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Jetzt oder nie

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»Der Ausgangspunkt für die großartigsten Unternehmungen liegt oft in kaum wahrnehmbaren Gelegenheiten.«

- Demosthenes -

Wieder zurück in Berlin war es leider eindeutig zu kalt, um auf dem Balkon zu nächtigen. Ich ging so viel wie möglich nach draußen, da ich mich, in meiner doch eigentlich gemütlichen Wohnung, wie eingesperrt fühlte. Wenn ich am Schreibtisch saß, sah ich direkt gegen eine Wand. Selbst auf dem Balkon wurde mir von umstehenden Häusern die Sicht versperrt. Meine Gedanken konnten nicht schweifen, mein Horizont war zu beschränkt. Der einzige Ort, an dem ich mich noch richtig wohlfühlte, war der Park nahe der Uni.

Dick angezogen saß ich an einem der wenig sonnigen Tage auf einer Bank und öffnete einen Brief von der Freien Universität, den ich am Morgen erhalten hatte. Ich war zusätzlich in Grundschulpädagogik und Politik angenommen worden. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, um sogleich Klaus die freudige Botschaft mitzuteilen. Da wir in Ostberlin immer noch keine eigene Telefonleitung bekommen hatten, ging ich auf dem Rückweg in eine Telefonzelle und rief gut gelaunt meinen Vater an. Bisher hatte ich mein Studium selbst finanziert, aber mit drei Studienfächern war dies nicht mehr möglich. Noch war ich überzeugt, er würde stolz auf mich sein. Nachdem ich ihm von der erfolgreichen Immatrikulation berichtet hatte, kam er recht schnell zu dem mir unangenehmen Thema. Er hatte mir schon meine Ausbildung als Bauzeichnerin finanziert und ich konnte seinen Unmut, jetzt wieder für mich zahlen zu müssen, gut verstehen. Die Summe, die er letztendlich bereit war, mir zu geben, reichte jedoch unmöglich aus, in Berlin zu studieren. In Grundschulpädagogik hätte ich viele Praktika zu absolvieren und währenddessen kaum Zeit zum Arbeiten. Das Arabistik-Studium war sehr schwer und kostete mich viel Zeit am Schreibtisch und in der Bibliothek.

Ich war zutiefst niedergeschlagen, da ich keine Möglichkeit sah, gewissenhaft zu studieren und gleichzeitig noch ausreichend für meinen Lebensunterhalt aufzukommen. Mein Herzensfach, die Arabistik aufzugeben, war keine annehmbare Alternative für mich. Einen Kredit aufzunehmen jagte mir höllische Angst ein. Bafögberechtigt war ich nicht, und Schulden zu machen war etwas, das mir schlaflose Nächte bereiten würde. Mich von Klaus aushalten zu lassen ebenfalls. Er riet mir, meinen Vater zu verklagen.

›Ausgeschlossen!‹, rief das Gewissen, ›das könnte sie nie, dafür ist sie ihrem Vater viel zu dankbar, dass er schon ihre Ausbildung ermöglicht hatte.‹

Außerdem liebte ich meinen Vater und hätte das allein aus diesem Grund nie tun können.

Eine Woche überlegte und rechnete ich und kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Ich würde es nicht schaffen. Zumindest traute ich es mir nicht zu. In den kommenden Nächten konnte ich nicht einschlafen und vergoss viele Tränen. Ich ging lustlos zum Frühstück, saß lustlos an der Arbeit und hing lustlos in unserer Wohnung herum. Als ich eines Morgens meine verquollenen Augen im Spiegel sah, traf ich eine Entscheidung, die mein gesamtes bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

Eine neue Zufriedenheit und Zuversicht war plötzlich in mein Spiegelbild zurückgekehrt. Ich zog mich in Windeseile an und rannte beinahe zur U-Bahn. Am Kurfürstendamm stieg ich aus und stand ein paar Minuten später vor meinem Ziel. Ich atmete tief durch und sah in den sich spiegelnden Scheiben immer noch die mutige Zuversicht in den Augen, die die letzten Tage so leer gewesen waren.

»Sie schon wieder?«, begrüßte mich der alte, libanesische Reisebürobesitzer herzlich. »Wie geht es Ihnen?«

»Bald wieder richtig gut, hoffe ich«, war meine Antwort. »Wann geht der nächste verfügbare Flug in den Sinai?«

»Moment bitte, ich schau mal nach.«

Er setzte sich suchend vor seinen Computer, während ich aufgeregt von einem Fuß auf den anderen trat. Die Plastikblumen auf dem Tresen erinnerten mich an die Rezeption des Camps in Dahab. Da hatte ein ähnliches Sträußchen den Tisch geziert, genauso kitschig und genauso verstaubt.

»Am 14. November, also in knapp drei Wochen habe ich einen günstigen Platz frei … aber warten sie … nein, da gibt es keinen passenden Rückflug. Dann ...«

»Den nehme ich!«, platzte es aus mir heraus, »ich fliege one way.«

Noch am selben Tag gab ich auf der Arbeit meine Kündigung bekannt, schrieb einen Brief an die Uni zur Exmatrikulation und berichtete Klaus von meinen Plänen. Er war einerseits betrübt, mich gehen sehen zu müssen, andererseits konnte er mich sehr gut verstehen. Meine unstillbare Liebe zum Sinai war oft Inhalt unserer Gespräche gewesen und manchmal glaubte ich, Klaus hatte als einziger eine ungefähre Ahnung, wie stark diese Verbundenheit war. Ich hatte oft erwähnt, dass ich gerne einmal für längere Zeit dort leben würde, aber nie gedacht, den erforderlichen Mut dazu aufbringen zu können. Mein Freund war derselben Meinung: Eine akademische Ausbildung ohne ausreichende finanzielle Mittel sei kaum zu bewältigen und konnte nachvollziehen, dass ich diesen ungeheuren Tiefschlag erst einmal allein verarbeiten musste. Drei lange Jahre hatte ich damit verbracht, neben meinem Job als Bauzeichnerin mein Abitur nachzuholen, immer mit der Vorfreude auf das anschließende Studium ... Und jetzt das!

Meine Freunde hatten für mich eine sensationelle Abschiedsparty veranstaltet und gaben mir viele gute Wünsche mit auf den Weg. Eine meiner besten Freundinnen, die den Sinai schon mal mit mir bereist hatte, fragte mich, ob ich zum nächsten Semester zurückkommen würde. Während ich mit der Antwort lange gewartet hatte, wurde mir bewusst, dass ich darauf keine klare Antwort hatte. Ich sagte ihr, ich wüsste es nicht. Die Enttäuschung, nicht studieren zu können, war allgegenwärtig und niederschlagend. Ich war soweit mir vorzustellen, eventuell gar nicht mehr wiederzukommen. Denn da war zusätzlich diese ganz starke Sehnsucht nach einer Familie, so wie es damals bei meiner Großmutter noch war oder wie ich sie bei den Beduinen kennengelernt hatte. Ich sagte ihr, ich würde das kommende Semester voll ausnutzen, um die Sprache zu lernen und mir Klarheit über meine weitere Zukunft zu verschaffen.

Drei Wochen später stand ich mit 90 Kilo Gepäck am Flughafen.

In Sharm El Sheikh gelandet, entschloss ich mich, von dort aus zuerst nach Dahab zu fahren und Sahi einen Besuch abzustatten. Er war sehr angenehm überrascht, mich schon so bald wiederzusehen.

Was mir in Dahab am besten gefiel, waren die Abende, an denen ich mit anderen Touristen in die nahe liegenden Wadis fuhr, um dort zu übernachten. Es gab für mich nach wie vor nichts Schöneres, als bis spät in die Nacht hinein mit den beduinischen Fahrern zusammen zu sitzen und mir aus ihrem Leben berichten zu lassen. Hungrig nach immer neuen Einblicken in ihre Traditionen und Gebräuche, ließ ich mich mit Informationen füttern. Da die Fahrer sehr begrenzt englisch sprachen, wuchs außerdem mein arabischer Wortschatz recht schnell. Sprachen ließen sich meines Erachtens wesentlich besser lernen, wenn man versuchte, sie zu sprechen. In der Universität war man der Sprache sehr theoretisch begegnet und ich freute mich nun, sie endlich praktisch anwenden zu können.


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