Читать книгу Gesammelte Werke - Sinclair Lewis, Sinclair Lewis - Страница 111
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Nicht, wie das andere Geschlecht, noch wie Lob auf ihn wirkt, ist das rätselhafteste an einem Menschen, sondern wie er es zuwege bringt, die vierundzwanzig Stunden eines Tages auszufüllen. Das kann der Hafenarbeiter am Kommis, der Londoner am Buschmann nicht begreifen. Das konnte Carola an der verheirateten Vida nicht begreifen. Carola selbst hatte das Kind, ein größeres Haus, für das sie sorgen mußte, sie erledigte alle telephonischen Anrufe für Kennicott, wenn dieser unterwegs war; überdies las sie alles, während Vida sich mit den Zeitungsüberschriften begnügte.
Doch nach den einsamen, in trostlosen Pensionen verbrachten Jahren hungerte es Vida nach der Hausarbeit, selbst nach ihren langweiligsten Einzelheiten. Sie hatte kein Mädchen und wollte auch keines. Sie kochte, sie buk, fegte, wusch Tischtücher, alles mit dem Triumphgefühl eines Chemikers in einem neuen Laboratorium. Für sie war der Herd wahrhaftig der Altar.
Carola selbst verbrachte die vierundzwanzig Stunden ihres Tages folgendermaßen: sie stand auf, zog das Kind an, frühstückte, sprach mit Oscarina über die Einkäufe des Tages, setzte das Kind zum Spielen auf die Veranda, ging zum Fleischer, um zwischen Steak und Schweinskoteletten zu wählen, badete das Kind, nagelte ein Regal an die Wand, aß zu Mittag, brachte das Kind für den Nachmittagsschlaf ins Bett, bezahlte den Eismann, las eine Stunde, ging mit dem Kind spazieren, besuchte Vida, aß zu Abend, legte das Kind schlafen, stopfte Socken, lauschte Kennicotts gähnenden Bemerkungen darüber, wie dumm es von Dr. McGanum sei, mit seinem billigen X-Strahlenapparat bei einem Hautkrebs etwas anfangen zu wollen, richtete sich ein Kleid, hörte verschlafen, wie Kennicott die Heizung aufschürte, versuchte eine Seite Thorstein Veblen zu lesen – und der Tag war vorbei.
Wenn Hugh nicht gerade besonders ungezogen war, wenn er nicht gerade weinte, lachte oder in aufregender Altklugheit sagte »Ich hab' mein Stühlchen gern«, litt sie unter Einsamkeit. Sie fühlte sich nicht mehr über dieses Unglück erhaben. Sie hätte sich mit Freuden zu Vidas Zufriedenheit mit Gopher Prairie bekehren lassen und den Fußboden aufgewischt.
2
Fraglos, so sagte sich Carola, neigen alle Kleinstädte, in allen Ländern und in allen Zeitaltern, dazu, nicht nur dumm, sondern auch schlecht und böse zu sein und von Neugier geplagt zu werden. In Frankreich oder im Tibet gehören diese Feigheiten ebenso wesentlich zur Isoliertheit wie in Wyoming oder Indiana.
Aber ein Dorf in einem Lande, das gewaltige Anstrengungen macht, ganz normalisiert und rein zu werden, das den Ehrgeiz hat, das victorianische England als größte Mittelmäßigkeit der Welt abzulösen, ein solches Dorf ist nicht mehr bloß provinziell, nicht mehr still und behaglich in seinem laubbeschatteten Unwissen. Es ist eine Kraft, welche die Erde zu beherrschen, Berge und Meer der Farben zu berauben, Dante zur Verkündung der Vorzüge Gopher Prairies auszunützen und die hohen Götter in erstklassige Anzüge von der Stange zu kleiden sucht. Seiner selbst sicher, unterdrückt es andere Zivilisationen, so wie ein Geschäftsreisender in brauner Melone die Weisheit Chinas erobert und Archive, die seit Jahrhunderten die Weisheiten des Confuzius aufbewahren, mit Zigarettenplakaten beklebt.
Eine derartige Gesellschaft funktioniert auf bewundernswerte Weise in der Massenerzeugung billiger Automobile, Eindollar-Uhren und Rasierklingen. Allein, sie gibt sich nicht zufrieden, solange nicht die ganze Welt auch einräumt, daß der Zweck und das fröhliche Ziel des Lebens darin besteht, in schlechten Wagen zu fahren, Reklamezeichnungen für Eindollar-Uhren zu machen und beim abendlichen Plaudern nicht von Liebe und Heldenmut zu sprechen, sondern von den Vorzügen der Rasierklingen.
Und eine derartige Gesellschaft, eine derartige Nation wird von den Gopher Prairies bestimmt. Der größte Fabrikant ist lediglich ein rührigerer Sam Clark, und alle die redegewandten Senatoren und Präsidenten sind Dorfanwälte und Bankiers, die neun Fuß groß geworden sind.
Obgleich ein Gopher Prairie sich für einen Teil der großen Welt hält, sich mit Rom und Wien vergleicht, will es nichts vom wissenschaftlichen Geist, vom internationalen Sinn wissen, der es groß machen würde. Es greift nach Lehren, die greifbar Geld oder gesellschaftliche Vorzüge bringen. Seine Vorstellung vom Ideal einer Gemeinschaft ist nicht die Großzügigkeit, das edle Streben, der schöne adelige Stolz, sondern billige Arbeit für die Küche und rasches Steigen der Bodenpreise. Es spielt auf einem schmierigen Wachstuch in einer Holzhütte Karten und weiß nicht, daß draußen Propheten wandeln und lehren.
Wenn alle Provinzler so freundlich wären wie Champ Perry und Sam Clark, hätte man keinen Grund, zu wünschen, daß die Kleinstadt große Traditionen suche. Die Harry Haydocks, die Dave Dyers, die Jackson Elders, kleine, geschäftige Leute, die sich für Männer von Welt halten, aber immer Männer der Kontrollkasse und der Filmburleske bleiben, in ihrem gemeinsamen Ziel eine furchtbare Macht, diese sind es, welche die Kleinstadt zu einer unfruchtbaren Oligarchie machen.
Universelle Gleichartigkeit – das ist der physische Ausdruck dieser Philosophie dumm-stumpfen Geborgenseins. Neun Zehntel der amerikanischen Kleinstädte sind so gleich, daß es der Gipfel der Langeweile ist, von einer zur anderen zu wandern. Westlich von Pittsburgh und oft auch östlich davon findet man immer den gleichen Holzhof, die gleiche Eisenbahnstation, die gleiche Ford-Garage, die gleiche Molkerei, die gleichen kistenähnlichen Häuser und Zwei-Stock-Geschäfte. Die neuen, selbstbewußteren Häuser gleichen sich sogar in ihren Versuchen zur Verschiedenheit: die gleichen Bungalows, die gleichen viereckigen Häuser mit Stuck oder Ziegelverputz. In den Läden sieht man die gleichen normalisierten, durch die ganze Union angepriesenen Waren; die Zeitungen von Landesteilen, die dreitausend Meilen voneinander entfernt sind, haben die gleichen »uniform hergestellten Teile«; der Junge in Arkansas trägt den gleichen, fertiggekauften Anzug wie der Junge in Delaware, beide gebrauchen die gleichen Jargonausdrücke aus den gleichen Sportbeilagen, und wenn einer von ihnen im College ist und der andere als Friseur arbeitet, so kann kein Mensch ahnen, welcher der eine, welcher der andere ist.
Packte man Kennicott und versetzte ihn im Nu aus Gopher Prairie in eine meilenweit entfernte Stadt, er würde nichts merken. Er würde anscheinend die gleiche Hauptstraße (sicherlich würde sie Hauptstraße heißen) entlang gehen, in der gleichen Drogerie würde er die gleichen jungen Männer den gleichen jungen Frauen mit den gleichen Magazinen und Grammophonplatten unter dem Arm die gleiche Eiscrême-Soda servieren sehen. Erst wenn er die Stufen zu seinem Büro hinaufgegangen wäre und ein anderes Schild an der Tür, drinnen einen anderen Dr. Kennicott gefunden hätte, wäre ihm klar geworden, daß aller Wahrscheinlichkeit nach etwas Absonderliches vor sich gegangen sei.
3
Nach allen ihren Erklärungsversuchen begriff Carola schließlich, daß die Präriestädte ebensowenig den Zweck haben, den Farmern, die ihr eigentlicher Existenzgrund sind, zu dienen, wie das Großkapital; sie haben den Zweck, sich an den Farmern zu mästen und den Städtern große Automobile und gesellschaftlich höhere Stellungen zu schaffen; und, ganz anders als die Hauptstädte, geben sie ihrem Distrikt für den mit ihm getriebenen Wucher nicht ein prunkvolles und bleibendes Zentrum, sondern nur dieses armselige Nest. Es ist eine »griechische Parasitenzivilisation« – ohne die Zivilisation.
»Da wären wir also«, sagte Carola. »Das Heilmittel? Gibt es denn überhaupt eines? Kritik vielleicht, für den allerersten Anfang. Oh, alles, was die Stammesgottheit Mittelmäßigkeit angreift, hilft ein wenig … und wahrscheinlich gibt es nichts, was wirklich viel hilft. Vielleicht werden die Farmer eines Tages sich selbst ihre Marktstädte bauen und Herren darüber sein. (Denken Sie nur, was für Klubs sie haben könnten!) Aber ich fürchte, ich habe gar kein ›Reformprogramm‹. Jetzt nicht mehr! Das Leiden ist ein geistiges, und keine Liga und keine Partei kann verfügen, daß den Menschen Gärten lieber sind als Schutthaufen … Das ist mein Bekenntnis. Nun?«
»Mit anderen Worten, was Sie wollen, ist Vollkommenheit?« fragte Vida.
»Ja! Warum nicht?«
»Wie ist Ihnen dieser Ort verhaßt! Wie können Sie erwarten, etwas mit ihm anzufangen, wenn Sie gar kein Mitgefühl haben?«
»Aber das habe ich doch! Sogar Zärtlichkeit. Sonst würde ich ja nicht so toben. Ich habe mittlerweile gelernt, daß Gopher Prairie nicht nur ein Ausschlag auf der Prärie ist, wie ich zuerst dachte, sondern daß es so groß ist wie New York. In New York würde ich nicht mehr als vierzig oder fünfzig Menschen kennen, und soviel kenne ich auch hier. Vorwärts! Sagen Sie mir, was Sie denken!«
»Ja, meine Liebe, wenn ich alle Ihre Ideen wirklich ernst nehmen wollte, müßte ich fast die Flinte ins Korn werfen. Stellen Sie sich vor, wie einem Menschen, der jahrelang schwer gearbeitet und dabei mitgeholfen hat, eine nette Stadt aufzubauen, zumute sein muß, wenn Sie plötzlich hochmütig daherkommen und ganz einfach sagen: ›Miserabel!‹ Halten Sie das für anständig?«
»Warum denn nicht? Die Gopher Prairier müßten ebenso den Mut verlieren, wenn sie Venedig sehen und Vergleiche anstellen würden.«
»Durchaus nicht! Ich stelle mir vor, daß Gondeln ganz nett zum Fahren sind, aber wir haben bessere Badezimmer! Aber – Meine Liebe, Sie sind nicht der einzige Mensch in dieser Stadt, der selbst ein wenig nachgedacht hat, obwohl ich (entschuldigen Sie meine Ungezogenheit) fürchte, daß Sie dieser Meinung sind. Ich will zugeben, daß uns einiges fehlt. Vielleicht ist unser Theater nicht so gut wie die Vorstellungen in Paris. Zugegeben! Ich will keine ausländische Kultur, die uns plötzlich aufgedrängt wird – ob es nun das Straßenbild oder Tischmanieren oder verrückte kommunistische Ideen sind.«
Vida sprach von Dingen, in ihrer Terminologie »praktischen Dingen, die eine Stadt glücklicher und hübscher machen, aber zu unserem Leben gehören und wirklich getan werden können«. Sie redete vom Thanatopsisklub, von dem Warteraum, dem Kampf gegen die Moskitos, vom Feldzug für Gärten und Bäume, und von Kanalisation – Angelegenheiten, die nicht phantastisch und verschwommen und fern seien, sondern naheliegend und durchführbar.
Carolas Antwort war phantastisch, und verschwommen genug:
»Ja … ja … ich weiß. Das ist gut. Aber auch wenn ich alle diese Reformen sofort durchführen könnte, würde ich doch etwas Aufregendes und Exotisches wollen. Das Leben hier ist schon bequem und sauber genug. Und so sicher. Was es braucht, ist weniger Sicherheit und mehr Feuer. Was der Thanatopsis meiner Ansicht nach befürworten sollte, das sind Stücke von Strindberg, antike Tänze – schöne Beine unter Schleiern – und (ich sehe ihn ganz deutlich vor mir!) einen dicken, zynischen Franzosen mit schwarzem Bart, der herumsitzen und trinken, Opern singen und zweideutige Geschichten erzählen, über unsere Korrektheiten lachen, Rabelais zitieren und sich nicht schämen würde, mir die Hand zu küssen!«
»Aha! Wie's mit dem übrigen ist, weiß ich nicht sicher, aber ich glaube, Sie und alle anderen unzufriedenen jungen Frauen wollen im Grunde nichts anderes als irgendeinen Fremden, der euch die Hand küßt!«
Nach solchen Gesprächen war Vida empört; Carola entschuldigte sich; dann redeten sie wieder weiter, ewig Maria und Martha – eine Maria, die sich gegen die Moral empörte, und eine Martha, die reformieren wollte. Und Vida siegte.