Читать книгу Gesammelte Werke - Sinclair Lewis, Sinclair Lewis - Страница 230
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ОглавлениеElmer Gantry war achtundzwanzig Jahre alt, seit zwei Jahren reiste er für die Pequot Company.
Eggen und Harken und Sämaschinen; rotgestrichene Pflüge und goldgestreifte grüne Wagen; Kataloge und Bestellisten; durch Glaswände von dunklen Lagerräumen abgetrennte Kontore; hemdsärmelige Kaufleute auf hohen Stühlen vor hohen Pulten; die Kneipe an der Ecke; stickige kleine Hotels und Lunchlokale; das Warten auf Züge, die halbe Nacht durch, in schmutzigen Räumen auf Anschlußstationen; Züge, Züge, Züge; Züge, Fahrpläne und fröhliche Rückkehr in sein Hauptquartier in Denver; eine Trinkerei, ein Theater, Gottesdienst in einer großen Kirche.
Er trug einen gewürfelten Anzug, braune Glocke, gestreifte Socken, den großen Ring mit dem Opal und den goldenen Schlangen, den er sich vor langer Zeit gekauft hatte, geblümte Krawatten und, was er »Phantasiewesten« nannte – Kleidungsstücke aus Gelb mit roten Tupfen, grün mit weißen Streifen, aus Seide oder verwogenem Sämischleder.
Er hatte eine ganze Serie kleiner Liebschaften, von denen aber keine wichtig genug war, um dauern zu können.
Er war nicht erfolglos. Er war ein guter Sprecher, ein hervorragender Händeschüttler, auf sein Wort konnte man sich oft verlassen, und er hatte die meisten Preislisten und alle neuen schmutzigen Geschichten im Kopf. Im Bureau in Denver war er bei »den Jungs« beliebt. Er verfügte über eine unfehlbare »Nummer« – eine Predigtparodie. Man wußte, daß er studiert hatte, um Prediger zu werden, aber wacker zu dem Schluß gekommen wäre, dies sei keine Beschäftigung für einen »ganzen Kerl mit zwei Fäusten,« und daß er »den Profs Bescheid gesagt hätte, wo sie hingehörten.« Ein hoffnungsvoller und lobenswerter Bursche, der aller Voraussicht nach eines Tages Verkaufsdirektor sein würde.
Trotz allen Ausschweifungen hielt Elmer sich genügend im Training, um keinen Bauch zu bekommen und sich eine gute Haltung zu bewahren. Diakon Bains höhnische Bemerkung, daß er weich würde, hatte ihn entsetzt, er machte allmorgendlich in seinem Hotelzimmer ernsthafte Gymnastik; an den Abenden spielte er Kegel oder boxte in Y.M.C.A.-Turnhallen; wenn er in größeren Städten war, schwamm er feierlich in Bassins auf und ab wie ein weißer Delphin.
Er fühlte sich wohl und ebenso stark wie seinerzeit in Terwillinger.
Elmer war aber keineswegs glücklich.
Er wußte es zu schätzen, daß er frei war von den Seminargesetzen, frei von dem Schuldgefühl, das in der Seminarzeit auf seine Abenteuer in Monarch gefolgt war, frei von den unverständlichen Debatten zwischen Harry Zenz und Frank Shallard, doch er entbehrte das Vorsingen bei den alten Hymnen, den Klang seiner eigenen Stimme, das Gefühl seiner Macht, wenn er ein Auditorium mit seiner Predigt in Bann hielt. An allen Sonntagabenden ging er (wenn er nicht gerade ein Rendezvous mit einer Kellnerin oder einem Stubenmädchen hatte) in die seinem Hotel nächstgelegene evangelische Kirche. Es machte ihm Spaß, die Predigten fachmännisch zu kritisieren.
»Herr Gott, könnt' ich den armseligen Idioten nach Haus schicken! Bloß das Evangelium ist ja ganz gut, wenn er nur paar literarische Zitate reinbringen und mehr auf die Saloonwirte losgehen würde, könnt' er ihnen allen einheizen.«
Er sang so gewaltig, daß die Pfarrer ihm trotz einem gewissen Tabak- und Whiskygeruch, der von ihm ausging, immer die Hand mit besonderer Wärme drückten und sagten, daß sie sich freuten, den Bruder heute abend bei sich zu sehen.
Wenn er in wirklich erfolgreiche Kirchen kam, verwandelte sein Geschäftseifer sich in eine ausgesprochene Sehnsucht, zum Predigen zurückzukehren; er brannte danach, hinaufzutreten, den Geistlichen von seiner Kanzel zu stoßen und den Dienst zu versehen, statt einfach unbemerkt und unbewundert dort hinten zu sitzen, als ob er ein ganz gewöhnlicher Laie wäre.
»Diese Schafsköpfe würden schauen, wenn sie wüßten, was ich bin!« dachte er.
Nach derartigen Erlebnissen war es eine Qual, am Montagvormittag mit einem langweiligen Kaufmann über Rabatte auf Dungstreuer zu sprechen; es war zum Verzweifeln, in einer mit Spucknäpfen gefüllten Hotelhalle auf die Abfahrt des Zuges zu warten – statt in einem eleganten Kirchenbureau mit Büchern zu sitzen, hübschen Sekretärinnen Aufträge zu geben und sich vor Rat und Hilfe suchenden Sündern aufzublähen. Es war nur ein kleiner Trost für ihn, daß er ganz offen in jeden Saloon gehen und brüllen konnte: »Reinen Korn, Bill!«
Eines Sonntagabends kam er in einer Stadt in West-Kansas vor eine armselige kleine Kirche und las auf dem Anschlag draußen:
Heute morgen: Die Bedeutung der Erlösung
Heute abend: Ist das Tanzen vom Teufel?
ERSTE BAPTITSTENKRICHE
Pastor: Der Rev. Edward Fislinger, B.A., B.D.
»Ach Gott!« stöhnte Elmer. »Eddie Fislinger! In so 'nem Dorf mußte der ja landen! Der wird was von der Bedeutung der Erlösung oder irgend 'nem anderen Dogma wissen, dieses Murmeltier in Menschengestalt! Oder vom Tanzen! Wenn er mit mir in Denver gewesen war' und bei Billy Portifero mal 'ne Zehe hingelegt hätte, könnt' er drüber reden. Fislinger – muß derselbe Kerl sein. Ich werd' mich ganz vorn hinsetzen und ihm die Suppe versalzen!«
Eddie Fislingers Kirche war ein Achteck, mit der Kanzel in einer Ecke, ein Arrangement, das eine seltsame, ziemlich verwirrende Wirkung hervorbrachte. Innen war sie leuchtend gelb gestrichen, an den Wänden hingen viele Anschläge: »Mach deine Rechnung mit Gott«, »Wo willst du in der Ewigkeit sein?« und »Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott.« Das Sonntagsschulprotokoll hinter der Kanzel gab Kunde davon, daß dem Unterricht heute einundvierzig beigewohnt hätten, gegen neununddreißig in der letzten Woche, und das Sammlungsergebnis sich auf neunundachtzig Cents beliefe, gegen nur siebenundsiebzig.
Elmer machte mit seinem gewürfelten Anzug großen Eindruck auf den Platzanweiser, einen Maurer mit sauberem Kragen, und wurde in die vorderste Reihe geführt.
Eddie errötete höchst erfreulich, als er von der Kanzel aus Elmer erblickte, setzte zu einer Verbeugung an, unterdrückte sie, blickte unbestimmt in die Richtung des Himmels und versuchte herablassend zu lächeln. Zu Beginn seiner Predigt war er nervös, schien aber dann auf den Gedanken zu kommen, daß seine Offensive gegen die Sünde – die bisher eine akademische, mechanische Angelegenheit ohne Beziehung auf eine bestimmte Person aus seiner schrecklich tugendhaften Herde gewesen war, zu etwas Wirklichem gemacht werden könnte. Mit seinem rührenden, eichhörnchenartigen Eifer sah er zu Elmer herab, und, was er sagte, war so gut wie eine Aufforderung an diesen, zum Teufel zu gehen und damit erledigt zu sein. Doch er besann sich eines Besseren und schloß mit der Bemerkung, daß Gott vielleicht sogar Elmer Gantry eine Gelegenheit geben könnte, wenn Elmer aufhörte zu rauchen, zu fluchen und gewürfelte Anzüge zu tragen. (Wenn er Elmer auch nicht namentlich erwähnte, durch giftige Blicke bezeichnete er ihn ganz genau.)
Elmer war wütend, dann betont unschuldig, schließlich gelangweilt. Er musterte die Kirche und zählte die Zuhörerschaft – siebenundzwanzig außer Eddie und dessen Frau. (Es stand ganz außer Frage, daß die junge Frau, die im vordersten Kirchenstuhl bewundernd aufblickte, Eddies Ehegemahl war. Sie hatte das erbärmlich verhungerte und hausgeschneiderte Aussehen einer Predigersfrau.) Als die Predigt zu Ende war, empfand Elmer Mitleid mit Eddie. Er sang die Schlußhymne »Er ist die Maienblume« mit schöner, salbungsvoller Anmut, stürzte sich mit Macht auf das jubilierende »Hallelujah« und wartete, um Eddie verzeihend die Hand zu drücken.
»Nanu, nanu, nanu,« sagten sie beide, und: »Was machst du in der Gegend?« Dann meinte Eddie: »Wart, bis alle gegangen sind – ich muß 'nen guten, schönen Tratsch mit dir haben, alter Junge.«
Als er mit den Fislingers zu dem einen Block entfernten Pfarrhaus ging und dann bei ihnen im Wohnzimmer saß, wollte Elmer wieder Prediger sein, Eddie seinen Posten wegnehmen und ihn gewandt versehen; aber die deprimierende Armseligkeit von Eddies Leben stieß ihn ab. Seine Hotelschlafzimmer waren schmierig genug, aber doch wenigstens frei von ewig fragenden Pfarrkindern, und mindestens ebenso komfortabel wie dieser Salon mit seiner regenfleckigen Decke, den kahlen Fichtendielen, den ausgesessenen Stühlen und dem beständigen Geruch nach feuchten Lappen. Es waren bereits – zwei Jahre nach Eddies Hochzeit – zwei Babies da, die aussahen, als ob sie nahezu ganz ohne Sünde empfangen worden wären; außerdem war eine Schwägerin mit völlig ausdruckslosem Gesicht da, welche die Kinder während des Gottesdienstes versorgte.
Elmer wollte rauchen und konnte sich trotz all seiner Übung in den ewigen Mysterien nicht entscheiden, ob es interessanter sein würde, Eddie durch Rauchen zu ärgern, oder ihn durch Enthaltsamkeit zu gewinnen.
Er rauchte und wünschte, er hätte es nicht getan.
Eddie bemerkte es, seine schnarrend sprechende Frau bemerkte es, die Schwägerin war starr vor Staunen, und alle drei bemühten sich vorzutäuschen, daß sie es nicht sähen.
Elmer kam sich bei ihnen groß, weltweise und wohlhabend vor, wie ein Citymakler, der bei einem Bauernvetter zu Besuch ist und sich überlegt, welche seiner Geschichten von goldenen Türmen simpel genug wäre, um geglaubt zu werden.
Eddie erzählte ihm die Neuigkeiten aus Mizpah. Frank Shallard hatte eine kleine Kirche in einer Stadt, die Catawba hieß und, vom Seminar aus gerechnet, am anderen Ende des Staates Winnemac lag. Wegen seiner Ordinierung hatte es einige Schwierigkeiten gegeben, denn er war sogar bei einer so klaren und erwiesenen Tatsache wie der jungfräulichen Geburt schwankend gewesen. Doch sein Vater und Dekan Tosper hatten sich für ihn verbürgt, und Frank war ordiniert worden. Harry Zenz hatte eine große Kirche in einer westvirginischen Minenstadt. Wallace Umstead, der Turnlehrer, »machte sich fein« in der Y.M.C.A. Professor Bruno Zechlin war tot, der arme Kerl.
»Was ist denn aus Horace Carp geworden?« erkundigte sich Elmer.
»Ja, das ist das Merkwürdigste von allem. Horace ist in die Episkopalkirche gegangen, wie er immer schon gesagt hat.«
»Ja, ja, was du da nicht sagst!«
»Jawohl, mein Lieber, sein Vater ist ganz kurz nach seiner Ordinierung gestorben, im Handumdrehen war er Anglikaner, hat ein Jahr im Generalseminar absolviert, und jetzt sagen alle, er macht sich recht gut, dabei ist er so natürlich hochkirchlich wie alle Ausgetretenen.«
»Na, du scheinst's hier ja ganz schön zu haben, Eddie. Nette Kirche.«
»Na ja, sie ist nicht gerade groß, aber es sind schrecklich gute Leute. Und alles geht ausgezeichnet. Ich hab die Mitgliederzahl nicht so sehr vergrößert, aber ich geb' mir ordentlich Mühe, die, die ich jetzt hab', im Glauben zu stärken, und dann, wenn ich merk', daß jeder von denen ein Inspirationszentrum ist, dann werd' ich so weit sein, mit einer evangelischen Campaign anfangen zu können, und du wirst sehen, daß sich die alte Kirche schneller rausmacht – jawohl, mein Lieber – ganz einfach über Nacht verdoppelt … Wenn sie sich nur nicht so viel Zeit ließen, das Gehalt und die Steuer zu bezahlen … Gute, anständige Leute, richtig gerettet, aber das Geld halten sie doch bißchen fest.«
»Wenn Sie sehen könnten, wie mein Herd demoliert ist, und wie der Ausguß einen neuen Anstrich braucht«, sagte Mrs. Fislinger – das war ihre Hauptbemerkung an diesem Abend.
Elmer kam sich wie ein Gefangener vor und glaubte ersticken zu müssen. Er floh. An der Tür hielt Eddie ihn an beiden Händen und bat: »Ach, Elm, ich werd' dich nie aufgeben, bis ich dich zurückgebracht hab'! Ich werd' beten. Ich hab' dich bei der Bekehrung gesehen. Ich weiß, was du kannst!«
Frische Luft, ein trotziger Trunk Korn, lautes Lachen, ein Eisenbahnzug – an alle dem hatte Elmer nach dieser Dumpfheit Freude. Schon besaß Eddie nicht mehr das fromme Feuer, das er einst in der Y.M.C.A. gezeigt hatte, schon war er alt, behäbig geworden, hatte kein Abenteuer vor sich, wartete auf den Tod.
Doch Eddie hatte gesagt –
Zusammenzuckend besann er sich darauf, daß er noch immer Baptistengeistlicher war! Aller Opposition Trospers zum Trotz konnte er predigen. Mit abergläubischem Unbehagen hörte er noch einmal Eddies Beschwörung: »Ich werd' dich nie aufgeben, bis ich dich zurückgebracht hab'.«
Und – ganz einfach Eddies Kirche zu nehmen und zu zeigen, was er damit anfangen könnte 1 Bei Gott, er würde diese Bauernschädel schon rumkriegen und zum Zahlen bringen!
Er jagte quer durch den Staat, seine Mutter aufzusuchen.
Seine Schmach in Mizpah hatte sie, wie sie sagte, fast getötet. Voll banger Hoffnung hörte sie nun sein Versprechen, daß er vielleicht, wenn er die Welt gesehen und sich die Hörner abgelaufen hätte, wieder in den Dienst zurückkehren würde. In frommer Stimmung (die ihn glücklicherweise nicht daran hinderte, sich wichtige Kreditinformationen zu verschaffen, indem er einen Buchhalter betrunken machte) kam er nach Sautersville, Nebraska, einer häßlichen, unternehmenden Industriestadt mit zwanzigtausend Einwohnern. Und in dieser frommen Laune sah er die Plakate einer Evangelistin, einer gewissen Sharon Falconer, einer Prophetin, von der er bereits gehört hatte.
Vom Hotelsekretär und den Farmern im Gerätemagazin erfuhr er, daß Miss Falconer mit Unterstützung der meisten protestantischen Kirchen in der Stadt in einem Zelt Union-Meetings abhielt; sie versicherten ihm, daß sie schön und beredt sei, daß sie eine stattliche Anzahl von Hilfskräften mit sich führe, daß sie das »Großartigste, was jemals in diesen Flecken gekommen ist«, sei, daß man sie mit Moody, mit Gipsy Smith, mit Sam Jones, J. Wilbur Chapman vergleichen könne, und mit diesem neuen Baseball-Evangelisten, dem Billy Sunday.
»Das ist Unsinn. Keine Frau kann das Evangelium predigen«, erklärte Elmer als Fachmann.
Doch er besuchte noch an diesem Abend Miss Falconers Meeting.
Das Zelt war ungeheuer groß; es mußte dreitausend Leute auf Sitzplätzen fassen, und weitere tausend konnten stehend untergebracht werden. Es war nahezu voll, als Elmer kam und sich majestätisch mit den Ellbogen seinen Weg nach vorn bahnte. An der Frontseite des Zeltes stand ein merkwürdiger Aufbau, ganz anders als die Tribünenkanzel mit der amerikanischen Flagge der Durchschnittsevangelisten. Es war eine pyramidenähnliche Konstruktion aus weißem Holz mit vergoldeten Kanten, die drei Tribünen hatte; eine für den Chor, weiter oben eine mit einer Sitzreihe für die Ortsgeistlichkeit; und an der Spitze eine kleine Tribüne mit einer Kanzel, die Muschelform hatte und in den Regenbogenfarben bemalt war. Rosen und Wein bedeckten sie über und über.
»Heiliger Strohsack! Richtige Zirkusausstattung! Genau, was von einer verrückten Evangelistin zu erwarten ist!« war Elmers Urteil.
Die oberste Tribüne war noch leer; wahrscheinlich hatte sie die Bestimmung, die Reize der Miss Sharon Falconer zur Geltung zu bringen.
Der gemischte Chor, in Talaren und viereckigen Baretten, sang: »Werden wir am Fluß vereint?« Ein junger Mann, schlank, zu hübsch, mit zu geschweiftem Mund, mit Priesterweste und umgekehrtem Kragen, las an einem Pult auf der zweiten Plattform aus der Bibel vor. Er war Oxforder, und Elmer hatte fast noch nie einen Engländer vorlesen hören.
»Hu! 'N Zierbengel ist er, und weiter nichts! Die Gesellschaft wird nicht weit kommen. Zu viel Röcke. Kein Mumm. Kein gutes altes Evangelium, mit dem man die Kunden anlocken kann«, spottete Elmer.
Eine Pause. Alles wartete ein wenig unbehaglich. Die Augen wanderten hinauf zur obersten Tribüne. Elmer riß den Mund auf. Aus einem Raum hinter der Tribüne kommend, ganz langsam herauskommend, erschien, die schönen Arme ihnen entgegengestreckt, eine Heilige. Sharon Falconer war jung, bestimmt noch unter dreißig, majestätisch, schlank und hoch; in dem langen schmalen Gesicht, den schwarzen Augen, dem Glanz des schwarzen Haares barg sich Verzückung oder heiße Leidenschaft. Die Ärmel ihres schlichten weißen Gewandes, das ein rubinroter Samtgürtel zusammenfaßte, waren geschlitzt und fielen von ihren Armen zurück, als sie alle an sich zog.
»Gott!« betete Elmer Gantry, und in diesem Augenblick bekam sein planloses Leben einen Plan und ein festes Ziel. Er mußte Sharon Falconer haben.
Ihre Stimme war warm, etwas belegt, unglaublich lebendig.
»Oh meine Lieben, meine Lieben, ich will heute abend nicht predigen – wir alle sind es so müde, unaufhörlich zu predigen, daß wir brav und gut sein sollen! Ich will euch nicht erzählen, daß ihr Sünder seid, denn wer unter uns ist es nicht? Ich will euch nicht die Schrift erklären. Wir alle haben es satt, die Bibel von müden alten Männern in nasalem Ton erklärt zu hören! Nein! Wir wollen die goldenen Schriftzüge suchen, die in unsere Herzen geschrieben sind, wir wollen miteinander singen, miteinander lachen, miteinander fröhlich sein wie muntere Bächlein im April, fröhlich sein und frohlocken, daß in uns der wahrhaftige Geist des ewig währenden, erlösenden Christus Jesus lebt!«
Elmer hatte keine Ahnung, was das für Worte waren, oder was sie bedeuten sollten – wenn überhaupt jemand eine Ahnung davon hatte. Das alles war kosende Musik für ihn, und am Ende, als sie über die geschweiften, mit Blumengewinden geschmückten Stufen zur untersten Plattform hinunterlief, ihre Arme ausstreckte und alle beschwor, den Frieden des Heils zu suchen, mußte er mit den Bekehrten nach vorn und in der zuckenden Reihe unter dem Segen ihrer ausgestreckten Hände niederknien.
Aber er war nicht in mystische Ekstase versenkt, er war der Kritiker, der wohl von der Aufführung bewegt war, aber ganz genau wußte, daß er seine Besprechung in die Zeitung bringen müßte.
»Das ist die Gesellschaft, die ich gesucht habe! Hier könnt' ich's zu was bringen! Was der englische Prediger kann, kann ich schon lange. Und Sharon – ach, ist die süß!«
Sie ging die Reihe der Bekehrten und fast Bekehrten entlang, legte ihnen ihre leuchtenden Hände auf den Kopf. Seine Schultern bebten im Bewußtsein ihrer Nähe. Als sie zu ihm kam und ihn aufforderte, mit ihrer erregenden Stimme: »Bruder, wollen Sie nicht die Seligkeit in Jesus finden?« beugte er sich nicht tiefer, wie die anderen, schluchzte nicht, sondern sah voll Munterkeit direkt zu ihr auf und suchte ihren Blick zu fangen, während er flötete: »Es ist schon Seligkeit, nur Ihre wunderbare Botschaft empfangen zu haben, Schwester Falconer!«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, sie erblaßte und ging sofort weiter.
Er kam sich geohrfeigt vor. »Ich werd' ihr noch zeigen!«
Er trat zur Seite, als die Menschenmenge hinausschwankte. Er fing ein Gespräch mit dem feinen jungen Engländer an, der den Schrifttext verlesen hatte – es war Cecil Aylston, Sharons erster Assistent.
»Eine kolossale Freude für mich, daß ich heute abend hier bin, Bruder«, plapperte Elmer. »Ich bin zufällig selber Baptistenprediger. Ein herrliches Meeting! Und Sie haben den Text einfach begeisternd gelesen.«
Cecil Aylston musterte mit einem raschen Blick Elmers gewürfelten Anzug und die Phantasieweste, dann sagte er: »Oh. Wirklich? Ausgezeichnet. Sehr lieb von Ihnen, tatsächlich. Wenn Sie mich freundlichst entschuldigen wollen?« Es vermehrte auch keineswegs Elmers Sympathien, daß Aylston ihn wegen einer der Allermindesten von den Wartenden stehen ließ, wegen eines alten Weibes mit einem zerbrochenen, herunterhängenden Strohhut.
Elmer tat Cecil Aylston ab: »Zum Teufel mit ihm! Den werden wir bald los sein! Einen Mann wie ich, mich läßt er abfahren, und dann übertreibt er noch so, daß er sich ganz überflüssigerweise mit einer Alten abgibt, die wahrscheinlich schon gerettet ist und, weiß der liebe Himmel, nicht einmal mit einer ganzen Waggonladung Gin abtrünnig gemacht werden könnte! Damit bist du erledigt, mein junger Freund! Und mein gewürfelter Anzug gefällt dir auch nicht. Freilich, ich kauf mir ganz bestimmt meine Kleider nur, um's dir rechtzumachen, selbstverständlich!«
Er wartete und hoffte noch eine Gelegenheit zu finden, mit Sharon Falconer zu sprechen. Auch andere warteten. Sie winkte ihnen allen mit der Hand, schenkte ihnen ihr großartiges Lächeln, rieb sich die Augen und bat: »Wollt ihr mir verzeihen? Ich seh' schon gar nichts mehr, so müd bin ich. Ich muß mich ausruhen.« Sie verschwand in die Mysterien hinter der prunkvollen goldweißen Pyramide.
Selbst jetzt, da sie vor Müdigkeit wankte, war ihr Ton nicht nachlässig; er war erfüllt von jener dämmernden Leidenschaft, die Elmer noch mehr gefangen hatte als ihre Schönheit … »Ich hab' noch nie eine Dame wie die gesehen,« überlegte er, als er langsam in sein Hotel zurückging. »Das Gesicht ist bißchen mager. Sonst ist mir's ja rundlich lieber. – Und doch – Herr Gott! ich könnt' mich in sie verlieben, wie ich mich noch nie in meinem Leben in wen verliebt hab' … So dem dreckigen Engländer gefallen meine Kleider nicht! Sind ihm wohl zu auffallend. Na, von mir aus kann er sie sich auf den Hut stecken! Hat sonst noch wer was gegen meine Kleider?«
Das schlummernde Universum antwortete nicht, er war fast zufrieden. Und am nächsten Morgen um acht Uhr – Sautersville besaß einen ausgezeichneten, von den Messrs. Erbsen und Goldfarb geführten Kleiderladen – um acht Uhr war Elmer dort und erstand einen bescheidenen zweireihigen braunen Anzug und drei prächtige, aber einfache Krawatten. Er hetzte Mr. Goldfarb und erreichte, daß die Änderungen um halb zehn fertig waren, um zehn Uhr schlich er großartig vor dem Erweckungszelt herum … An diesem Tag hätte er in die nächste Stadt weiterfahren sollen.
Sharon erschien erst um elf Uhr, um ihren Mitarbeiterinnen einen Vortrag zu halten; mittlerweile jedoch stürzte Elmer sich in eine Bekanntschaft mit Art Nichols, einem hageren Yankee, der früher Barbier gewesen war und jetzt in dem drei Mann starken Orchester, das Sharon mit sich führte, Piston und Waldhorn blies.
»Ja, es ist ja ein ganz gutes Geschäft«, sagte Nichols langsam. »Besser als Barbieren und besser als die Jahrmarktsgeschichten – oh, ich bin ein richtiger Komödiant; hab' in Buden gespielt – das hier ist leichter. Keine Straßenumzüge, und außerdem tun wir wohl ziemlich viel Gutes, Seelen retten und so weiter. Nur scheinen diese frommen Leute noch mehr miteinander zu streiten als Künstler.«
»Wohin geht Ihr von hier?«
»In fünf Tagen machen wir Schluß, dann sammeln wir ein, hauen ab von da und springen rüber nach Lincoln, Nebraska; dort fangen wir dann drei Tage später an. Richtiger Katzensprung – wir kriegen nicht mal 'nen Pullman – fahren von hier im gewöhnlichen Personenwagen um elf Uhr abends weg und kommen um eins in Lincoln an.«
»Sonntag abend fahrt Ihr weg, so? Komisch. Ich werd' im gleichen Zug sein. Muß selber auch nach Lincoln.«
»Na also, dann können Sie dort ja auch zu uns kommen. Beim ersten Meeting spiel' ich immer ›Jerusalem, du Goldene‹ auf dem Piston. Das schmeißt sie alle um. Da sagen sie immer, daß nur das Salbadern die Sünder in Schuß bringt und hereinlockt, aber glauben Sie das nicht – die Musik macht's. Wissen Sie, ich kann mit meinem E-moll-Piston mehr dreckige Sünder zum Heulen bringen, als neun Evangeliumskünstler, die sich gleichzeitig die Lunge herausreden!«
»Ich glaub's gern, daß Sie das können, Art. Hören Sie, Art – ich bin ja selber auch Prediger, nur vorübergehend geschäftlich tätig, während ich alles für eine neue Stellung vorbereite.« Art machte eine Miene, als dächte er nicht daran, Geld herzuleihen. »Aber ich glaub' den ganzen Unsinn nicht, daß man sich nie amüsieren darf; Paulus hat ja auch gesagt, man soll ein bißchen Wein für seinen Magen nehmen; die Stadt hier ist trocken, aber ich komm' noch vor Sonnabend in eine nasse, und wenn ich 'ne Flasche Korn in der Tasche hätt' – wie wär' das?«
»Na, ich hab' meinen Magen schrecklich gern – und tu' auch gern was für ihn!«
»Was für'n Mensch ist denn der Engländer? Wohl die rechte Hand von Miß Falconer.«
»Ach, der ist ein ganz feiner Kerl, aber mit uns Jungens scheint er nicht auszukommen.«
»Hat sie ihn gern? Wie heißt er?«
»Cecil Aylston heißt er. Ach, Sharon hat ihn zuerst ja 'ne Weile gemocht, aber 's soll mich nicht wundern, wenn sie jetzt seine Superklugheit satt hat, und seine Art, nie gemütlich zu werden.«
»Na, ich muß Miß Falconer eine Sekunde sprechen. Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben, Art. Auf Wiedersehen Sonntag abend im Zug.«
Sie hatten vor einem der zwölf Zelteingänge gesprochen. Elmer beobachtete Sharon Falconer, als sie rasch ins Zelt trat. Jetzt war sie keine Hohepriesterin im griechischen Gewand, sondern eine Geschäftsfrau mit Strohhut, grauem Kostüm, weißer Hemdbluse, Leinenmanschetten und Kragen. Nur eine blaue Schleife und das edelsteinbesetzte Kreuz an ihrer Uhrkette unterschieden sie von den Frauen in Bureaux. Doch Elmer, der jede Einzelheit an ihr sammelte wie ein Nuggets zusammenkratzender Goldgräber, wußte jetzt, daß sie nicht flachbrüstig war, wie es in dem weiten Gewand ausgesehen hatte.
Sie sprach zu den »persönlichen Arbeiterinnen«, den jungen Frauen, die freiwillig in den Hütten Gebetsandachten abhielten und von Haus zu Haus gingen, um eventuelle geistliche Kundschaft zu interessieren.
»Meine lieben Freundinnen, ich bin ja sehr froh, daß Ihr alle betet, aber es kommt eine Zeit, in der man auch noch ein bißchen Sohlenleder dran setzen muß. Während Ihr Euch nach dem Reich sehnt – hat der Teufel seine sehnsuchtsvollen Nächte, und bei Tag schießt er herum, um die Leute aufzusuchen und mit ihnen zu reden! Schämt Ihr Euch, hineinzugehen und die Leute aufzufordern, sie mögen zu Christus kommen – oder wenigstens zu unseren Meetings kommen? Ich bin durchaus nicht zufrieden. Durchaus nicht, meine lieben jungen Freundinnen. Meine Tabellen zeigen, daß im südöstlichen Bezirk von drei Häusern immer nur eines besucht worden ist. Das wird nicht genügen! Ihr müßt den Gedanken loswerden, daß der Dienst des Herrn ein nettes Spiel ist, wie Osterlilien auf den Altar zu stellen. Hier bleiben nur noch fünf Tage, und Ihr seid noch nicht aufgewacht und an die Arbeit gegangen. Ich will auch keine Dummheiten hören, wie daß Ihr zaudert, die Leute um Geld anzugehen, und sie ordentlich anzugehen! Wir können nicht die Miete für dieses Grundstück, die Beleuchtung, den Transport und die Gehälter von diesen vielen Leuten, die ich mit mir führe, nur so aus der Luft bezahlen! Also Sie – Sie hübsches Mädel dort mit dem roten Haar – mein Gott! Ich wollte, ich hätt' solches Haar! – was haben Sie getan, wirklich und ernsthaft getan, in der letzten Woche?«
Nach zehn Minuten hatte sie alle so weit, daß sie weinten und darauf brannten, hinauszulaufen und Seelen und Dollars hereinzubringen.
Sie wollte aus dem Zelt gehen, da stolzierte Elmer heran und stürzte mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Schwester Falconer, ich möchte Ihnen zu Ihren wunderbaren Meetings gratulieren. Ich bin Baptistengeistlicher – der Reverend Gantry.«
»Ja?« sehr scharf. »Wo ist Ihre Kirche?«
»Also, äh, im Augenblick hab' ich gar keine Kirche.«
Sie betrachtete sein gesundes, geschniegeltes Aussehen, den Tabaksgeruch; ihre strahlenden Augen hatten ihn zu Ende gemustert, sie fragte:
»Was ist diesmal los? Alkohol oder Weiber?«
»Aber, das ist ein glatter Irrtum! Ich bin ganz überrascht, daß Sie so sprechen, Schwester Falconer! Ich bin durchaus in Ordnung! Es ist nur – ich widme mich eine Zeitlang dem Geschäft, um verstehen zu lernen, wie der Geist des Laien arbeitet, bevor ich in meinem Dienst fortfahre.«
»Hm. Das ist ja großartig. Na, meinen Segen haben Sie, Bruder! Wollen Sie mich jetzt entschuldigen? Ich habe eine Zusammenkunft mit dem Ausschuß.«
Sie warf ihm ein unfreundliches Lächeln zu und lief davon. Er kam sich begossen, tölpelhaft, unsagbar albern vor, aber er fluchte: »Der Teufel soll dich holen, ich krieg' dich, und wenn du ganz in deine Geschäfte und deine verdammte Wichtigtuerei eingewickelt bist, und dann werd' ich schon Leben in dich bringen, mein Mädel!«