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Kamelsafaris
Оглавление»Was man lernen muss, um es zu tun,
das lernt man, indem man es tut.«
- Aristoteles -
Direkt nachdem Jimme gegangen war, fragte ich ein schwedisches Pärchen aus dem Camp, ob sie nicht einen Ausflug mit uns in die Berge machen wollten. Sie waren von den Schilderungen der Tour begeistert und es ging endlich auf meine erste dreitägige Kameltour.
Schon beim Satteln sollte sich herausstellen, dass ich einen Meister des Faches vor mir hatte. Jimme zeigte mir einen Kniff, wie man den Bauchgurt anziehen konnte, ohne im eigenen Schweiß zu baden.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages ritten wir gemächlich der Sonne am Himmel entgegen, die die Berge Stunde um Stunde in neue Farben tönte. Die bizarre Berglandschaft um uns herum war atemberaubend und wir sprachen wenig. Ich hatte in Gesellschaft noch nie so wenig geredet wie in diesen drei Tagen. Die Wüste schien ihre Stille geradezu erzwingen zu wollen, indem sie mich mit ihrer Pracht zum Schweigen brachte. Was sollte gesagt werden, was war wichtig genug, diese Ruhe, die uns wie ein Mantel umhüllte, zu zerstören? Es war grandios. Langsam wurde es dämmrig und der Himmel zeigte uns ein prächtiges Farbenspiel. Ein paar Wolken waren aufgezogen, durch die die Sonne ihre orange und rot glühenden Strahlen schickte und die Wolken dabei verspielt einfärbte. Hinter einem Hügel war ein kleines Wadi mit vier großen Akazien, in dem wir beschlossen zu nächtigen. Während wir es uns bequem machten, ging Jimme, der scheinbar nie zu ermüden schien, zu einem der Bäume und nahm sich eine dort herumliegende, circa zwei Meter lange Eisenstange mit gekrümmter Spitze. Diese benutzte er als verlängerten Arm und brach hoch in dem Baum vertrocknete Äste aus der Akazie. Immer wieder fand ich an Orten, die als Rastplätze der Beduinen erkennbar waren, diese Metallstangen, und bewunderte erneut den Erfindungsreichtum und das soziale Bewusstsein der Wüstenbewohner. Jimme sagte mir, dass es nie jemandem einfallen würde, dieses schlichte Utensil mitzunehmen, denn jeder Beduine weiß, wie schwer es ist, ohne dieses einfache Hilfsmittel an die dornigen Äste hoch oben in den Bäumen zu gelangen. In gebührendem Abstand zu den Akazien mit ihren sehr langen und spitzen Dornen legten wir die Decken auf die Erde, um später darauf zu schlafen. Jetzt ruhten wir uns erst mal einfach nur darauf aus und schauten dem Hadsch bei seinem emsigen Treiben zu. Als Hadsch werden mit Hochachtung ältere Männer bezeichnet oder Personen, die die Wallfahrt nach Mekka unternommen hatten. Der Beduine war die ganze Zeit gelaufen und gönnte sich auch jetzt nicht eine einzige Minute der Muse. Ich wollte ihm zu Hand gehen, aber er wollte sich nicht helfen lassen. Ich solle mich jetzt ausruhen, ihm zusehen und lernen. Er entfachte im Handumdrehen mit den trockenen großen Ästen, die er geangelt hatte, ein riesiges Feuer und stellte den Teepott hinein. Danach nahm er sich eine Schüssel aus seiner Satteltasche, füllte sie mit Mehl und begann durch langsame Zugabe von Wasser das Gemisch zu einem zähen Teig zu verarbeiten. Er fügte noch etwas Salz hinzu und knetete die Masse eine geraume Zeit, bis eine große Teigkugel entstanden war. In der Zwischenzeit kochte das Wasser. Er gab Tee hinein, ließ alles noch einmal kurz aufkochen und nahm es aus dem mittlerweile herunter gebrannten Feuer. Jetzt fehlten nur noch die Unmengen an Zucker, die in jeden Beduinentee gehörten. Fünf gehäufte Esslöffel tat Jimme dazu und überreichte jedem von uns ein Glas. Wir streckten unsere etwas schmerzenden Glieder auf der Decke aus und genossen das wohltuende Getränk, während der Beduine sich wieder am Feuer zu schaffen machte. Er ergriff einen langen dicken Knüppel und schob in einer längeren Prozedur die glühenden Kohlen behutsam zur Seite auf einen beachtlichen schwelenden Haufen. Noch einmal knetete er den Teig durch und formte ihn in seinen Händen zu einem serviertellergroßen, runden, etwa zwei Zentimeter dicken Fladen. Mit einer gekonnten Handbewegung legte er ihn in die zuvor freigelegte Feuerstelle. Vorsichtig schob er mit dem Knüppel die glühenden Kohlen über den Teigfladen, bis er fast vollständig bedeckt war. Dann strich er die Kohle auf die gleiche Art und Weise wieder behutsam herunter, um den Fladen mit einer dünnen Ascheschicht zu überdecken. Darauf kamen wieder die Kohlen.
Zufrieden genoss er nun zum ersten Mal einen Moment Pause und trank ein Glas Tee. Nach etwa einer Viertelstunde schob er die Asche und die Kohlen wieder von dem Fladen und drehe ihn mit spitzen Fingern um. Ein herrlicher Duft schlug uns entgegen, aber wir mussten uns noch eine Weile gedulden, bis auch die andere Seite geröstet war. Nach mir endlos scheinender Wartezeit - ich hatte inzwischen mächtigen Hunger - nahm er das fertige schwarze Etwas aus dem Feuer und schlug es mehrfach heftig auf einen Felsen. Als er damit die Asche beseitigt und einige angebrannte Stellen mit einem Messer abgeschabt hatte, kam ein herrlich dickes, Wohlgeruch verströmendes Brot zum Vorschein. Er brach jedem eine kleine Ecke ab und ich beschloss, so ein Brot zu bereiten, würde meine nächste Herausforderung werden. Es schmeckte fantastisch, eines der besten Brote, die ich probiert hatte. Hadsch Jimme öffnete zwei Dosen Saubohnen, das viel gegessene Foul aus Ägypten, und gab den Inhalt zu den Zwiebeln und dem Knoblauch, die er zuvor in Butterfett in einem kleinen Topf im Feuer angebraten hatte. Dieses einfache Mahl aus Brot und Bohnen unter dem Himmelszelt, an dem die ersten Sterne matt leuchteten und ein noch kaum sichtbarer Sichelmond aufzog, war ein Gaumenschmaus sondergleichen.
Ich lernte in diesen paar Tagen alles, was ich brauchte, um wüstenfest zu werden. Ich wusste, wie man sich schmackhaft ernährt, konnte endlich perfekt satteln und das Kamel mit einer Fußfessel versehen. Diese wurde auf sehr effiziente Weise um beide Vorderbeine gebunden. Das Kamel konnte damit langsam laufen und sich die Kräuter am Wegesrand schmecken lassen, aber sich nicht weit entfernen oder beim Einfangen wegrennen. Abjad und ich verstanden uns inzwischen ausgezeichnet und er befolgte ohne die anfänglichen Zickereien brav meine Befehle. Am wichtigsten war jedoch, dass ich gezeigt bekommen hatte, wie man Holz von den Bäumen holte, ohne sich dabei Arme und Beine zu zerkratzen. Denn ein Feuer brauchte man in der Wüste immer. Die dornigen Akazien waren der beste Lieferant dafür.
Wieder zurück in Dahab war ich überzeugt, Kameltrips zu veranstalten sei genau das Richtige für mich. Meine erste Kundin war eine Deutsche, die glücklich war, mit einer Frau in die Berge reiten zu können. Sie liebte Kamele und hätte gern schon vorher einen Kameltrip gemacht, aber die aufdringliche Anmache der Männer am Strand hatte sie abgeschreckt, einen von ihnen zu fragen. Bisher hatte sie nur die Ägypter am Strand erlebt und dachte, alle männlichen Bewohner des Sinai wären so aufdringlich. Ich ließ Daniela auf meinem Kamel Platz nehmen und ging neben ihr her in das Wadi, das ich am besten kannte. Mein Ziel war eine große Akazie, unter der ich immer schon gern gesessen hatte. Feuer zu bereiten war mir mittlerweile ein leichtes. Wir tranken Tee, aßen mitgebrachten Kuchen und unterhielten uns. Da ich lange schon kein Deutsch mehr gesprochen hatte realisierte ich, wie schön es war, so ganz ohne zu überlegen losplappern zu können. Daniela stellte mir viele Fragen über den Sinai und dessen Bevölkerung und diesmal war ich diejenige, die berichten konnte. Denn mit ähnlichen Fragen hatte auch ich mich zuvor wissbegierig an die Beduinen gewandt. So verging die Zeit mit ihr viel zu schnell. Es dämmerte schon, als sie wieder auf mein Kamel stieg und ich sie mit der untergehenden Sonne im Rücken wieder zum Strand zurück brachte. Sie bedankte sich herzlich für diesen tollen und informativen Tag, und ihr Gesicht und ihre Stimmung zeigten deutlich, wie sehr auch sie die Stunden weit weg vom Trubel genossen hatte. Ich ging ins Dorf und kaufte von meinem ersten selbstständig verdienten Geld sofort einen großen Sack Futter für Abjad. Mir selbst gönnte ich eine Pizza in einem der Strandcafés.
Der nächste Kunde war ein Amerikaner, der schon eine Weile in unserem Camp war. Es war eindeutig, dass er ein Auge auf mich geworfen hatte. Ich hingegen fand ihn eher unangenehm, fast schon penetrant. Er hatte von den Campbetreibern erfahren, dass ich jetzt Kameltouren machte, und fragte mich, ob ich mit ihm eine Tour in die Wüste machen würde. In zwei Tagen sollte es losgehen und am darauffolgenden Tag zurück. Da ich dringend Geld brauchte, verabredete ich mit ihm, am übernächsten späten Nachmittag aufzubrechen. Mir war mulmig zumute. Eine ganze Nacht allein mit diesem Herren, der mich laufend beobachtete? Obwohl ich wusste, nicht die beste Lösung gefunden zu haben, bat ich Sahi mitzukommen.
›Auch nicht gerade besser, Sahi solch falsche Hoffnungen zu machen‹, meldete sich mein Gewissen eindringlich, nachdem er sich verabschiedet hatte.
›Was soll sie anderes tun. Allein mit diesem lüsternen Amerikaner gehen?‹, fragte die Vorsicht. ›Man kann Menschen nur vor den Kopf schauen. Das wäre zu gefährlich.‹
Das Gewissen wollte Klarheit: ›Sahi muss einfach deutlich zu verstehen bekommen, dass du ihm nicht mehr geben kannst als eine gute Freundschaft.‹
›Genau, sag es ihm am besten gleich morgen, unverblümt und direkt!‹, unterstützte der Tatendrang.
Ich nahm mir fest vor, endlich ein offenes und ernsthaftes Gespräch mit Sahi zu führen. Ich musste ihm wirklich nochmals sagen, dass er mein bester Freund und Vertrauter war, aber eben nicht mehr.
Die Nacht war sehr unruhig, mich von einer Seite auf die andere legend fand ich kaum Schlaf und stand früh auf. Bei Sonnenaufgang ritt ich in das Wadi, um Futter für mein Kamel zu besorgen. Geld, um welches zu kaufen, hatte ich nicht mehr. Ein letzter Rest mit 20 Kilo Mais stand noch in meinem Zimmer, aber davon bekam er erst abends seine üblichen drei Kilo. Jetzt brauchte er ein leichtes Frühstück aus Heu, das man von umherfahrenden Händlern aus dem ägyptischen Delta erstehen konnte, oder aus frischen Bergkräutern, die es mit etwas Arbeitsaufwand umsonst im Wadi gab. Es war ein frischer, klarer Morgen. Der Ort wirkte noch wie ausgestorben, als ich den Weg in die Berge einschlug. Mich fröstelte ein wenig und ich vergrub einen meiner nackten Füße in die sehr behaarte Stelle oberhalb von Abjads Vorderläufen. Dort war er besonders flauschig und schön warm. Auf dem Kamel war ich immer barfuß und verstaute meine Sandalen in der Satteltasche. Auf halber Höhe im Wadi angelangt, band ich meinem Kamel die Fußfessel um, damit er mir nicht wegrannte. Noch kannten wir uns nicht so gut, dass ich sein Verhalten immer verstand. Mit der Fessel aber konnte ich ihn getrost sich selbst überlassen und an diesem schönen Tag die Wüste in einer mir ganz und gar neuen Phase erleben. Vor einer Woche hatte es einmal kräftig geregnet. Die Wüste erblühte. Die Bergsäume hatten ein in vielen Grüntönen gehaltenes Band an den Rändern, das sich mal schmaler, mal breiter das Wadi hochzog. Ich fragte mich, ob in den zahlreichen Wadis, wie die ausgetrockneten Flussläufe bezeichnet werden, jemals richtige Sturzfluten herunterkommen würden. Bisher hatte ich es erst einmal miterlebt, dass es regnete. Eine große Flut war nur zwischen Dahab und Sharm El Sheikh zu sehen gewesen.
An den Hängen wuchsen vielerlei Kräuter, die ich mitlerweile kannte, wie der wilde Lavendel (lavandula coronopifolia), junger Rimth (haloxylon salicornica) oder frische Sille (zilla spinosa), die mein Kamel besonders liebte. Abjad würde satt werden. Nach einem Spaziergang setzte ich mich auf einen Hügel am Berghang, holte mein Schreibbuch hervor und begann das Märchen über eine grimmige Muräne zu Ende zu schreiben. Der Tag war gut, die Sätze formten sich wie von selbst in meinem Kopf und schon nach kurzer Zeit konnte ich den letzten Punkt setzen. Ich beobachtete Abjad eine Weile, der sich unterhalb meines Sitzplatzes die frischen Pflanzen schmecken ließ. Nach wie vor liebte ich sein genüssliches Schmatzen, es erinnerte ein bisschen an äußerst coole Teenager, wenn sie übertrieben lässig Kaugummi kauten. Ich wandte meinen Blick das Wadi hinunter und konnte Dahab sehen. Es lag in weiter Ferne, klein wie eine Spielzeugstadt. Das Meer dahinter war unruhig. Unzählige, weiße Schaumkämme bezeugten, dass der Wind über dem Wasser zugenommen hatte. In dem kleinen Wadi fegten nur hin und wieder kleine Böen durch die Landschaft und wirbelten trockene Sträucher auf. An die raue Felswand gelehnt, sinnierte ich über meine Zukunft.
›Ich finde es umwerfend hier‹, schwärmte die Faszination und fiel tatsächlich um. Mitten auf die Trägheit, die sich müde die Augen rieb und gähnend ergänzte:
›Ja, von mir aus können wir bleiben. So entspannt und ruhig war ihr Leben noch nie. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen. Hier bleiben, hört sich definitiv gut an!‹ und döste wieder weg.
›Nee nee, von dir Trägheit lassen wir uns nicht einlullen. Hier ist endlich mal Zeit für mich‹, sprach die Kreativität, ›hier kann ich mein volles Potenzial entwickeln und werde nicht immer nur kurz dazwischengeschoben.‹
›Was mich richtig schön satt macht‹, ergänzte die Zufriedenheit.
›Also, mir fehlt dann aber etwas‹, sagte die Sehnsucht mit einem langen Seufzer.
›Au ja!‹, frohlockte die Begierde und brachte damit die Augen zum Klimpern. ›Einen großen, starken, gut aussehenden, sinnlichen, ver ...‹
›Krieg dich mal wieder ein! Sie zerbeißt gleich den Stift in ihrer Hand‹, fiel ihr die Vernunft lachend ins Wort.
›Ach, Sehnsucht‹, fragte die Intelligenz, ›weißt du eigentlich, warum du so heißt? Ich sag‘s dir: Weil du süchtig bist! Wir sind doch erst vor drei Monaten in diesem herrlichen Land angekommen und damit deinem Verlangen nachgekommen. Aber noch nicht richtig niedergelassen willst du schon wieder etwas Neues. Ob du wohl jemals zufrieden bist? Ich denke, da müssen wir wohl alle noch ein wenig warten. Geduld, Geduld!‹
›Ja, ach so … ja, genau, ich bin nämlich eine der wertvollsten Tugenden‹, antwortete die Geduld, die schon ewig darauf gewartet hatte, dass sie auch mal etwas sagen durfte. ›Was lange währt, wird endlich gut. Gut Ding will Weil haben. Abwarten und ...‹
›Genug, genug‹, unterbrach die Vernunft den Wortschwall der Geduld, die so froh gewesen war, endlich mal reden zu dürfen. ›Es sind sich ja fast alle einig, dass wir erst mal auf diesem Inselchen bleiben wollen. Tee zum Abwarten gibt es hier ja genug … und irgendwann kommt vielleicht der Richtige. Jemand der uns versteht, der das Leben mit all seinen wundervollen Seiten zu sehen weiß, der verstanden hat, dass die schönsten Dinge im Leben sich verdoppeln, wenn man sie teilt, der offen, ehrlich und wissbegierig wie wir ist und gemeinsam etwas von Liebe getragenes aufbauen möchte.‹
›Hey Fantasie!‹, rief laut die Frechheit dazwischen. ›Wie soll der Gute denn nun sein?‹
Ich schlug von der Fantasie inspiriert eine neue Seite auf und begann niederzuschreiben, was sie mir sehr leise in mein Ohr flüsterte, damit der Verstand nichts mitbekam und dann wie immer zu widerlegen versuchte. Sie war offensichtlich noch in Märchenstimmung und flüsterte: ›Ein Kamel soll er haben und Augen, so leuchtend und schwarz, wie türkischer Kaffee, auf den die Sonne scheint. Vielleicht auch so heiß‹, sie kicherte, ›du weißt schon. Er sollte die Wüste so sehr lieben wie du. Er ...‹
Zwei Beduinen, die hintereinander das Wadi hinauf geritten kamen, unterbrachen die Fantasie. Sie wurde von der Harmonie und der Muse übertönt, die aus einem Munde riefen: ›Welch schönes Bild!‹
Wohl wahr: wie auf einer Postkarte. Der Blick auf das Meer, eingerahmt durch die Berge an den Seiten, das Dorf mit Palmengärten davor und genau in der Mitte die beiden Beduinen auf ihren Kamelen. Die Männer sahen mich wohl, denn sie schwenkten nach rechts und ritten hintereinander direkt auf mich zu.
»Hi!«, begrüßte mich der zuerst Angekommene salopp.
»Salam alleik!«,Friede sei mit dir!, antwortete ich freundlich.
»Bist du allein hier?«, fragte er weiter auf Englisch.
»Ja, es ist so ein schöner Morgen«, erwiderte ich.
»Alle Morgen in den Bergen des Sinai sind schön«, retournierte der Araber stolz. »Ich und mein Freund gehen weiter das Wadi hoch und machen dort Tee. Wenn du magst, komm doch nach.«
Inzwischen war sein Freund bei uns angelangt. Er hielt sein Kamel etwas versetzt hinter dem anderen an. Vielleicht wegen des Windes hatte er sein rot-weißes Beduinentuch verhüllend vor sein Gesicht gebunden, dass ich jetzt, da er mich anschaute, nur seine Augen sehen konnte, die mich absolut unerwartet in eine völlig andere Dimension schossen.
Alles um mich herum existierte auf einmal nicht mehr. Es gab nur noch seine und meine Augen. Ich konnte meinen Blick nicht lösen und fühlte mich wie hypnotisiert. Fackeln schienen sich in meinem Inneren zu entzünden, um kurz darauf von Eiswasser gelöscht zu werden. Keine Gedanken konnten der Explosion von Empfindungen standhalten. Sie wollten alle gleichzeitig rufen, warnen, jubeln und schreien. Dieser durchdringende Blick jedoch schnitt mir die Luft ab und alle verstummten.
Er unterbrach dann zuerst den Kontakt und das einzige Wort, das sich wieder mühsam aus dem überraschenden Inferno formen konnte, war: »Wow!«
Die Faszination war es, die sich als erste artikulierte. Mein ganzer Körper hatte sich verändert. Alle Muskeln waren elektrisiert. Ich hatte die Luft wohl zu lang angehalten und merkte, dass mir schwindelig wurde. Versuche zu schlucken scheiterten kläglich. Mein Mund war so trocken wie ein Stoppelfeld nach einem Flächenbrand.
›Tee wäre gut jetzt‹, meldete sich auch mein Verstand zurück.
»Lesch la«, warum nicht, antwortete ich daher mit zittriger Stimme auf das Angebot ein Glas Tee betreffend. »Ich komme gleich nach.«
Meine Äußerung erschien mir wie die Antwort auf eine Frage aus einer anderen Zeit. Waren tatsächlich erst Sekunden inzwischen vergangen? Als ich aufstehen wollte, um mein Kamel zu holen, wurde mir schwarz vor Augen. Dieser Blickkontakt gerade schien all meine Energie absorbiert zu haben. Nach einigen meditativen Atemübungen ging es mir besser. Ich erhob mich noch immer etwas benommen und verwirrt von meinen Gefühlen.
›Wie gerufen!‹, meldete sich die Fantasie zurück. ›Das ist er! Wenn der Rest des Gesichts genauso feurig ist, versteht sich.‹
›Du hast Ideen, Du glaubst wohl immer noch an die Liebe auf den ersten Blick. Weißt du, wie der Duden dich, Fantasie, beschreibt? Ich sag es dir: Illusion, unerfüllbares Wunschbild, unwirkliche, oft unklare Vorstellung oder Gedanke und außerhalb der Wirklichkeit oder im Widerspruch zu ihr stehend. Und damit hat er vollkommen Recht‹, wetterte die Vernunft sofort.
›So sehe ich das auch‹, sprach die Vorsicht.
›Aber anschauen können wir uns ihn doch mal‹, versuchte die Neugierde zu vermitteln und hatte wie schon oft die Entscheidungsgewalt.
Mit meinem Kamel im Schlepptau erreichte ich ihren Rastplatz. Der Beduine, der mich eingeladen hatte, war allein und traute offensichtlich seinen Augen nicht.
»Ist das dein Kamel?«, fragte er mich skeptisch und zog die Augenbrauen hoch.
Ich nickte und lächelte, legte Abjad wieder die Fußfessel um und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf sein prächtiges Hinterteil, damit er loszog, um sich zu nähren.
»Ich heiße Hamid«, stellte er sich vor und deutete auf eine Wolldecke. »Setz dich doch! Das ist aber nicht wirklich dein Kamel, oder?« fragte der Beduine nochmals und sein Unglaube stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Eine Frau besitzt bei den Beduinen normalerweise Ziegen oder Schafe, aber keine Kamele.
›Und du bist nicht einmal eine Beduinin!,‹ stellte die Erkenntnis munter fest.
Als ich seine Frage wiederholt bejahte, war er erst sichtlich verwirrt, dann begeistert und lobte zuletzt die Vorzüge dieser Tiere.
Der Tee war fertig und Hamid reichte mir ein Glas. Während ich das heiße, süße und gerade sehr wohltuende Getränk langsam schlürfte, machte ich mich ungeniert daran, Hamid über den Mann mit den glühenden Augen auszufragen, der sich anscheinend zu Fuß davon gemacht hatte. Sein Kamel stand allein am Berghang.
»Wo ist denn dein Freund hin?«, wollte ich wissen.
»Samir? Der ist dort hinauf.« Er zeigte auf einen kleinen Pfad, der sich hoch in die Berge zog. »Samir fastet. Er hält den Ramadan ein. Schon der Blick auf oder der Gedanke an eine Frau ist wie Essen, Trinken und Rauchen bis zum Sonnenuntergang verboten. Es wäre nicht gut für ihn, wenn er hier mit uns sitzt.«
›Schade aber auch!‹, schmollte die Neugierde.
»Kommt ihr aus Dahab?«, fragte ich schnell, um meinen Gedanken keine Zeit für weitere ungehörige Kommentare zu lassen.
»Ich ja, aber Samir ist erst seit kurzem hier, seine Familie wohnt in Feranje, einer kleinen Siedlung, kurz vor Santa Katherina. Er will hier mit seinem Kamel arbeiten, Safaris veranstalten und Ähnliches.«
›Ein echter Beduine also‹, freute sich mein Feingefühl.
Da ich mittlerweile viele Beduinen kennengelernt hatte, war mir bewusst geworden, wie rasant diese sich veränderten, sobald sie viel Kontakt mit dem Tourismus hatten. Der Ausdruck ihrer Augen veränderte sich. Der Blick verlor einen Teil seiner Erhabenheit. Ich hatte mir schon einige Male, wenn ich Menschen traf, die in der Wüste lebten und nur kurzzeitig in touristischen Gebieten verweilten, darüber Gedanken gemacht, woran das liegen könnte. Bei diesen Beduinen war mir ein ganz besonderer, aus dem Inneren kommender, Glanz in den Augen aufgefallen. Vielleicht war es so, weil sie in der Wüste alles kannten und wussten, sich in der sogenannten Zivilisation, von Touristen umgeben, jedoch zurückgesetzt fühlten; vom Fortschritt außer Acht gelassen. Der erhabene, stolze Blick, dessen Ausstrahlung mich faszinierte, wich in der Auseinandersetzung mit der anderen Welt einem unsicheren Blinzeln.
Dieser fastende Beduine hatte den Stolz in seinen Augen bewahrt, und das war es, was mich von der ersten Sekunde an bezaubert hatte. Hamid redete über alles Mögliche, aber meine Gedanken und Augen schwebten in eine andere Richtung; zu den Bergen, in denen der umwerfende Fremde verschwunden war.
›Glaub mir, es gibt sie‹, wisperte die Fantasie wieder leise.
›Jetzt hör auf mit dem Blödsinn‹, schaltete sich der Realitätssinn ein, ›Liebe ist etwas, das langsam wachsen muss und fällt einem nicht einfach in den Schoß.‹
›Also bei mir hat es richtig stark gekribbelt, als der Typ uns so anschaute‹, sagte die Faszination. ›So stark habe ich das noch nie verspürt.‹
›Ihr seid doch verrückt, hoffnungslos verloren ohne mich!‹, monierte der Verstand.
Als der Wüstenprinz endlich aus dem Wadi zurückkehrte, wurde mit jedem Schritt, den er näher kam, äquivalent mein Herzschlag nicht nur schneller, sondern auch intensiver. Ich war genötigt, Atemübungen zu machen, andernfalls hätte es mir wohl die Brust gesprengt. Es waren sicher noch hundert Schritte, die er entfernt war. Ich kam mir vor wie eine alberne Diva aus einem kitschigen Hollywood-Streifen, die gleich in Ohnmacht fallen würde.
›Jetzt reiß dich aber mal zusammen‹, fauchte die Aufregung, ›ich kann nicht mehr!‹
›Was ist eigentlich los mit dir?‹, fragte die innere Ruhe. ›So kenne ich dich gar nicht. Dass du leicht zu begeistern bist, weiß ich ja, aber was hat dieser Mensch, dass er dich so verrückt macht?‹
›Ich verstehe es auch nicht,‹ sagte die Vernunft, ›vielleicht kann mir mal jemand sagen, wer hier diese Aufruhr auslöst?‹
›Ich glaube, das bin ich‹, meldete die Faszination sich zu Wort, ›dieser Mensch berührt mich zutiefst.‹
›Ich bin sicher auch beteiligt‹, räumte die Ästhetik ein, ›er ist einfach hinreißend. Dieser offene und intensive Blick eben ... Er hat so schöne Augen, mit einem Ausdruck, der mich vom ersten Moment an fesselte.‹
›Nicht zu vergessen dieser Anmut, der Stolz und die Selbst-sicherheit, die eben für mich zu spüren waren‹, ergänzte das Feingefühl.
›Ach ja?‹, wunderte sich die Vernunft, ›und dass dieser so wundervolle Mensch ein Mann mit ganz anderer Kultur ist, blendet ihr einfach aus? Dass solche Beziehungen selten zu Gutem führen, vergesst ihr einfach? Ihr seid doch unberechenbar und naiv.‹
Die kurze Zeit, die Samir brauchte, um zu uns zu gelangen, erschien mir unendlich lang. Viel zu viele Gedanken auf einmal machten die Situation nicht weniger aufregend und gingen mir viel zu weit. Wie in Zeitlupe kam Samir aus den Bergen geschritten, den Blick konstant auf mich gerichtet und noch jetzt, da ich hier sitze und diese Zeilen schreibe, kann ich meine Augen schließen, sehe das Wadi vor mir, mich selbst am Feuer sitzen und wie sich der Abstand zwischen uns langsam verringert.
Bei uns angekommen, grüßte er neckisch, setzte sich, grinste mich verschmitzt an und biss unverfroren und herzhaft in ein Stück des Kuchens, den ich mitgebracht und aufgeschnitten hatte. Dies alles tat er, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.
›So viel zum Ramadan‹, kicherte die Erkenntnis, ›er hat sicher ähnliche Gedanken gehabt‹, vermutete sie. ›Es war bestimmt nicht der Kuchen, der ihn das Fasten brechen ließ. ›Und wie er dich jetzt wieder anschaut‹, stellte die Faszination gerührt fest. ›Fesselnd wie Sirenengesang.‹
›Jetzt ist aber mal gut!‹, wetterte die Vernunft und rempelte die Faszination unsanft an, ›du bringst ja schon wieder alle durcheinander.‹
Hoppla! Da fiel mir doch einfach so das Teeglas aus der Hand. Kein Wunder, bei dem Gefasel der Faszination.
Der Verstand hatte Recht, ich sollte schleunigst wieder ruhiger werden und besser meinen Blick in die Berge richten. Ich nahm mich zusammen und befahl der Faszination Stillschweigen.
Mein Missgeschick entspannte wenigsten die Situation ein wenig. Wir lachten alle drei über den verschütteten Tee und fingen an, uns zu unterhalten. Aufgrund der Fragen, die Samir konkret an mich stellte, erkannte ich, dass er genauso viel über mich erfahren wollte, wie ich über ihn.