Читать книгу Winterdrachen - Siri Lindberg - Страница 5
Geheimes Treffen
ОглавлениеDer Krieg zwischen Menschen und Eliscan hatte begonnen. Noch immer fiel es Kiéran schwer, das zu begreifen. Mit seinen neuen Augen blickte er König Qedyr, Colmarél und Rawelha hinterher, bis er ihre leuchtenden Silhouetten nicht mehr erkennen konnte.
Als die Eliscan verschwunden waren, war es fast unheimlich still in ihrer kleinen Oase. Kiéran fühlte sich hin- und hergerissen. „Ich muss sofort zur Grenze“, sagte er zu Jerusha. „Aber vor allem will ich, dass du in Sicherheit bist.“
Er sah, dass er kaum zu Jerusha durchdrang, sie stammelte nur: „Meine Familie ... vielleicht ist Loreshom schon angegriffen worden ... ich reite auf der Stelle hin ...“
„Nein!“ Kiéran ergriff sie an den Schultern, damit sie ihm wieder zuhörte. „Noch nicht! Was bringt es, wenn ihr alle zusammen getötet werdet? Hör mir zu, bitte, nur einen Moment lang. Bitte hör mir zu!“
Er spürte, dass sie zitterte, doch schließlich sah er sie nicken. Ihr Gesicht war nur noch ein Schatten für ihn, ihre Aura völlig verschwunden. Kiéran sprach so eindringlich er konnte: „Es gibt nur ganz wenige Orte in Ouenda, die jetzt noch sicher sind, und das sind die Tempel der Schwarzen Spiegel. Sie werden durch die Macht des Oscurus geschützt. Dort müsst ihr hin!“
„Aber ... wie ...“, stammelte sie verblüfft. Auch Jerusha war dabei gewesen bei der Schlacht um Qirwen Cerak. Sie hatte miterlebt, wie Santiago gestorben war, sie wusste, was für eine tiefe Kluft zwischen ihm und den Priestern sich aufgetan hatte durch diesen Tod und dadurch, dass Kiéran auf der Seite der Eliscan gekämpft hatte.
Kiéran holte tief Luft, dann erklärte er: „Dinesh, der Erste Priester, mit dem ich damals im Tempel zu tun hatte, ist so eine Art Oberbefehlshaber der Priester. Ich werde ihm jetzt gleich antworten und ihm einen Handel vorschlagen. Meine Hilfe gegen Schutz für dich und deine Familie.“
„Und du meinst, dass er sich darauf einlässt?“
Darauf hatte Kiéran keine Antwort. Er wusste nur, dass er nicht an der Grenze helfen konnte, Ouenda zu verteidigen, solange er Jerusha nicht in Sicherheit wusste. Die Angst um mein eigenes Leben kann ich aushalten, die um ihres nicht!
Innerhalb eines Atemzugs entschied sich Kiéran. Wenn Dinesh diesem Handel nicht zustimmte, würde er bei Jerusha in Kalamanca bleiben und irgendwie versuchen, sie, ihre Familie und ihr Dorf zu schützen. Und sich erbärmlich vorkommen dabei, weil er das ganze Land schwächte durch diese Entscheidung. Es gab sicher kaum jemanden in Ouenda, der so viel über Eliscan und Skraelings wusste wie er ... und darüber, wie sie zu besiegen waren. Er wurde an der Front dringender gebraucht als in Loreshom.
„Fang bitte schon mal an, unsere Sachen zu packen, ich helfe dir, sobald ich kann“, sagte Kiéran grimmig und machte sich an die mühevolle Arbeit, die Antwort an Dinesh zu verfassen, solange der Botenvogel sich noch in der Nähe herumtrieb.
Doch auch Jerusha kritzelte hastig eine Nachricht. „Ich schreibe meiner Mutter und Liri, sie sollen sich auf dem Fir Evarn verstecken, bis ich komme.“
Kiéran nickte, das war eine gute Idee. Kaum hatte Jerusha die Botschaft mit einem von Fürst Ceruscans Botenvögeln abgesandt, machte sie sich hastig daran, Damaris zu satteln. Vor dem Aufbruch aßen sie das mittlerweile zerkochte Reisgericht, dann befestigte Kiéran den Sattel und die Ausrüstung von Fürst Ceruscans Packpferd auf Reyns Rücken. Der Hengst wirkte ausgeruht und brannte darauf loszugaloppieren, das war gut, es würde ein harter Ritt werden nach Khelgardsland. Dem Packpferd schenkte Jerusha die Freiheit, es konnte sich hier in der Oase eine schöne Zeit machen, bis irgendjemand es einfing.
„Und los“, sagte Jerusha und blickte noch ein letztes Mal zurück. Sie zog ihr Halstuch – inzwischen gewaschen und wieder bunt – aus der Tasche und knotete es an einen Ast. Dann zog sie sich auf Damaris. „Aber eines Tages kommen wir zurück. Das hier ist unser Paradies, und die Erinnerung daran kann uns keiner nehmen.“
„Ja“, sagte Kiéran und hoffte, dass es nicht seine letzten guten Erinnerungen sein würden.
***
Es war nicht mehr lange hin bis zu Aláes Krönung. Der Königshof der Elis Aénor war in einem Taumel der Vorbereitungen. Heerscharen von Kobolden wischten die vielen Spiegel, polierten die Kronleuchter, ölten die kostbaren Bodenmosaike ein, schmückten alle Räume mit Laub- und Blumenkränzen. Pukas fraßen auch die kleinsten Unkräuter aus den Gärten und machten sich mit goldenen Scheren an Sträuchern und Bäumen zu schaffen, um jedes unvollkommene Blatt, jeden Zweig, der die Harmonie störte, zu entfernen. Eliscan-Köche buken, brieten, kneteten Teig, flambierten und brachten gewaltige Wagenladungen von Früchten, Nüssen und frisch geernteten Knospen herbei für das große Fest.
Silmar bekam nicht viel von all dem mit. Wie so oft in den letzten Tagen saß er in den Gemächern der Königin, das Kinn in die Hände gestützt, schweigend, ohne die Augen von ihrem Gesicht zu lösen. Es war sehr still hier, nur das Rascheln eines Gewandes war zu hören, wenn jemand aufstand, um zu gehen, oder jemand Neues zur Tür hereinkam. Es waren schon weniger Eliscan als zuvor, die die Königin unter der Aufsicht ihrer Leibwache besuchten und für sie um Kraft baten. In der ersten Woche ihrer Krankheit waren es Hunderte gewesen, jetzt war es ein Dutzend Leute, die zu jeder Zeit bei ihr saßen und schweigend Beistand leisteten. Nur Yoani war immer da, Célafioras Tochter, eine ruhige, rothaarige Frau, die ihr Leben dem Dienst an der Natur geweiht hatte und mit dem Königshof nichts zu tun haben wollte.
Silmars Gedanken schweiften zu Pharanee, die schon ein paar Dinge – leider nur von geringer Bedeutung – herausgefunden hatte, dann zum Heiler Kyal, der nie wieder gehen oder sprechen würde, weil er zu viel von sich gegeben hatte. Dieser Heiler hat zwar gesagt, dass es kein Gift ist, aber das glaube ich nicht, ging es ihm durch den Kopf. Und wenn es ein Gift war, existiert vielleicht ein Gegengift. Natürlich, unsere Leute haben schon vieles ausprobiert, aber vielleicht schadet es nicht, wenn ich selbst in der Bibliothek ...
„Silmar, Sir? Eure Anwesenheit bei Aláes´ neuster Rede wird gewünscht.“ Zwei bewaffnete Elis, wie üblich. Schweigend erhob sich Silmar und folgte den beiden Männern.
Aláes hatte es zu einer neuen Tradition gemacht, täglich zu Mitternacht eine Rede im Königssaal zu halten. Diesmal war das Thema die Welt der Menschen, und Silmar hatte das zweifelhafte Vergnügen, in der ersten Reihe lauschen zu dürfen.
„Ich bin schon viele Male in die Menschenwelt gereist und kann euch sagen: Menschen sind nicht nur hässlich, verbreiten einen unangenehmen Geruch und haben ausschließlich ihr eigenes Wohl im Sinn, nein, es ist viel schlimmer“, sagte Aláes gerade zu einem Publikum von etwa hundert Seelen. „Sie haben es auch schon allzu oft geschafft, unsereins zu töten! Mein eigener Vater ist im zweiten Eliscan-Krieg umgekommen, da war ich noch ein Kind. Euch und den Euren wird es ebenso ergehen, wenn wir zögern und zaudern!“
Erschrockenes Murmeln – für die meisten im Saal war es unvorstellbar, Verwandte an den Tod zu verlieren.
Aláes fuhr fort: „Doch zum Glück haben wir starke Verbündete, die Elis Sarkorr und die Skraelings, und auch wir selbst verstehen zu kämpfen, wir können diese verachtenswerten Wesen von unserem Land fernhalten.“ Er hieb mit der Faust in seine Hand. „Aber nur, wenn wir ihres kontrollieren – im Moment sind wir ihren Launen ausgeliefert und ihrem guten Willen, die Grenze nicht zu überschreiten. Das kann so nicht weitergehen!“
Er versucht, ihnen seine eigene Begeisterung für den Krieg einzuhauchen. Silmar verschränkte die Arme. Dabei sind die meisten Menschen wie Schafe, schwach und von geringer Intelligenz, sie sind keine Bedrohung für uns.
Doch das schienen die Zuhörer anders zu sehen, ein zustimmendes Raunen hatte sich bei Aláes letzten Worten erhoben.
Aláes Stimme wurde immer lauter und schneidender. „Der beste Beweis für ihre Verdorbenheit ist doch wohl, dass die Menschen es gewagt haben, König Qedyr als Geisel zu nehmen! Verantwortlich dafür ist ein Mann ohne Skrupel, ein ehemaliger Soldat namens Kiéran SaJintar, der in seinem kurzen Leben schon mehr Blut vergossen hat, als die meisten von uns jemals gesehen haben!“
Diesmal gab es sogar Rufe der Empörung. Einigen zart besaiteten Eliscan-Mädchen wurde beim Gedanken an so viel Blut schlecht, sie mussten am Arm ihrer Verehrer den Saal verlassen. Silmar zog verächtlich die geschwungenen Augenbrauen hoch. Er selbst hatte nichts gegen Blut. Er konnte sich nur nicht vorstellen, dass der Lin´tháresh etwas derart Dämliches tun würde wie von Aláes behauptet. Gab es überhaupt Beweise für seine Behauptung?
Einen kurzen Moment lang trafen sich seine und Aláes´ Blicke. Als habe sein Onkel seine Gedanken geahnt, gab er ein Signal, und zwei Eliscan wurden hereingeführt. Sie trugen die Uniform von Spähern, elegant geschnittenes grünes Tuch mit einer dunkelbraunen Schärpe. Mit ernster Miene berichteten sie, dass sie selbst gesehen hätten, wie der König von besagtem Mann gefangen genommen und gefoltert worden sei. Es sei sehr zweifelhaft, ob Qedyr überhaupt noch am Leben sei, da der Tiefseher und seine ebenso hinterhältige Gefährtin ihm schon jede Bosheit zugefügt hatten, die ihnen einfiel.
„Und das alles wegen Qedyrs Idee, die Menschen kennenlernen zu wollen – daraus konnte nichts Gutes erwachsen!“ Aláes´ kräftige Stimme erfüllte den ganzen Saal.
Ungläubig hörte Silmar zu. Er bezweifelte, ob diese beiden wirklich Späher waren, ihre Uniform war nagelneu und wirkte unecht, zum Beispiel waren die Taschen falsch angesetzt. Außerdem war es der reinste Teichschlamm, was diese lächerlichen Gestalten da erzählten! Bevor er dazu kam nachzudenken, hatte er sich schon erhoben. „Das kann nicht stimmen!“, rief er den anderen Zuhörern zu. „Ich kenne den Lin´tháresh, wir haben ein Dutzend Mondaufgänge zusammen erlebt. Er ist ein Mann von tiefem Gefühl – nie würde er jemanden foltern, und schon gar nicht unseren König!“
Tiefes Schweigen. Alle Augen wandten sich zu Silmar und wieder von ihm ab. Sie glaubten ihm nicht, oder dachten sie, dass der Lin´tháresh ihn durch Freundlichkeit eingelullt hatte?
Aláes´ Blick war mörderisch. Und Silmar wusste, dass er sich diesmal eine Eskapade zu viel geleistet hatte. Alle hier wussten, dass er Aláes´ Neffe war. Gerade hatte er seinem Onkel öffentlich widersprochen und ihn dadurch das Gesicht verlieren lassen.
Diesmal würde Aláes ihn büßen lassen.
***
Während des Rittes spürte Jerusha immer wieder eine Berührung in ihrem Geist ... eins von Koriónas´ Kindern war in der Nähe. Alsaria? Nein, anscheinend Kairai. Hin und wieder tauschte er einen schüchternen Gruß mit ihr, dann zog er sich wieder zurück. Folgte er ihr? Jerusha wurde nicht schlau aus seinem Verhalten.
Der Morgen des vierten Tages dämmerte, als Jerusha und Kiéran den vereinbarten Treffpunkt in Khelgardsland erreichten. Ihre Pferde dampften in der Kälte. Beklommen blickte Jerusha sich um. Sie ritten durch ein sanftes Hügelland, in dem sich hier und da ein Hof erhob, umgeben von Wiesen und Weiden – doch die Idylle trog, denn die Höfe waren verlassen, ihre Bewohner geflohen. Im Osten erhoben sich die schroffen Zinnen des Gebirges, schneebedeckt und abweisend. Dort in den Bergen wurde gekämpft – sie waren jetzt nicht mehr weit von der Front entfernt.
Es fühlte sich so falsch an, hier zu sein, sie musste jetzt zu den Menschen, die sie liebte! Jedesmal, wenn sie an Liri und ihre Mutter dachte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Was tun sie gerade, füttern sie die Hühner, als sei nichts gewesen, übt Liri mit dem Bogen, holt meine Mutter gerade Wasser und weicht Wäsche ein? Oder hocken sie gerade frierend und von Furcht erfüllt in einem Versteck auf dem Fir Evarn, ohne zu wissen, ob sie den Morgen noch erleben werden? Jerusha konnte nur hoffen, dass Kiéran wirklich recht hatte und sie um Schutz für ihre Familie und sie selbst verhandeln konnten! Was war, wenn die Priester sich weigerten, sie, Liri und ihre Mutter aufzunehmen?
Schon von weitem sah Jerusha die kleine Gruppe von Reitern, die aus Richtung der Berge auf sie zuritt. „Da sind sie“, berichtete sie atemlos, doch Kiéran blickte bereits in diese Richtung.
„Ich weiß“, sagte er kurz. Er war wortkarg gewesen während ihres Rittes, doch viel hätten sie ohnehin nicht reden können, sie waren die meiste Zeit galoppiert. Und gelagert hatten sie nur, wenn die Pferde und sie vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnten.
Es waren vier Menschen, die ihnen entgegenritten – Menschen in schwarzen Kutten, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Priester des Schwarzen Spiegels. Jerusha verkrampfte sich immer mehr, je näher diese Leute kamen. Ihre Gedanken flogen zurück zu dem furchtbaren Gefecht von Qirwen Cerak, zu Santiagos Tod, und plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr bekommen. Nein, diese Leute sind nicht unsere Freunde, und werden es nie sein können, auch wenn sie vielleicht auf derselben Seite stehen. Wie ist Kiéran zumute, wenn er ihnen entgegenblickt? Beim Gefecht gegen diese Leute ist sein bester Freund getötet worden!
Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Seine Augen waren dunkel wie Schiefer, sein Gesicht hart. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann, den man küssen konnte. Schon jetzt kam es ihr unwirklich vor, wie sie die Oase der heißen Quellen genossen, sich geneckt, sich geliebt hatten.
Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, zügelten die Priester ihre Pferde. Einen Moment blieben sie so, schweigend und abwartend, dann stiegen sie ab und gingen ihnen entgegen. Langsam saß Kiéran ebenfalls ab, und Jerusha folgte seinem Beispiel. Sie nahm die Zügel der Pferde und ging ihm hinterher, es war klar, dass er das Reden übernehmen würde.
Erschrocken fiel ihr ein, was sie zuvor nicht bedacht hatte – würden die Priester merken, dass Kiéran nicht mehr das Amulett trug, das sie ihm vor einem halben Jahreslauf gegeben hatten? Sondern ein neues, das ihm Jerusha durch eine dreiste Lüge aus einem anderen Tempel beschafft hatte? O nein, warum hatten sie daran nicht früher gedacht! Jetzt war es zu spät, das zweite Amulett abzulegen und zu verbergen! Aber hätte Kiéran das überhaupt getan?
Als sie nur noch zwei Menschenlängen voneinander entfernt waren und sich gegenüber standen, blieben die Priester stehen und schlugen ihre Kapuzen zurück. Es waren drei Männer und eine Frau. Mit gemischten Gefühlen erkannte Jerusha ihren Anführer, einen hochgewachsenen Mann mit kantigem Gesicht und kurzem braunem Haar mit erstem Grau darin. Als er die Hand zum Gruß hob, fielen Jerusha seine schmalen, langfingrigen Hände auf, perfekt dafür geeignet, mit behutsamem Griff Bücher aus dem Regal zu holen und aufzuschlagen. Das war Dinesh, Erster Priester des Spiegeltempels von Daressal. Der Mann, der Kiéran damals aufgenommen hatte, als seine Truppe ihn schwer verletzt zurückgelassen hatte. Aber auch der Mann, der sie in Qirwen Cerak beinahe alle vernichtet hätte.
Dinesh ließ den Blick nicht von Kiérans Gesicht. „Friede den Clans“, sagte er zur Begrüßung – er hatte den Gruß abgewandelt, ja, das war gut, Wohlstand hätte nicht gepasst.
Jerusha wartete darauf, dass Kiéran die übliche Erwiderung „... und Treue dem Earel“, sprach, doch nichts passierte. Als sie sich ihm erstaunt zuwandte, sah sie, dass es in seinem Gesicht arbeitete, und begriff. Wird er überhaupt schaffen, diese Leute zu begrüßen, mit ihnen zu reden? Jerusha wagte kaum zu atmen, sie wusste, dass jetzt alles auf dem Spiel stand. Wenn Kiéran nicht verhandeln wollte oder konnte, dann wurde es nichts mit dem Schutz für ihre Familie!
Jetzt kam Leben in ihn. Bitte sag etwas, bitte, bat ihn Jerusha lautlos, doch Kiéran wandte sich abrupt zur Seite, von den Priestern ab, und blickte in die Ferne. Er atmete schwer.
Verzweifelt wandte sich Jerusha den fremden Männern zu. Was sollte sie tun, sollte sie die Verhandlungen übernehmen? Doch sie war es nicht, die hier gefragt war, es war Kiéran mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten, den die Priester brauchten!
Ganz kurz begegnete Dinesh ihrem Blick, und sie sah in seinen nachdenklichen Augen etwas, das ihr Hoffnung machte. Konnte er verstehen, wie Kiéran sich gerade fühlte?
Als der Priester die Stimme erhob, wäre Jerusha beinahe zusammengezuckt. Fast rechnete sie damit, dass Dinesh Kiérans zweites Amulett ansprechen würde, doch er tat nichts dergleichen. „Ich möchte Euch mein Beileid aussprechen, Kiéran“, sagte er stattdessen – mit einer sanften, ernsten Stimme, die Jerusha durch und durch ging. „Es ist mir bewusst, dass der Tod Eures Freundes Euch tief getroffen hat. Ich bedauere unendlich, dass es so weit kommen musste. Es war eine üble Laune des Schicksals, die uns zu Feinden gemacht hat.“
Einen Moment lang geschah nichts. Dann bemerkte Jerusha, dass ihr Gefährte tief durchatmete. Ganz langsam wandte er sich den Priestern und der Priesterin zu, zwang sich wohl dazu. Dann nickte Kiéran kurz. „Ich danke Euch für Eure Worte“, sagte er förmlich. „Auch mir tut es leid, was geschehen ist – Ihr hattet ebenfalls den Tod einiger Gefährten zu beklagen.“
Dinesh nickte ebenfalls. „Es stehen viele Erinnerungen zwischen uns – aber das müssen wir jetzt beiseite lassen, die Zukunft Ouendas steht auf dem Spiel.“
„Ja.“ Kiéran wirkte noch immer verkrampft, doch seine Stimme klang nüchtern. So wie immer, wenn es um Strategien, um Pläne ging. Erleichtert hielt sich Jerusha weiterhin im Hintergrund. Jetzt musste es nur noch klappen, dass die Priester auf seine Vorschläge eingingen!
„Wir haben uns bisher gar nicht so schlecht geschlagen, dafür, dass die Eliscan als unbesiegbar gelten“, erklärte Dinesh, und als er einem seiner Begleiter ein Zeichen gab, rollte dieser auf dem Boden eine Karte aus. Aber keine gewöhnliche Karte, es war eine, auf der Berge und Täler als Relief geformt waren. Natürlich, Dinesh wusste genau, was Kiéran sehen konnte und was nicht – war diese Karte eigens für ihn angefertigt worden? „Hier in Xaldas konnten wir sie abfangen und daran hindern, nach Benaris einzudringen ... aber in anderen Regionen waren wir nicht in der Lage, sie aufzuhalten – hier in Larangva zum Beispiel, außerdem an verschiedenen Stellen in Khelgardsland, hier und hier ...“ Er deutete mit dem Finger auf verschiedene Gegenden.
Während er beschrieb, was bisher geschehen war, hörte Kiéran zu, nickte hin und wieder und ließ die Finger über das Relief gleiten.
Schließlich richtete Dinesh sich auf, und Jerusha bemerkte, wie müde er wirkte. „Große Sorgen macht uns, dass in den letzten Tagen weiße Drachen aufgetaucht sind und Eliscan, die noch nie jemand gesehen hat – sie tragen eng anliegende Kleidung, zum Teil aus rotem Leder“, meinte er. „Beide Wesen haben uns schon schwere Verluste zugefügt, und wir verstehen nicht einmal, wo sie herkommen und wer sie sind. Könnt Ihr uns einen Hinweis geben?“
„Frostdrachen“, sagte Kiéran grimmig. „Sie stammen aus dem hohen Norden und sind, soweit ich weiß, mit den Elis Jinthra verbündet, dem Schneevolk.“
Jerusha war entsetzt. „Frostdrachen kämpfen auf der Seite der Eliscan?“, entfuhr es ihr. „Diese Biester können sogar gewöhnlichen Drachen gefährlich werden!“ Sie wusste, dass Koriónas sich mit ihnen schon so manchen unbarmherzigen Kampf geliefert hatte.
Interessiert betrachteten die vier Priester sie und fragten sich wahrscheinlich, wer sie war.
„Was die fremden Eliscan angeht ...“, fuhr Kiéran fort. „Ich fürchte, es sind Elis Sarkorr. Man nennt sie auch das Blutvolk, und was ich bisher von ihnen gehört habe, klang ziemlich ... heftig.“ Er warf Jerusha einen Blick zu, und Jerusha nickte bestätigend. „Wenn sie an einem unerträglichen Kummer leiden, lassen sie sich von einem Priester das Herz herausreißen“, berichtete sie.
Dinesh zog die Augenbrauen hoch. „Glücklicherweise haben sie bisher niemandem von unseren Leuten irgendetwas herausgerissen. Aber sie sind furchterregende Kämpfer, und wir haben ihren Klingen aus Sternenstahl nur die Kraft des Oscurus, die ganz eigenen Gesetzen folgt, entgegenzusetzen. In Khera hat einer dieser Eliscan innerhalb einer Minute zehn unserer Leute niedergemäht, so gleichmütig, als seien es Grashalme.“
„Xatos´ Rache!“ Kiéran verzog das Gesicht. „Wie viele Elis Sarkorr sind an den Kämpfen beteiligt?“
„Bisher nur etwa hundert, schätzen wir ... aber es werden beständig mehr.“
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie einen weiten Weg bis zu uns haben und erst jetzt ankommen – soweit ich weiß, leben sie im Nordosten von Khorat“, erklärte Kiéran, und Jerusha fragte sich erstaunt, wie und wann er all das herausbekommen hatte. Wahrscheinlich durch lange Gespräche am Lagerfeuer, als sie selbst mit den Drachen unterwegs gewesen war.
„Was ist mit Friedensverhandlungen? Irgendwelche Chancen?“, fragte Dinesh, doch Kiéran schüttelte grimmig den Kopf. „Vergesst es. Durch Machtkämpfe in den Eliscan-Reichen ist nicht mal klar, mit wem wir verhandeln sollten ... der rechtmäßige König will den Frieden, aber ob er sich durchsetzen kann, wissen nur die Götter – und vielleicht nicht mal die.“
Dinesh wirkte sehr beeindruckt. Er tauschte einen Blick mit seinen Begleitern, dann wandte er sich wieder an Kiéran. „Ich danke Euch dafür, dass Ihr dieses Wissen so offen mit uns teilt“, sagte er. „In Eurer Botschaft habt Ihr angedeutet, dass Ihr uns einen Handel vorschlagen wollt?“
„Genau.“ Kiéran stellte Jerusha vor und erklärte, worum es ihm ging: Schutz für sie und ihre Familie im Tausch gegen seine volle Unterstützung. „Es versteht sich von selbst, dass ich auch an der Grenze kämpfen werde – mit meinem Sternenstahl-Schwert, das ich gerade aus Thoram zurückgeholt habe“, beendete er seine Erklärungen.
Nervös wartete Jerusha darauf, wie die Priester reagieren würden.
Dinesh entschuldigte sich, um diesen Vorschlag mit den anderen Priestern und der Priesterin zu besprechen. Wortlos nahm Kiéran Jerushas Hand und drückte sie, beide wussten sie, wie viel von der Entscheidung dieser Leute abhing. Zum Glück mussten sie nicht lange warten, schon nach kurzer Zeit wandte sich Dinesh wieder zu ihnen um.
„Einverstanden“, sagte er. „Jerusha und ihre Familie erhalten Zuflucht in unserem Tempel am Fürstin-Jolissa-See, das ist in der Nähe von Loreshom. Ist das in Eurem Sinne, Jerusha?“
„Absolut“, sagte Jerusha und verbeugte sich dankbar. Ihr war etwas leichter ums Herz. Obwohl diese Entscheidung bedeutete, dass sie und Kiéran schon bald wieder getrennt sein würden – sie mochte gar nicht daran denken, was es bedeutete, dass er an der Grenze kämpfen würde. Gegen Elis Sarkorr, bei allen Göttern!
„Dann bleibt jetzt noch eins zu besprechen“, sagte Dinesh, und auf einmal hatte seine Stimme einen unnachgiebigen Klang. Stahl in einer Hülle aus Samt. „Dieses Amulett, das Ihr tragt, gehört Euch nicht, Kiéran SaJintar.“
Kiéran blickte ihn unverwandt an. „Das ist richtig.“
Gnädige Shimounah, dachte Jerusha. Sie wusste, dass Kiéran dieses Amulett auf keinen Fall hergeben würde ... wenn die Priester versuchen würden, es ihm abzunehmen, stand ihnen ein Kampf auf Leben und Tod bevor. Doch die Priester ließen ihre Schwerter stecken, und Dinesh fuhr fort: „Wenn dieser Krieg vorbei ist ... dann solltet Ihr Buße tun dafür.“
„Was für eine Buße?“ Kiéran klang abwartend.
„Einen Mond lang völlige Blindheit, ein Leben ohne Amulett“, erwiderte Dinesh. „Und als Wiedergutmachung an uns schützt Ihr mit Euren Leuten die Geburt eines neuen Schwarzen Spiegels. Es ist immer eine gefahrvolle Zeit, bis der Spiegel nach den ersten Tagen seine endgültige Kraft erreicht hat.“
Diesmal war es Kiéran, der ohne Zögern „Einverstanden“ sagte. Dinesh nickte, und einen Moment lang meinte Jerusha ein kurzes Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen. Dann wurde er wieder ernst.
„Gut. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir würden Euch gerne im Queamandeh-Gebirge einsetzen, Kiéran ... wie bald könnt Ihr aufbrechen?“
„Jetzt sofort“, sagte Kiéran. „Könnten Eure Leute meine Gefährtin in ihren Heimatort eskortieren?“
„Natürlich“, kam es sofort zurück.
Die Priester und die Priesterin zogen sich zu ihren Pferden zurück und machten sich bereit zum Aufbruch. Taktvoll taten sie dabei so, als beachteten sie Kiéran und Jerusha nicht.
In Jerushas Hals saß ein Kloß, sie wusste, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Kiéran wandte sich ihr zu, und eine große Zärtlichkeit lag in seinem Blick. Jerusha spürte, wie Tränen in ihre Augen drängten. Wieso kann ich ihn nicht einfach behalten ... ich habe ihn doch gerade erst wiedergefunden! Was ist, wenn er nicht zurückkommt?
„Mit etwas Glück ist im Frühling schon alles vorbei, und du kannst endlich an deiner Statue weiterarbeiten.“ Kiéran wischte ihr die Tränen mit dem Finger ab. „Ich passe schon auf mich auf, du kümmerst dich um Liri, ja? Lass sie bloß nicht mitkämpfen – sie ist zwar unheimlich gut mit dem Bogen, aber die Eliscan sind besser.“
Jerusha nickte, sie brachte kein Wort heraus.
Kiérans Arme hielten sie sehr fest. „Und wenn wir das hier überleben ... könntest du dir dann vorstellen, mich zu heiraten?“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Obwohl wir uns noch nicht so lange kennen? Ein halber Jahreslauf ist wahrscheinlich nicht genug Zeit, um sich richtig in allen Höhen und Tiefen ...“
Oh, diese Frage! Auf die hatte sie, wenn sie ehrlich war, schon ein bisschen gewartet. Ein Schauer puren Glücks durchlief Jerusha. Obwohl ihr noch immer die Tränen herunterliefen, musste sie lächeln.
„ ... und ich weiß, sowas ist eine schwere Entscheidung, vielleicht solltest du erst deine Mutter fragen, bevor du ...“
Anscheinend war er so nervös, dass er gar nicht aufhören konnte zu reden. Also hielt ihm Jerusha kurzerhand den Mund zu. „Ja“, sagte sie fest. „Ja, ich will dich heiraten, Kiéran SaJintar!“
„Gut“, sagte Kiéran, als sie die Hand von seinem Mund genommen hatte. Dann küsste er sie so lange, dass die Pferde ungeduldig zu scharren begannen und Dinesh sich irgendwann räusperte. Widerstrebend ließ Jerusha Kiéran los, aber dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn noch einmal, sie konnte nicht anders. Mit einem Lächeln in den Augen beugte er sich zu ihr hinab und fuhr mit den Fingern durch ihre dunklen Locken.
„Wir treffen uns in Loreshom ... irgendwann!“, sagte er, dann stieg er auf – es klappte erst beim zweiten Versuch, denn Reyn wollte mal wieder nicht stillstehen – und galoppierte mit Dinesh und einem der Priester davon.
Jerusha sah ihm nach, bis er und die anderen beiden Gestalten in der Ferne verschwunden waren. Dann nickte sie ihren neuen Begleitern zu, auch für sie war es Zeit zum Aufbruch.