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Vier Tage nach dem Debacle in der Lustigen Siebzehn machte Vida Sherwin einen Besuch und zertrümmerte ganz nebenbei Carolas Welt.

»Darf ich hereinkommen und ein bißchen plaudern?« fragte sie so voll strahlender Unschuld, daß Carola ein unbehagliches Gefühl überkam. Vida entledigte sich mit einem Ruck ihres Pelzes, sie setzte sich, als handle es sich um eine gymnastische Übung, sie legte los:

»Dieses Wetter bekommt mir geradezu fürchterlich gut. Raymond Wutherspoon sagt, wenn er meine Energie hätte, wär' er schon längst ein berühmter Opernsänger. Ich glaub' immer, unser Klima hier ist das beste auf der Welt, meine Freunde sind die liebsten Leute auf der Welt, und meine Arbeit ist das wichtigste auf der Welt. Wahrscheinlich halt' ich mich selber zum Narren. Aber eines weiß ich sicher: Sie sind der mutigste kleine Dummkopf auf der Welt.«

»Sie scheinen mich ja bei lebendigem Leib schinden zu wollen?« Carola nahm es von der komischen Seite.

»So? Vielleicht. Ich wollte wissen – ich bin überzeugt, der Dritte beim Streit ist oft der, den man am meisten tadeln muß. Derjenige, der zwischen A und B hin- und herläuft und zu seinem eigenen Vergnügen jedem erzählt, was der andere gesagt hat. Aber ich brauch' Sie zur Belebung von Gopher Prairie, und deshalb – So eine ganz einzigartige Gelegenheit – Bin ich albern?«

»Ich weiß, was Sie meinen. Ich war zu heftig bei der Lustigen Siebzehn.«

»Es handelt sich nicht darum. Wirklich, ich bin froh, daß Sie den Weibern ein paar heilsame Wahrheiten über Dienstboten gesagt haben – obwohl Sie vielleicht ein ganz klein wenig taktlos waren. Es handelt sich um etwas Wichtigeres. Ich weiß nicht, ob Sie begreifen, daß jeder Neue in einer abgeschlossenen Gesellschaft, wie hier, geprüft wird. Man ist herzlich, beobachtet ihn aber ununterbrochen. Ich weiß noch, wie man einer Lateinlehrerin, die von Wellesley hergekommen ist, übelgenommen hat, daß sie das A offen spricht. Man war überzeugt, daß das affektiert war. Natürlich hat man Sie beredet –«

»Hat man viel über mich gesprochen?«

»Meine Liebe!«

»Ich habe immer ein Gefühl, als ob ich in einer Wolke herumginge, aus der ich zu den anderen hinausschaue, aber selbst nicht gesehen werde. Ich komme mir so unansehnlich und so gewöhnlich vor – so gewöhnlich, daß es nichts an mir zu bereden gibt. Ich kann nicht begreifen, daß Herr und Frau Hydock über mich klatschen müssen.« Carola unterdrückte eine Anwandlung von Ekel. »Und ich mag es auch nicht. Es schaudert mir, wenn ich daran denken soll, daß diese Leute über alles, was ich tue und sage, reden. Mich betappen! Es ist mir widerwärtig. Ich hasse –«

»Warten Sie, Kind! Vielleicht ist den anderen manches an Ihnen widerwärtig. Ich möchte, daß Sie versuchen, objektiv zu sein. Jeder, der neu herkommt, würde betappt werden. Haben Sie das im College nicht auch mit Neuen gemacht?«

»Ja.«

»Na also! Wollen Sie objektiv sein? Ich mache Ihnen ein Kompliment und nehme an, daß Sie's können. Ich möchte, daß Sie stark genug sind und mir dabei helfen können, diese Stadt zeitgemäß umzugestalten.«

»Ich werde so objektiv sein wie ein Stück Holz. Was sagt man von mir? Wirklich. Ich möchte es wissen.«

»Natürlich nehmen die Ungebildeten es übel, daß Ihre Beziehungen noch über Minneapolis hinausreichen. Die Leute sind so argwöhnisch. Das ist es. Argwöhnisch. Und ein paar meinen, Sie ziehen sich zu gut an.«

»So, meinen sie das. So! Soll ich im Sack herumlaufen, denen zu Gefallen?«

»Bitte! Wollen Sie sich wie ein Baby benehmen?«

»Ich will brav sein«, sagte sie trotzig.

»Das müssen Sie auch, oder ich erzähl' Ihnen überhaupt nichts. Eines muß Ihnen klar sein: ich verlang' nicht, daß Sie sich ändern, ich will nur, daß Sie wissen, was die Leute denken. Das müssen Sie, und wenn die Vorurteile dieser Menschen noch so lächerlich sein sollten, wenn Sie sie dirigieren wollen. Haben Sie den Ehrgeiz, die Stadt besser zu machen oder nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich ihn hab' oder nicht!«

»Wieso – warum – aber, aber Unsinn, natürlich haben Sie ihn! Ich brauche Sie. Sie sind eine geborene Reformatorin.«

»Das bin ich nicht – nicht mehr!«

»Natürlich sind Sie's.«

»Oh, wenn ich wirklich helfen könnte – So, man hält mich also für affektiert?«

»Mein Lämmchen, das tut man. Nein, sagen Sie nicht, daß das unverschämt ist. Schließlich ist der Maßstab von Gopher Prairie für Gopher Prairie ebenso vernünftig, wie für Chicago der von Chicago. Und es gibt mehr Gopher Prairies als Chicagos. Oder Londons. Und – Also, ich will Ihnen das Ganze sagen: man glaubt, daß Sie nichts anderes als Eindruck schinden wollen, wenn Sie ein anständiges Englisch reden. Man glaubt, Sie sind zu leichtsinnig. Das Leben ist so ernst, daß man sich kein anderes Lachen als Juanitas Schnaufen vorstellen kann. Ethel Villets war überzeugt davon, daß Sie sie begönnert haben, wie –«

»Nein, das hab' ich nicht!«

»– Sie davon geredet haben, daß man die Leute zum Lesen bringen soll; und Frau Elder hat gemeint, Sie begönnern sie, wie Sie ihr gesagt haben, sie hätte ›einen so reizenden kleinen Wagen‹. Sie hält ihn für einen riesigen Wagen! Und einige von den Kaufleuten sagen, Sie sind zu frivol, wenn Sie mit ihnen im Laden reden, und –«

»Mein Gott, und ich wollte doch nur freundlich sein!«

»Allen Hausfrauen in der Stadt kommt es fragwürdig vor, daß Sie so intim mit Ihrer Bea sind. Es ist ja ganz schön, freundlich zu sein, aber sie sagen, Sie benehmen sich, als ob sie Ihre Kusine wäre. (Warten Sie doch! Es kommt noch mehr.) Und sie meinen, es wäre verstiegen gewesen, wie Sie dieses Zimmer möbliert haben – sie meinen, das breite Ruhebett und das japanische Zeug sind lächerlich. (Warten Sie! Ich weiß, daß es albern ist.) Und so ungefähr ein Dutzend hab' ich an Ihnen aussetzen gehört, daß Sie nicht öfter in die Kirche gehen, und –«

»Das kann ich nicht aushalten – ich kann es nicht ertragen, zu denken, daß diese Leute alles das gesagt haben, während ich so zufrieden war und mir Mühe gegeben habe, sie gern zu haben. Ich weiß nicht, ob Sie es mir überhaupt hätten erzählen sollen. Es wird mich kleinmütig machen.«

»Ich weiß auch nicht. Die einzige Antwort, die ich darauf finden kann, ist das alte Sprichwort, daß Wissen Macht ist. Und eines Tages werden Sie sehen, wie interessant es ist, Macht zu haben. Sogar hier; die Stadt in der Hand zu haben – Ach, ich bin verrückt. Aber ich muß sehen, daß sich etwas rührt.«

»Das tut mir weh. Diese Leute sehen jetzt so gemein und hinterlistig aus, während ich ganz natürlich mit ihnen gewesen bin. Aber jetzt möchte ich schon alles wissen. Was haben sie über meine chinesische Gesellschaft gesagt?«

»Warum – äh –«

»Erzählen Sie nur weiter. Ich würde mir schlimmere Dinge denken, als Sie mir erzählen können.«

»Sie haben sich darüber gefreut. Aber ich glaube, ein paar haben gemeint, Sie protzen – Sie tun so, als ob Ihr Mann reicher wäre, als er ist.«

»Ich kann nicht – Die Gemeinheit dieser Leute geht noch viel weiter, als ich mir je hätte denken können. Sie haben wirklich geglaubt, daß ich – Und Sie wollen solche Leute ›reformieren‹, wenn Dynamit so billig ist? Wer hat sich getraut, das zu sagen? Die Reichen oder die Armen?«

»Eine Auswahl von beiden.«

»Können mich die Leute nicht wenigstens soweit verstehen, um einzusehen, daß ich – selbst wenn ich ein affektierter Bildungsprotz wäre – dieser anderen Gemeinheit einfach unfähig bin? Wenn sie es schon wissen müssen, dann können Sie ihnen meine Grüße bestellen und erzählen, daß Will etwa viertausend im Jahr verdient, und daß die Gesellschaft nicht halb so viel gekostet hat, wie sie vermuten. Chinesische Sachen sind nicht sehr teuer, und mein Kostüm hab' ich mir selber –«

»Hören Sie auf! Hören Sie auf, auf mir herumzuschlagen! Ich weiß das alles. Die Leute haben gemeint: sie waren überzeugt, daß Sie eine gefährliche Konkurrenz beginnen, wenn Sie eine Gesellschaft geben, die sich die meisten Leute hier nicht leisten können. Viertausend ist ein ziemlich großes Einkommen für hier.«

»Ich habe nie daran gedacht, Konkurrenz anzufangen. Wollen Sie mir glauben, daß ich nichts anderes wollte, als in aller Liebe und Freundschaft den Leuten, so gut ich nur konnte, eine recht lustige Unterhaltung bieten? Es war albern; es war kindisch und zu laut. Aber ich hab's gut gemeint.«

»Ich weiß, natürlich. Und es ist wirklich unanständig von ihnen, sich über Ihre chinesischen Speisen – Chow Mein, nicht wahr? – lustig zu machen, und darüber zu lachen, daß Sie sich diese hübschen Hosen angezogen haben –«

Carola sprang auf, schluchzte: »Nein, das haben sie nicht getan! Sie sind nicht über mein Fest hergezogen, das ich so sorgfältig für sie vorbereitet habe! Und mein kleines chinesisches Kostüm, das mir so viel Freude beim Arbeiten gemacht hat – ich hab' heimlich daran gearbeitet, um sie zu überraschen. Und sie haben sich die ganze Zeit lustig darüber gemacht!«

Sie lag auf dem Ruhebett.

Vida fuhr ihr übers Haar: »Ich hätte nicht –«

Vor Beschämung halb' sinnlos, merkte Carola nicht, wann Vida sich fortschlich. Als die Uhr halb sechs schlug, fuhr sie auf. »Ich muß mich wieder in der Hand haben, bevor Will zurück ist … Hoffentlich erfährt er nie, was für eine dumme Gans ich bin … Erfrorene, höhnische, grauenhafte Herzen.«

Wie ein sehr kleines, sehr einsames Mädchen schleppte sie sich die Treppen hinauf, langsam, Stufe um Stufe, mit nachschleifenden Füßen, die Hände am Geländer. Nicht ihr Mann war es, bei dem sie Schutz suchen wollte – ihr Vater war es, ihr lächelnder, verständnisvoller Vater, der jetzt schon zwölf Jahre tot war.

Sinclair Lewis: Die großen Romane

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