Читать книгу Schach dem König - Siri Kohl & Kirstin Körner - Страница 5
Kapitel 1
Оглавление„Ma-ri-nel-li!“
Als er die schrille Stimme Doña Dorotea de Mendozas vernahm, wäre Luigi di Marinelli am liebsten in seine Gemächer verschwunden, doch ihr Ton verriet ihm, dass Widerstand zwecklos war. So machte er auf der Stelle kehrt und betrat die große Schlosshalle, aus der der Ruf gekommen war.
Kaum, dass er eingetreten war, überschüttete ihn die aufgeregte Hausherrin mit einem Wortschwall: „Marinelli, wo ist Ana? Warum ist sie noch nicht hier? Jeden Moment kann der Infant mit seiner Leibgarde hier sein, und es wäre eine Schande für die Familie, wenn sie nicht anwesend wäre, um ihm ihre Aufwartung zu machen! Geht sie suchen! Sofort!“
„Nicht nötig, mamá!“ Doña Dorotea und Marinelli fuhren gleichzeitig herum. In der Tür stand Doroteas vierzehnjährige Tochter Ana. Dorotea wollte eine unfreundliche Bemerkung über Anas Verspätung machen, doch dann blieb ihr der Mund offen stehen: Von den ehemals hüftlangen Haaren ihrer Tochter waren nur noch wenige Zentimeter übriggeblieben, die kreuz und quer vom Kopf abstanden, so dass man auf den ersten Blick sah, dass hier kein Barbier die Schere gehandhabt hatte...
„Gefällt es dir, Mutter?“ fragte Ana süffisant, während Marinelli einen Hustenanfall vortäuschte, um sein Lachen zu unterdrücken.
„Bist... bist... bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Warum hast du... wir... ich meine... der Infant... jeden Augenblick... Diego!“
Sie packte Ana an der Hand und zog sie durch die Gänge des Familienschlosses der Mendozas zum Arbeitszimmer Don Diegos, ihres Gatten. Der blickte von seiner Lektüre auf und erfasste mit einem Blick die Situation. Schmunzelnd fragte er: „Lass mich raten: Deine Schere ist ein wenig außer Kontrolle geraten?“
Dorotea schnappte entsetzt nach Luft. „Das ist nicht komisch, Diego! Jeden Moment kann der zukünftige König von Spanien hier sein, und was soll er von uns denken, wenn meine eigene Tochter...“
„Unsere Tochter“, warf Diego gelassen ein.
„Von mir aus auch das, aber was soll er denn bloß von uns halten, wenn Ana ihm so gegenübertritt?“
„Ich will diesen Infanten ja gar nicht sehen!“ mischte Ana sich in das Gespräch. „Seinetwegen durfte ich heute Morgen nicht ausreiten, und ich musste dieses hässliche Kleid anziehen!“
„Um dieses ‚hässliche Kleid’ würde dich sogar eine Medici beneiden, Kind!“ echauffierte sich Dorotea.
„Ja, wenn sie blind wäre...“ murmelte Ana und sah an dem hochgeschlossenen, fest verschnürten Etwas aus gelber Seide herunter, in dessen langen Ärmeln sie sich wie in einer Zwangsjacke fühlte.
„Wie bitte?“ fragte Dorotea scharf.
Diego bedeutete seiner Frau, sich nicht weiter einzumischen und sah seiner Tochter lächelnd in die Augen. „Ana, meine kleine Nachtigall, hör mal zu: Es ist sehr wichtig für deine Mutter und mich, dass Prinz Philipp uns heute besucht. Und wir möchten, dass er auch von dir einen guten Eindruck hat, denn eines Tages wirst du das Oberhaupt der Familie Mendoza sein, und dann wirst du einen wichtigen Platz an Spaniens Thron einnehmen. Verstehst du?“
„Natürlich verstehe ich, diese Dinge besprichst du schließlich mit mir, seit ich zehn Jahre alt bin!“ sagte Ana mürrisch.
„Dann wirst du auch verstehen, dass selbst diese etwas eigenwillige Frisur, die du dir zugelegt hast, dich nicht von der Verpflichtung entbinden wird, Prinz Philipp zu begrüßen, oder?“
„Sollen wir ihr einen Sack über den Kopf ziehen oder was?“ warf Dorotea unwirsch ein.
„Hmmm...“ Marinelli, der sich die Szene aus dem Hintergrund angesehen hatte, trat einen Schritt vor. „Ich hätte da vielleicht eine Idee.“
„Sprecht, Marinelli!“ sagte Diego.
„Vor dem Eingang zur Fechthalle hängt das Porträt, das anlässlich Eurer Hochzeit von Euch gemalt wurde, Signora“, wandte sich der Fechtmeister an Dorotea. „Darauf tragt Ihr eine mit flandrischer Spitze besetzte Haube, die auch Eurer Tochter sicher gut zu Gesicht stünde. Besitzt Ihr sie noch?“
Doroteas Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Marinelli, Ihr seid genial!“ flötete sie, packte ihre widerstrebende Tochter wieder bei der Hand und zog sie aus dem Zimmer.
Diego sah Marinelli zweifelnd an. „Musstet Ihr Ana das antun?“ fragte er grinsend.
„Besser eine Haube auf dem Kopf als noch weitere Wutausbrüche von Doña Dorotea, Signor“, gab Marinelli zurück.
„Hütet Eure Zunge, sonst schicke ich Euch nach Italien zurück! Auch wenn Ihr Recht habt...“
Ehe Marinelli etwas erwidern konnte, ertönte die Stimme des Turmwächters: „Seine Hoheit, Prinz Philipp von Spanien, und sein Gefolge!“
Diego nickte seinem Fechtmeister zu, verließ das Arbeitszimmer und zog mit einer kurzen Handbewegung sein Wams zurecht, als er in den Hof trat. Einen Moment später stieß seine Frau zu ihm, die Ana vor sich herschob, deren Gesicht fast vollständig unter der altmodischen Haube verschwand. Dorotea konnte Ana eben noch ein warnendes „Benimm dich jetzt!“ zuzischen, bevor der Infant mit seinem kleinen Gefolge in den Hof ritt.
Diego trat auf Prinz Philipp zu und küsste ihm ehrerbietig die Hand. „Ich bin hoch geehrt, Euch in meinem Schloss begrüßen zu dürfen, mein Infant.“
Philipp lächelte leicht, als er sich aus dem Sattel schwang und erwiderte: „Ich freue mich immer, Euch zu sehen, Don Diego. Wie geht es Euch?“
Bevor Diego überhaupt zu einer Antwort ansetzen konnte, ertönte Doroteas Stimme: „Wunderbar, Hoheit – besonders jetzt, da Ihr uns mit Eurem Besuch beehrt!“ Sie war neben ihren Mann getreten und präsentierte Philipp ihr ausladendes Dekolleté, als sie sich tief vor ihm verneigte.
Philipp küsste ihre Hand mit dem charmantesten Lächeln, dessen er in dieser Situation fähig war. „Ihr wisst, dass ich leider nicht lange bleiben kann, Doña Dorotea; meine Pflichten rufen mich nach England.“
Dorotea versuchte, ihren Mund zu einem mädchenhaften Schmollen zu verziehen, und erwiderte kokett: „Wir werden die kurze Zeit sicher nutzen können, Hoheit...“ Philipp zog etwas befremdet die linke Augenbraue hoch und wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte.
Diego, dem das Verhalten seiner Gemahlin zunehmend peinlich wurde, drehte sich zu Ana um, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten und gehofft hatte, der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entgehen. Doch auf Diegos Wink hin trat sie neben ihren Vater. „Hoheit, dies ist meine Tochter Ana.“ Als Ana sich aus dem tiefen Knicks, in den sie versunken war, wieder aufrichtete, hatte Philipp Gelegenheit, sie eingehend zu mustern. Verwundert registrierte er die Haube, die ihre Haare verdeckte, und das Kleid, in dem Ana wie eine ausstaffierte Puppe aussah; doch dann blickte er wieder in ihre Augen, die so dunkel waren, dass sie fast schwarz erschienen, und auf Anas Gesicht trat zum ersten Mal an diesem Tag ein Lächeln. Vielleicht war dieser Infant gar nicht so langweilig, wie sie vermutet hatte?
Philipp küsste ihre Hand und sagte: „Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Doña Ana.“
Ana erwiderte seinen Blick und schlug dann errötend die Augen nieder. Mit leiser Stimme antwortete sie: „Die Freude und die Ehre sind auf meiner Seite, Hoheit.“
Als sie einen Schritt zurücktrat, ihn wieder ansah und sein freundliches Lächeln bemerkte, vergaß sie ihre Schüchternheit und musterte nun ihrerseits den zukünftigen König von Spanien. Er war schlank und nicht sehr groß, strahlte aber Selbstsicherheit und Würde aus. Seine dunkelblonden Haare ließen ihn eher wie einen Deutschen als wie einen Spanier aussehen; ein sorgfältig gestutzter Vollbart umrahmte das von der Sonne gebräunte Gesicht, konnte aber die ausgeprägte Kinnpartie des Habsburgergeschlechts nicht ganz verbergen. Schließlich trafen sich erneut ihre Blicke, und für einen Augenblick sah Ana in seinen blaugrauen Augen einen melancholischen Ausdruck, der sie seltsam berührte und Mitgefühl in ihr weckte, den sie sich aber nicht erklären konnte.
Doch bevor sie Gelegenheit hatte, weiter darüber nachzudenken, hatte Philipp seine Selbstbeherrschung wiedererlangt, denn Dorotea de Mendoza wandte sich erneut an ihn. Mit einem etwas ungehaltenen Seitenblick auf Ana bemerkte sie: „Ihr werdet sicher Eure Gemächer sehen wollen, Hoheit. Ich werde Euch selbst hinführen.“
„Ich danke Euch für Eure Mühe, Doña Dorotea.“ Wieder zu Ana gewandt, fragte er: „Werde ich Euch beim Essen sehen?“ Auf Anas Gesicht trat ein kokettes Lächeln, das ihr um einiges besser gelang als zuvor ihrer Mutter. „Wenn mein Vater es erlaubt... Adiós, Señor!“ Sie knickste noch einmal, raffte dann ihr Kleid und lief in Richtung der Ställe davon.
Philipp sah ihr wohlwollend nach. „Ein außergewöhnliches Mädchen... Ist sie schon verlobt?“ Als er merkte, dass diese Frage Diego sichtlich verunsicherte, beeilte er sich zu bemerken: „Oh, ich frage nicht meinetwegen, Don Diego - ich werde dem Wunsch meines Vaters folgen und die Königin von England heiraten. Aber ein so hübsches Mädchen hat doch sicherlich zahllose Verehrer!“
Diegos Gesicht zeigte deutlich, dass ihm die Antwort nicht eben leicht fiel. „Nun, wisst Ihr: Ana ist ein etwas… schwieriges Mädchen; sie hat ihren eigenen Kopf, und das schreckt viele Männer ab...“
„Hättest du dich eingehender um ihre Erziehung gekümmert, wäre sie schon längst verlobt!“ warf Dorotea ungehalten ein. Der schrille Klang ihrer Stimme weckte in Philipp den plötzlichen Wunsch, allein zu sein. „Ich bin sicher, dass Eure Tochter bald Hochzeit feiern wird“, sagte er, „aber nun genug davon; ich würde mich jetzt gern in meine Gemächer begeben.“
Auf Doroteas Gesicht schlug der Versuch, kokett zu wirken, erneut fehl, und als sie „Selbstverständlich; bitte folgt mir, Hoheit!“ flötete, empfand Philipp für den Bruchteil einer Sekunde den starken Drang, wieder aufzusitzen und das Schloss der Mendozas weit hinter sich zu lassen. Doch wie immer fügte er sich in sein Schicksal und folgte ihr; und nachdem sie ihn in die oberen Räume des Schlosses geführt hatte, verabschiedete er sich schnell von ihr, um sich vor dem Abendessen noch etwas auszuruhen.
Als er zwei Stunden später in einem dunkelblauen, mit Goldfäden bestickten Wams und dazu passender Hose den Speisesaal betrat, stellte er fest, dass er Ana gegenübersaß, und seine Stimmung besserte sich schlagartig. Nicht einmal Doroteas wiederholte Versuche, ihm auch aus ihrer eher ungünstigen Position zu seiner Linken Einblick in ihr Dekolleté zu gewähren, konnten ihm den Genuss der aufgetragenen Speisen verleiden. Das Gespräch kreiste um die verschiedensten Themen, bis Diego de Mendoza schließlich den Fehler machte, Philipps bevorstehende Hochzeit mit der englischen Königin Mary Tudor zu erwähnen. Das war Doroteas Stichwort. Sich wieder einmal vertraulich zu Philipp hinüberbeugend, begann sie Anas Vorzüge in den hellsten Farben zu malen und schloss mit der recht unverblümten Feststellung, dass eine junge Dame von so hohem Adel auch durchaus auf die Hand eines Prinzen hoffen könne.
Ana war während des Monologs ihrer Mutter tiefrot angelaufen. Hilflos sah sie zu ihrem Vater hinüber und bat ihn stumm, seiner Frau Einhalt zu gebieten. Doch bevor Diego reagieren konnte, stand Philipp auf, was auch die anderen dazu veranlasste, sich zu erheben. „Ich denke, es ist an der Zeit, sich der Politik zu widmen, Don Diego“, sagte er. Der Blick, den Ana ihm zuwarf, bevor sie sich mit einem Knicks verabschiedete, war mehr als dankbar. Dorotea, die sich ebenfalls zurückzog, war weniger erfreut über diese Wendung des Gesprächs, enthielt sich aber weiterer Kommentare.
Philipp bemühte sich, Diego seine Erschöpfung nicht allzu sehr merken zu lassen, während er ihm die Regentschaftsregelung und andere Maßnahmen, die er wegen seiner Abreise nach England getroffen hatte, erläuterte – er hatte fast den ganzen Tag im Sattel gesessen und wünschte sich nichts sehnlicher als ein weiches Bett und ein paar Stunden Schlaf. Das Gespräch dauerte zwar nicht sehr lange, forderte aber Philipps ganze Konzentration, und als er sich schließlich auf sein Bett fallen ließ, war er noch zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, als dass er hätte einschlafen können. In seinem Kopf vermischten sich die Bilder, die er schon seit Wochen mit sich herumtrug – das Porträt Mary Tudors; der Brief seines Vaters, Kaiser Karls V., der ihm die englische Heirat angekündigt hatte; die gichtverkrümmte Handschrift, die überhaupt nicht zu dem kraftvollen, energiegeladenen Mann passte, als den er seinen Vater kannte –, mit denen des heutigen Tages: Doña Doroteas Stimme, die ebenso zu hoch war wie ihre Knickse zu tief, der Palast der Mendozas, dessen Größe und starke Befestigung vom Stolz dieser mächtigen Familie zeugte - und Ana, das temperamentvolle Mädchen, das bald keins mehr sein würde, das bald die beste Partie in ganz Spanien sein würde. Und damit Opfer eines gnadenlosen Heiratsschachers...
Heiraten. Auch Philipp hatte sich dieser Notwendigkeit mit sechzehn Jahren zum ersten Mal unterwerfen müssen; Maria Manuela von Portugal, seine Cousine, war die Braut gewesen. Hübsch hatte sie ausgesehen in ihrem Hochzeitskleid, und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, trotz der Tatsache, dass sie beide die Sprache des anderen kaum beherrschten. Philipp erinnerte sich lächelnd an den Trick, mit dem er in der Hochzeitsnacht den Vollzug der Ehe vorgetäuscht hatte, um die vor der Tür des Brautgemachs wartenden Höflinge gemäß dem Hofzeremoniell zufriedenzustellen: Er hatte das Laken mit dem Blut einer für das Hochzeitsbankett geschlachteten Gans befleckt, das eine Küchenmagd in sein Gemach geschmuggelt hatte. Die junge Frau hätte auch noch weit mehr als das für ihn getan, doch der frisch vermählte Infant hatte ihr Angebot mit Bedauern abgelehnt... Das Laken war den Wartenden präsentiert worden, und jedermann hielt die Ehe nun für vollzogen.
Damit hatte sich das Brautpaar jedoch Zeit gelassen, bis sie ihre Gemächer wieder für sich allein hatten. Trotz Philipps Bemühungen (in diese Zeit war die Warnung seines Vaters gefallen, sich bei der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten aus Gesundheitsgründen nicht zu sehr zu verausgaben) dauerte es lange, bis seine Frau schwanger wurde; und als das ersehnte Kind dann schließlich geboren wurde, kostete es seine Mutter das Leben – Maria Manuela starb mit kaum achtzehn Jahren im Kindbett. Ihr Sohn überlebte und wurde nach seinem Großvater, dem Kaiser, auf den Namen Carlos getauft. Philipp bemerkte unwillig, wie ihm der Schmerz die Kehle zuschnürte, als er an seinen Sohn dachte. Carlos sollte eines Tages als Philipps Nachfolger auf dem spanischen Thron sitzen, doch alles, was der Junge sagte und tat, deutete darauf hin, dass die Geisteskrankheit, die seine Urgroßmutter Johanna von Kastilien ihren Thron gekostet hatte, sich auch bei ihm manifestierte. Carlos war ungebärdig, litt unter Tobsuchtsanfällen und war zudem körperlich missgebildet. Am meisten machte Philipp aber zu schaffen, was er unmittelbar vor seinem Aufbruch zu dieser Reise erfahren hatte: Carlos’ neueste Vergnügung schien es zu sein, Hunde und Katzen bei lebendigem Leib zu rösten und ihrem Todeskampf zuzusehen.
Philipp stand vom Bett auf und ging hinüber zu dem Tisch in der Zimmerecke, auf dem ein Krug mit kaltem, sauberem Wasser stand. Er feuchtete sein Taschentuch an und fuhr sich damit über das Gesicht, als könne er so die scheußlichen Bilder wegwischen, die ihn seit dieser Mitteilung verfolgten. Philipp verabscheute Grausamkeit – sicher, er zählte die Jagd zu seinen Lieblingsbeschäftigungen und hatte auch selbst schon Tiere getötet, aber ein guter Jäger quälte seine Beute nicht, und ein sauberer und sofort tödlicher Fangschuss war immer sein größter Ehrgeiz gewesen. Er konnte sich nicht erklären, was in Carlos vorging, und wieder einmal fragte er sich, ob er seinen Sohn besser verstehen würde, wenn er mehr Zeit mit ihm verbrächte. Oder fehlte dem Infanten einfach eine Mutter? Philipp hatte seine eigene Mutter früh verloren, mit zwölf Jahren, und er merkte oft, dass er sie vermisste, aber Carlos hatte seine Mutter nie gekannt – wie konnte sie ihm da fehlen? Er war von derselben Amme aufgezogen worden, die auch für Philipps Erziehung in den ersten Jahren verantwortlich gewesen war, von dem Menschen, dem Philipp nach seiner Mutter am meisten kindliche Liebe und Vertrauen entgegengebracht hatte. Wieso war er dann von solchem Hass gegen seine gesamte Umgebung erfüllt? Wieso stieß er jeden vor den Kopf, der sich ihm nähern wollte?
Philipp legte sich wieder auf das Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte die Zimmerdecke an. Vielleicht würden sich die Dinge bessern, während er in England war... Der Heiratsvertrag, den die Engländer ihm aufgezwungen hatten, sah vor, dass England und die Niederlande für den Fall, dass Mary Tudor und ihm ein Erbe geboren würde, an diesen fallen sollten; Philipps restliche Besitzungen würde Don Carlos erben. Doch diese Pläne waren Spekulation, und nicht einmal eine sehr begründete, denn nach den Auskünften, die er aus England erhalten hatte, war nicht unbedingt anzunehmen, dass Mary noch ein Kind zur Welt bringen würde – sie war 38 Jahre alt, elf Jahre älter als Philipp, und noch Jungfrau. Die Chancen dafür, dass sich die Pläne Karls V. für eine dynastische Verbindung Spaniens und Englands erfüllen würden, zu deren Ausführung er seinen unwilligen, aber gehorsamen Sohn benutzte, standen also mehr als schlecht.
Gehorsam – ja, gehorsam war Philipp seinem Vater immer gewesen. Nicht einmal im Traum hätte er gewagt, Karls Entscheidungen anzuzweifeln. Auch wenn das bedeutete, auf die Frau zu verzichten, die als erste Empfindungen in ihm geweckt hatte, vor deren Tiefe er selbst zurückgeschreckt war... Isabel de Osorio und er waren fast gleichaltrig, schon als Kinder hatten sie einander gekannt, und als Philipp erwachsen wurde, waren in ihm Gefühle für seine Jugendfreundin erwacht, die er lange nicht verstanden und die er deshalb nicht auszudrücken gewagt hatte. Doch kurz vor seiner Heirat war Isabel es gewesen, die den ersten Schritt gemacht hatte, und was Philipp in ihren Armen zum ersten Mal empfand, hatte er seine ganze Ehe hindurch nicht vergessen. Sehr bald nach Maria Manuelas Tod hatte er wieder Isabels Bett geteilt, was nicht ohne Folgen geblieben war: Im Laufe der Jahre hatte sie ihm zwei Kinder geboren, einen Jungen und ein Mädchen, und Philipp musste sich eingestehen, dass er sich oft wünschte, diese Kinder anerkennen und seinen unehelichen Sohn an Don Carlos’ Stelle in die Thronfolge einsetzen zu können.
Doch die englische Heirat würde Philipps heimliches Glück nun zunichte machen. Isabel hatte mit bewundernswerter Selbstbeherrschung akzeptiert, dass sie ihn verlieren würde, und ihr stolzer Entschluss, nach seiner Abreise unverheiratet zu bleiben, zurückgezogen zu leben und ihre beiden Kinder allein großzuziehen, hatte Philipp schmerzlich bewusst gemacht, was für eine großartige Frau er auf Verlangen seines Vaters aufgeben musste. Doch was nutzte es, sein Schicksal zu beklagen? Philipp setzte sich auf und griff nach dem Orden vom Goldenen Vlies, der heute wie immer um seinen Hals hing. Sein Leben gehörte nicht ihm, hatte nie ihm gehört, sondern war Spaniens Eigentum geworden im Moment seiner Geburt, und er würde seine gottgegebene Bestimmung erfüllen, auch wenn es Schmerzen und Verzicht mit sich brachte. Mit langsamen, gemessenen Bewegungen kniete er sich vor das Bett, verbarg das Gesicht in den Händen und tat das, was er in solchen Momenten zu tun gewohnt war - er betete.
Ana war, nachdem sie ihrer Mutter eine gute Nacht gewünscht hatte, in ihre Gemächer gegangen. Ohne sich auszukleiden, sank sie auf ihr Bett und dachte über den Abend nach. Sie hatte sich gewünscht, dass Philipp sie mochte, und deshalb war es ihr umso peinlicher gewesen, als ihre Mutter sie angepriesen hatte wie eine gute Zuchtstute. Ich muss das aufklären, dachte sie und stand auf. Leise verließ sie ihr Schlafzimmer und schlich durch die Gänge des Schlosses zu Philipps Gemächern, die sich, wie sie von ihrer Mutter erfahren hatte, im Westflügel befanden. Als sie vor der geschlossenen Tür stand, hörte sie plötzlich leise Lautenklänge; und als sie die Tür einen Spalt weit öffnete, sah sie Philipp auf einem Stuhl sitzen und spielen, völlig in die Musik vertieft. Da Ana nicht nur die Melodie kannte, sondern auch eine schöne Stimme hatte und gern sang, öffnete sie die Tür ganz, trat ins Zimmer und begann leise mitzusingen.
Philipp blickte überrascht auf, spielte das Lied aber zu Ende. Dann legte er das Instrument weg und sah Ana gespielt vorwurfsvoll an. „Schleicht Ihr Euch öfter nachts in die Gemächer fremder Männer?“
Ana lächelte. „Nur, wenn sie so gut Laute spielen wie Ihr.“
Philipp war, wie er sich eingestehen musste, geschmeichelt. Um ihr ebenfalls ein Kompliment zu machen, sagte er: „Eure wunderbare Stimme lässt meine bescheidenen Fähigkeiten heller strahlen, als ihnen zukommt.“ Ana errötete leicht, doch bevor sie etwas erwidern konnte, deutete Philipp auf den Stuhl vor sich. „Setzt Euch!“
Sie nahm Platz, und als sie ihn ansah, erwiderte er ihren Blick so intensiv, dass sie irritiert zu Boden sah. Mit leiser Stimme sagte sie: „Es tut mir leid, dass Ihr Euch das Gerede meiner Mutter anhören musstet. Sie...“
„Entschuldigt Euch nicht für etwas, wofür Ihr nichts könnt“, unterbrach Philipp sie, da er spürte, dass ihr diese Angelegenheit sehr peinlich war. „Schade ist nur“, sagte er und lächelte, „dass wir uns nicht länger unterhalten konnten.“
Ana hob wieder ihren Blick und erwiderte sein Lächeln. „Das finde ich auch, denn ich hätte Euch gerne etwas gefragt...“
„Nun?“
Philipps aufmunternder Blick nahm ihr die letzte Scheu, und mutig fuhr sie fort: „Mein Vater sagte, Ihr werdet nach England fahren und dort die Königin heiraten. Stimmt das?“
Philipp wunderte sich ein wenig über diese Frage, antwortete aber: „Ja, das ist richtig.“
„Und... er hat auch gesagt, dass Euer Vater diese Heirat aus politischen Gründen ausgehandelt hat; stimmt das auch?“
Philipps Gesicht verdüsterte sich, als er erwiderte: „Auch das ist wahr. Warum fragt ihr?“
Ana schwieg einen Moment, bevor sie fragte: „Weil ich... Ich meine... Ihr heiratet nicht aus Liebe?“
Philipp hätte beinahe laut aufgelacht, doch als er Anas ernstes Gesicht sah, versuchte er ebenfalls ernst zu bleiben. Trotzdem klang seine Stimme leicht ironisch, als er sagte: „Nein. Ich kenne Königin Mary nicht einmal, nur ihr Porträt, und das… Nun ja, ich werde ihr ein guter Gemahl sein und meine Ehepflichten erfüllen, aber lieben werde ich sie wohl nie.“
„Warum lasst Ihr Euch zwingen, jemanden zu heiraten, den Ihr nicht liebt? Würde mein Vater das mit mir tun, ich würde mich dagegen wehren!“ Ana hatte voller Inbrunst gesprochen, und Philipp spürte, wie ernst es ihr damit war.
„Das glaube ich Euch aufs Wort, Doña Ana“, sagte er mit schwachem Lächeln. „Aber der Sohn des mächtigsten Mannes der Welt hat keine Wahl – seine Heirat dient dazu, Erben zu zeugen und Bündnisse zu besiegeln. Auch meine erste Frau habe ich nicht wirklich geliebt; aber sie hat mir einen Sohn geboren, und damit war unsere Ehe erfolgreich.“ Ana fühlte sich von dieser nüchternen Betrachtungsweise etwas abgestoßen, aber zugleich war in seine Augen wieder dieser seltsam melancholische Ausdruck getreten, und Ana konnte spüren, dass ihn sein Handeln in dieser Angelegenheit mehr bewegt hatte, als er zugab. „Darf ich Euch noch etwas – Persönliches fragen, Hoheit?“
„Nur, wenn Ihr mir die Frage gestattet, warum Ihr diese furchtbare Haube tragt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr so etwas freiwillig aufsetzt.“
„Ich trage sie, weil... meine Mutter es möchte“, sagte Ana.
„Aber Eure Mutter ist nicht hier. Warum setzt Ihr sie also nicht ab?“
Ana zögerte einen Moment. „Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Euch das, was unter der Haube ist, besser gefallen würde.“
„Habt Ihr etwa eine Glatze?“ fragte Philipp lachend und ahnte nicht, wie nahe er damit der Wahrheit kam.
Ana erwiderte nichts, sondern löste langsam das Band der Haube. Einen Augenblick hielt sie inne, doch dann riss sie sie sich mit einer raschen Bewegung vom Kopf.
Für einige Sekunden herrschte betretenes Schweigen. Dann sagte Philipp, der sich mit Mühe das Lachen verbiss: „Nun ja, sie wachsen ja wieder...“ Ihre Blicke trafen sich, und wie auf ein Zeichen prusteten sie gleichzeitig los.
Als Philipp sich wieder beruhigt hatte, sagte er: „Ihr wolltet mich vorhin noch etwas fragen. Etwas Persönliches.“
Ana errötete, als ihr wieder einfiel, was sie hatte sagen wollen. „Ich hoffe, meine Frage ist nicht zu anmaßend, Hoheit.“
„Sagt nicht ‚Hoheit’ zu mir. Nennt mich Philipp.“
Ana blickte ihn erstaunt an, und der Infant nickte ihr aufmunternd zu. „Philipp – ist Euer Herz bereits vergeben?“
Erstaunt zog er seine linke Augenbraue hoch; so eine persönliche Frage hatte er nicht erwartet. „Warum fragt Ihr?“
„Frauen interessiert so etwas...“
Anas koketter Ton ließ ihn leise auflachen. „Nun, ich war einige Male verliebt, aber ernst war es mir nur einmal. Sie hieß Isabel. Meine große Liebe... Aber ich werde zu dramatisch.“
Ana hatte ihm hingerissen gelauscht. „Nein, keineswegs! Erzählt weiter, Philipp!“
Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Vielleicht die halbe. „Uns… war eine kurze gemeinsame Zeit vergönnt, aber die Umstände haben uns getrennt.“ Seine Stimme war jetzt ernst, und Ana spürte den Schmerz, der in seinen Worten mitschwang, fast körperlich.
Nach einer kurzen Pause sagte sie mitfühlend: „Ich wollte diesen Schmerz nicht erneuern. Verzeiht mir.“
Philipp nahm ihre Hand. „Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen, Ana. Aber bitte verlasst mich jetzt, ich bin sehr müde.“ Er sah die Angst in ihren Augen und wusste, dass sie dachte, einen Fehler begangen zu haben, als sie ihm diese Fragen gestellt hatte. Er lächelte: „Wirklich, ich trage Euch nichts nach, ich brauche einfach nur Schlaf. Wollen wir morgen zusammen ausreiten?“ Er war aufgestanden und hielt dabei immer noch ihre Hand fest.
Ana erhob sich ebenfalls. Sie war froh, dass er nicht verärgert zu sein schien. „Sehr gern“, erwiderte sie und sah ihn mit funkelnden Augen an.
Philipp küsste ihre Hand, nachdem er für einen Moment völlig in ihrem Anblick versunken war. „Gute Nacht, Ana.“
Er ließ ihre Hand los, und sie ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal um. „Gute Nacht - Philipp.“
Als sich die Tür hinter ihr schloss, verharrte Philipp noch eine Weile nachdenklich an seinem Platz, dann ließ er sich kopfschüttelnd auf sein Bett fallen.
Früh am nächsten Morgen traf er das Fürstenpaar zum Frühstück und stellte mit Verwunderung fest, dass Ana nicht anwesend war. Die aufreizenden Blicke Doña Doroteas geflissentlich ignorierend, wandte er sich an Diego. „Warum speist Eure Tochter nicht mit uns, Don Diego?“
„Sie ist schon in den Ställen, Hoheit. Sie sagte, dass Ihr heute Morgen mit Ihr ausreiten wolltet.“
Philipp lächelte über Anas Enthusiasmus. Im Aufstehen sagte er: „Das ist richtig. Dann werde ich sie nicht länger warten lassen.“ Unter dem verwunderten Blick Diegos und dem leicht verärgerten Blick Doroteas verließ er schnellen Schrittes das Zimmer und begab sich zu den Ställen.
Als er dort ankam, sah er Ana bei zwei Pferden stehen, die bereits gesattelt waren. Verwundert glitt sein Blick an ihr herab, denn statt eines Reitkleides trug sie eine schwarze enge Hose und ein helles Hemd mit schwarzer Weste. Dadurch wurde ihre Figur betont, die doch schon fraulicher war, als er angenommen hatte, und Philipp musste sich eingestehen, dass ihm das, was er da sah, mehr als gefiel.
Ana hatte ihn jetzt bemerkt und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln: „Guten Morgen, Philipp.“
Philipp küsste ihre Hand. „Wartet Ihr schon lange auf mich?“
„Ja, und das voller Ungeduld, weil ich mich so sehr darauf freue, Euch die Gegend zu zeigen.“
„Dann wollen wir uns nicht länger aufhalten. Welches Pferd reite ich?“
Ana reichte ihm die Zügel eines braunen Hengstes mit prachtvollem schwarzem Behang. „Das ist mein Lieblingspferd. Es heißt Maranyo.“
Philipp wunderte sich ein wenig. „Ihr gebt mir Euer Lieblingspferd. Das ist sehr großzügig.“
„Ich wollte Euch eine Freude machen. Er ist das beste Pferd in dieser Gegend, und Ihr macht mich sehr glücklich, wenn Ihr ihn reitet.“
Lächelnd saß Philipp auf. Er wartete, bis Ana ebenfalls aufgestiegen war und rief dann abenteuerlustig: „Vamos!“ Als Ana an seine Seite trabte, überraschte sie ihn erneut, da sie im Herrensitz ritt. „Es ist sehr ungewöhnlich für eine Frau, dass sie wie ein Mann reitet.“
„Ich glaube, mein Vater erwähnte bereits, dass ich sehr ungewöhnlich bin. Aber glaubt mir, es gibt nichts Unbequemeres als einen Damensattel“, sagte Ana grinsend, und Philipp lächelte ebenfalls, als er erwiderte: „Falls sich mir einmal die Gelegenheit bietet, werde ich es ausprobieren.“
„Lasst es mich wissen. Ich wäre zu gerne dabei, wenn sich der zukünftige spanische König in einen Damensattel setzt.“ Ana war von dieser Situation so erheitert, dass sie laut auflachte.
„Ihr findet das wohl sehr komisch?“ fragte Philipp gespielt entrüstet, und Ana konnte nur nicken, da sie immer noch lachte. „Nun, dann lasst uns ein Wettrennen machen. Das macht den Kopf klar, und“ - er zwinkerte ihr zu - „Ihr könnt mir zeigen, ob Ihr auch so gut reitet wie ich.“ Ana erwiderte nichts, sondern ließ die Zügel frei und stellte sich in den Bügeln auf. Ihr Pferd wurde schneller und schneller, und obwohl Philipp das bessere Pferd hatte, blieb er einige Längen hinter ihr zurück.
Schließlich zügelte Ana ihren Hengst und drehte sich zu Philipp herum. Dieser machte ein ziemlich zerknirschtes Gesicht, als er sie eingeholt hatte. „Gewonnen!“ rief sie lachend.
„Ich dachte, ich hätte das beste Pferd dieser Gegend.“
Ana grinste. „Das beweist dann ja wohl, dass ich besser reite als Ihr“, sagte sie keck.
Philipp stieg vom Pferd, trat dann vor ihren Hengst und verneigte sich. Mit übertriebener Ehrerbietung sagte er: „Doña Ana, niemand kann sich mit Eurer Reitkunst messen.“
„Das nächste Mal werde ich Euch einen Vorsprung gewähren, damit Ihr auch eine Chance habt.“ In Anas Stimme lag ebenfalls ein ironischer Unterton, über den beide lachen mussten.
Philipp streckte die Arme nach ihr aus und hob sie vom Pferd. Einige Sekundenbruchteile lang verharrten sie in dieser Stellung, und sowohl Philipp als auch Ana spürten plötzlich eine eigenartige Anziehungskraft. Verwirrt lösten sie sich voneinander, und als Philipp die Fassung wiedergewonnen hatte, deutete er auf einige große Steine, die ein paar Schritte entfernt lagen. „Wollen wir dort einen Augenblick ausruhen?“ Ana nickte zustimmend, und während sie die Pferde sich selbst überließen, schlenderten sie zu den Steinen und setzten sich.
Ana sah Philipp aus dem Augenwinkel an. „Ich habe gestern noch sehr lange über das nachgedacht, was ihr mir erzählt habt.“
„Worüber genau? Ich habe Euch sehr viel erzählt.“
„Hauptsächlich darüber, dass ihr eine Frau heiraten müsst, die Ihr nicht liebt.“
Philipp stöhnte auf. „Erinnert mich nicht daran!“
Unsicher senkte Ana den Blick. „Verzeiht, ich wollte nicht...“
„Nein, nein, schon gut. Ich möchte gerne Eure Meinung hören.“
„Wirklich?“
Philipp lächelte. „Ihr seid sehr klug für Euer Alter. Da interessiert mich Eure Ansicht wirklich sehr.“
Ana errötete vor Freude über dieses Kompliment und fuhr fort: „Also, Ihr müsst Mary heiraten, weil damit die Allianz zwischen England und Spanien gefestigt wird.“ Philipp nickte zustimmend. „Und ein Bündnis ist in diesem Falle wichtiger als die Liebe.“ Erneut nickte er. „Dann müsst Ihr es tun!“
Verwirrt sah er sie an. „Aber das habe ich Euch doch gestern schon erzählt.“
Ana lächelte süffisant. „Jetzt kommt ja auch erst meine Meinung.“
„Und die wäre?“
Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Wenn Ihr eine Frau heiraten müsst, die Ihr nicht liebt, dann nehmt Euch eine Geliebte, die Euch das gibt, was Mary Euch nicht geben kann.“
Philipp war für einen Moment sprachlos. „Ana! Woher habt Ihr bloß diese Idee?“
Ana ging nicht darauf ein, sondern fragte: „Ihr stimmt mir nicht zu?“
„Doch! N-nein, ich meine… Madre de Dios, da muss ich mir von einer Vierzehnjährigen anhören, wie ich mein Liebesleben zu gestalten habe!“
Ana lachte über Philipps verwirrten Gesichtsausdruck. „Ich werde in vier Tagen fünfzehn.“
„Und Ihr meint, das rechtfertigt Euren Vorschlag“, erwiderte Philipp trocken.
„Ich möchte mich gar nicht rechtfertigen, ich habe Euch, nachdem Ihr mich darum gebeten habt, nur meine Meinung gesagt. Und jetzt seid Ihr böse auf mich.“ Anas Stimme klang vorwurfsvoll, und Philipp sah sie beruhigend an. „Ich bin doch nicht böse auf Euch, das könnte ich nie; ich bin nur einfach überrascht über Eure Gedanken. Sie sind für ein so junges Mäd... für eine so junge Frau wirklich außergewöhnlich.“
„Werdet Ihr es denn tun?“
„Ana!“ rief er in gespielter Empörung. „Ich glaube, es ist an der Zeit, zurückzureiten. Ich habe noch eine Menge mit Eurem Vater zu besprechen, bevor ich morgen früh weiterreise.“ Er stand auf, um die Pferde zu holen, und Ana wurde in diesem Moment schmerzlich bewusst, dass sie ihn nicht so bald wiedersehen würde...
Als sie zum Schloss der Mendozas zurückgekehrt waren, unterhielt Philipp sich bis spät in die Nacht hinein mit Don Diego, ohne Ana noch einmal zu sehen. Obwohl er dies sehr bedauerte, war er gleichzeitig froh; denn wie Don Diego ihm mitteilte, war Ana mit ihrer Mutter zu Verwandten gefahren und würde erst sehr spät zurückkehren, und dass Doña Dorotea nicht anwesend war, stimmte Philipp mehr als heiter.
Früh am nächsten Morgen wollte Philipp mit seinem Gefolge aufbrechen, und Don Diego hatte ihm schon zum Abschied die Hand gereicht, als Dorotea aus dem Schloss trat. „Auf Wiedersehen, Hoheit. Es wäre schön, wenn Ihr uns wieder einmal besucht.“
Philipp nickte höflich und sah sich dann suchend um, doch er konnte Ana nirgendwo entdecken. Mit leichtem Bedauern stieg er auf sein Pferd und wandte sich zu Diego. „Schade, dass sich Eure Tochter nicht von mir verabschiedet hat. Richtet ihr doch bitte meine Grüße aus.“
Diego verneigte sich. „Das werde ich tun, Hoheit.“
Philipp gab das Zeichen zum Aufbruch. In diesem Moment kam Ana mit fliegenden Haaren und geröteten Wangen von den Ställen her auf ihn zugelaufen. „Philipp!“ Vor seinem Pferd blieb sie stehen, sah zu ihm auf und reichte ihm eine weiße Rose. „Nehmt diese Rose mit der Bitte, mich niemals zu vergessen.“
In ihren schwarzen Augen glänzten Tränen, und Philipp hätte sie am liebsten in seine Arme genommen und getröstet. Stattdessen steckte er die Rose an seinem Mantel fest, stieg dann vom Pferd und trat dicht vor sie. „Kleine Ana“, sagte er zärtlich. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. „Wie könnte ich Euch je vergessen...“ Sanft wischte er eine Träne von ihrer Wange, sah ihr noch einmal in die Augen und stieg wieder auf sein Pferd. „Auf Wiedersehen – hoffentlich bald!“ raunte er ihr zu. Dann wandte er sich zu seinem Gefolge. „Arriba!“
Der kleine Trupp entfernte sich rasch, und Ana, die Philipps Kuss noch immer auf ihrer Stirn spürte, blickte ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war.