot und eine Schüssel mit Suppe. Das unerwartet äußerst zarte Ziegenfleisch schmeckte fantastisch. Mir wurde zwar ein Löffel angeboten, aber ich versuchte, wie Selma mit der Hand zu essen. Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, denn man durfte nur die rechte Hand benutzen. Die linke Hand galt bei den Moslems als unrein. Ich nahm wahr, dass sich mittlerweile sehr viele Leute eingefunden hatten. Über den ganzen Hof waren Gruppen mit Menschen verteilt, die sich über das Festessen sichtlich freuten. Der Hof leerte sich recht schnell wieder, nachdem das Essen beendet war. Ein paar Frauen und eine ganze Schar junger Mädchen halfen der Hausherrin aufzuräumen und abzuwaschen. Als ich ein paar Gläser zusammenstellen wollte, wurde ich sehr energisch daran gehindert, mich nützlich zu machen. Ein Mädchen brachte mir schnell ein Kissen, dazu ein Glas Tee und unterstrich damit den Wunsch der Gastgeber, ich solle es mir gemütlich machen und das süße Nichtstun genießen. Nachdem alle Arbeiten erledigt waren, setzte sich Selma zu mir. Sie hatte bis vor Kurzem noch bunte Bänder, selbst genähte Hosen und anderes Beduinenhandwerk an Touristen verkauft und sprach recht gut Englisch. Auch Hebräisch konnte sie, wie sie mir stolz erzählte. Als wir kurz allein waren, vertraute sie mir an, dass sie nächste Woche heiraten würde und wie glücklich sie wäre, einen so tollen Mann wie Ateiek gefunden zu haben.

»Durftest du dir deinen Mann selber aussuchen«, fragte ich neugierig.

»Ja, Allah sei Dank, ich kenne ihn schon, seit ich denken kann. Er wohnt direkt nebenan, und so kann ich immer nah bei meiner Familie bleiben. Er hat mir ein sehr schönes Haus gebaut - mit drei Zimmern!«, ergänzte sie hocherfreut.

»Wäre es schwer für dich, in eine andere Gegend zu ziehen?«, bohrte ich weiter.

»Misch mumkin - nicht möglich!«, schoss es aus ihr heraus, und sie nahm schnell die Hand vor den Mund, damit die deutschen Kekse, die sie genussvoll knabberte, nicht folgen konnten. Mit vollem Mund zu sprechen war hier anscheinend nicht tabu.

»Hier sind alle meine Freundinnen, und wenn mir mein Mann später einmal Ärger machen sollte, sind meine Brüder und meine Familie gleich zu Stelle.«

»Wie alt bist du?«, wollte ich noch wissen. Sie wirkte auf mich wie ein unbedarfter Teenager.

»16, im Frühling werde ich 17«.

»Oh, das ist aber sehr jung«, gab ich zu Bedenken, »bist du dir wirklich schon sicher, dass er der Mann deines Lebens ist?«

»Das war ich schon, als ich noch klein war«, entgegnete sie vollkommen überzeugt. »Außerdem will ich mein eigenes Haus haben. Hier bin ich die Älteste und muss für die ganze Familie von Hand waschen, aufräumen, Essen kochen…eben alles machen, das im Haus anfällt. Du hast gesehen, wie groß unsere Familie ist. Erst einmal nur für einen da zu sein und zu sorgen, wird wunderbar werden.«

»Wer waren denn die anderen Leute, die eben beim Essen da gewesen sind?«

»Wenn bei uns oder den anderen Familien eine Ziege geschlachtet wird, spricht es sich oft durch die Kinder schnell herum und die ganze Nachbarschaft kommt vorbei«, klärte sie mich auf. »Jeder ist überall willkommen! Es ist nicht vorstellbar, einem Gast das Essen zu verweigern.«

»Und wenn das Essen nicht ausreicht?«, fragte ich weiter.

»Es reicht immer. Wenn nicht viel da ist, essen eben alle weniger.«

Ich musste an meine Oma denken. Sie hatte ein Geschirrhandtuch besessen, auf dem eingestickt war: »Fünf sind geladen, Zehn sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.« Es schien früher in Deutschland ähnlich gewesen zu sein. Heute kommt das wohl eher selten vor.

»Womit verdient deine Familie euer täglich Brot?«

»In unserer Familie sind alle Fischer. Schon seit Generationen. Mein Vater hat ein Boot und meine Brüder gehen fast täglich mit Netzen fischen. Siehst Du die drei Tiefkühltruhen dort?«

Sie zeigte auf einen aus groben Brettern gezimmerten Unterstand.

»Die sind randvoll! Oft fahren wir alle zusammen für einige Tage oder manchmal sogar Wochen an fischreiche Plätze und trocknen den gefangenen Fisch. Meine Brüder verkaufen diesen dann an die Beduinen in den Bergen, die sehr selten weder frischen noch getrockneten Fisch bekommen. Meine Mutter und ich übernehmen den Fischverkauf hier im Dorf.«

Wir gingen zusammen zu den Truhen und stolz zeigte sie mir, was ihre Familie erwirtschaftet hatte. Große und kleine Fische waren in Plastikkisten nach ihrer Art unterteilt und bis zum Deckel gestapelt. Auch einige Oktopusse waren darunter.

Als die Mutter des Mädchens mir später ein Nachtlager anbot, war ich wieder überrascht, wie weit die Gastfreundschaft der Menschen hier ging. Ich schlug ihr Angebot dreimal aus, das bedeutete, dass ich wirklich zurückwollte. Gerade am Vortag hatte ich mich erkundigt, warum mir immer alles mehrfach angeboten wurde, obwohl ich doch schon dankend abgelehnt hatte. Das wäre bei den Wüstenbewohnern so üblich, wurde mir erklärt. Oft würden Menschen aus Höflichkeit oder Verlegenheit etwas ablehnen, was sie eigentlich doch gern hätten und so blieben ihnen noch zwei weitere Chancen, es sich anders zu überlegen oder ihre Scham zu überwinden. Sehr zutreffend und geschickt gelöst, fand ich.

Nach etwa einer Woche in Nuweiba erzählte mir ein Israeli im blauen Bus, von einem nahen Ort namens Ras Gitan. Das bedeutete Teufelskopf. Seine Schilderungen des Touristencamps dort klangen jedoch trotz des erschreckenden Namens sehr verlockend und ich entschloss mich mit ihm und einigen anderen israelischen Touristen, am Morgen dahin aufzubrechen.

In Ras Gitan war ich die einzige Europäerin. Es gab ansonsten nur Beduinen und Israelis und ich dachte schon bei der Ankunft, in die Flower-Power-Zeit zurückversetzt worden zu sein. Die Mädels trugen wallende, bunte Röcke, die Herren indische Wickelhosen und eher selten ein Shirt darüber. Tagsüber malte ich, schrieb oder ging schnorcheln. Abends trafen sich alle im einzigen Café bei einem großen Feuer. Es wurde musiziert, über Gott und die Welt palavert und vor allem viel gelacht. Jeder mochte den anderen. Schon nach ein paar Tagen hatte man das Gefühl, in einer großen Familie zu leben, in der Toleranz, Verständnis und die Liebe zum Leben großgeschrieben wurden. Ich traf dort auf viele Beduinen, die mit mir mein beliebtes Frage-und-Antwort-Spiel spielten. Es machte ihnen sichtlich Freude, dass ich mich so sehr für ihr Leben interessierte. Mehrmals wurde ich mit ins Dorf genommen und bei den Frauen abgesetzt, wo ich mein Spiel weiter treiben konnte.

Da sich damals noch sehr wenige Touristen nach Ras Gitan verirrten, war das Riff sehr gut erhalten und ich war hellauf begeistert, dass die Vielzahl der Farben und Fische, die ich bisher gesehen hatte, hier noch übertroffen wurde. Eines Nachmittags, als ich am Strand lag und aufs Meer hinaus schaute, sah ich nicht weit vom Riff entfernt eine Gruppe von sechs Delfinen, die munter mit hohen Sprüngen durch das Wasser schossen. Zusammen mit den Farben des nahenden Sonnenuntergangs war der Anblick atemberaubend.

Beim täglichen Schnorcheln hatte es mir ganz besonders ein kleiner Tintenfisch angetan. Er hatte es sich in einem alten Autoreifen bequem gemacht, der wohl schon Jahre hier im Meer lag. Er war so sehr mit in allen Farben leuchtenden Korallen und Algen zugewachsen, dass man ihn kaum noch als Reifen erkennen konnte. Der Tintenfisch schien nicht im Geringsten Notiz von mir zu nehmen und gab mir die Möglichkeit, ihn ausgiebig zu beobachten. Der deplatzierte Gegenstand war sein Stammplatz, denn wann immer ich zu der Stelle schnorchelte, fand ich ihn in seinem kleinen Reich.

Die Zeit der Abreise nach Deutschland nahte. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied. Mir wurde immer öfter schwindelig und in Intervallen überkam mich eine leichte Übelkeit. Eine typische Körperreaktion, wenn mir etwas bevorsteht, dem ich gar nicht freundlich gesonnen bin. Tief im Inneren wollte ich wohl nicht mehr weg von hier. Die Abende mit den Beduinen und den Israelis am offenen Feuer waren mir so lieb und vertraut geworden, dass der Gedanke an das graue Alltagsleben in Berlin mir sehr zusetzte. Am Vorabend der Rückreise war ich ein in mich verschlossenes Bündel der Trauer. Ich lag allein vor meiner Hütte, direkt am Strand, auf den wunderschönen sauberen Steinen, und schickte ein Versprechen in den mit Sternen übersäten Himmel: Es wird nicht viel Zeit vergehen und ich komme wieder. In das Land der Stille, der Beduinen und der malerischsten Farben unter und über Wasser.


Fliegende Teppiche

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