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Schlimmer als der Tod

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„Komm mit“, forderte ihn Aláes nach der Rede auf, seine Stimme klang ausdruckslos. Silmar überlegte kurz, ob er sich weigern sollte, aber für eine Flucht war es längst zu spät. Irritiert spürte er, dass mit seinen Beinen irgendetwas nicht stimmte, sie fühlten sich kraftlos an, wie Gelee. Vielleicht sollte er einen Heiler aufsuchen.

Als sie in Aláes´ neuen Räumen angekommen waren, wandte sein Onkel sich sofort an seine Leibwachen: „Ich rufe euch, wenn ihr wieder benötigt werdet.“ Als die Männer ihn fragend anblickten, wedelte er ärgerlich mit der Hand. „Raus jetzt!“

Gehorsam wandten sich die beiden Eliscan um und gingen. Nur der Gharir blieb, er wirkte gleichmütig.

Silmars Knie fühlten sich noch kraftloser an, diese eigenartige Krankheit schien sich rasch zu verschlimmern. Dass er seine Leibwache weggeschickt hat, kann nur eins bedeuten, und zwar, dass ... nein, das kann Aláes nicht tun, er ist mein Verwandter! Wahrscheinlich will er nur unter vier Augen mit mir reden ... oder eher, unter sechs, wenn man den Gharir mitzählt ...

Sein Onkel kramte in dem Kästchen aus seltenen, verschiedenfarbigen Hölzern, das er einmal von seinen Reisen nach Ouenda mitgebracht hatte. Silmar konnte sich noch daran erinnern – Aláes hatte ihm in seiner Kindheit genau das gleiche geschenkt, nur kleiner. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er damals Zuckerzeug hineingetan und das ganze Ding irgendwann versehentlich fallen lassen, so dass es zerbrochen war. Aláes hatte nie gefragt, was daraus geworden war.

Jetzt kam sein Onkel auf ihn zu. Das übliche Lächeln sparte er sich.

„Silmar, Silmar“, sagte er und seufzte. „Ich hätte nie gedacht, dass du so dumm sein würdest. Was soll nur aus dir werden? Ke´syn ten Erieth!

„Was ich gesagt habe, war die Wahr ...“

Aláes näherte sich ihm und hob die Hand, um ihm auf die Schulter zu klopfen. Silmar zuckte zurück, doch Aláes folgte ihm wie ein Schatten. Silmar spürte einen leichten Schlag auf seinem Oberarm ... und einen kurzen, schnellen Schmerz. Sein Onkel hatte eine Nadel in der Handfläche verborgen!

Silmar taumelte zurück und spürte fast sofort, wie etwas mit seinem Körper geschah. Sein ganzer Arm wurde taub, dann breitete sich ein brennendes Kribbeln durch seinen Körper aus ... durch seinen Torso, hinunter zu seinem Unterleib, dann durch die Beine zu seinen Füßen. Silmar versuchte zu schreien, doch er konnte nicht einmal mehr den Mund öffnen. Er stürzte, fiel einfach um wie eine tönerne Statue.

Jetzt veränderte sich das Gefühl, das Brennen wurde immer stärker, seine Haut schien in Flammen zu stehen. Silmar krümmte sich auf dem Boden, Krämpfe rissen an seinen Muskeln. Die Welt begann um ihn herum zu flimmern, doch seine Hand war nah genug vor seinen Augen und Silmar sah blaue Flammen darüber züngeln, auch über sein Bein, nein, über seinen ganzen Körper. Er brannte! Brannte am ganzen Körper! Sein Onkel war dabei, ihn lebendig zu verbrennen! So ... entsetzlich ... weh! Wann hört das endlich auf wann wann wann? Sterbe ich jetzt? Sterbe ... sterbe ... sterbe ...

Durch die Qual hindurch nahm er wahr, dass Aláes ihn beobachtete. Zufrieden, mit einem kleinen Lächeln. Am liebsten hätte Silmar ihn angespuckt – Bastard! Du Bastard! – , doch auch seine Lippen standen in Flammen, wurden sie schon zu Asche? Wann hört das auf, nein, nein, nein, bitte!

Sein Onkel ging davon, ließ ihn liegen ... nein, er ging nur zur Tür ... begehrte irgendjemand Einlass? Ja, jemand kam herein. Ularia. Ratsmitglied. Keine Freundin von Aláes. Sie stand noch im Vorraum, sah Silmar vermutlich nicht, weil er auf dem Boden lag wie ein Wurm. Es tut so weh, ich sterbe ich sterbe bitte hilf mir hilf hilf! Nichts davon konnte er aussprechen, gerade fraßen die Flammen sein Gesicht, verzehrten seine Zunge, seine Wangen. Nein! Nein!

„Weswegen wolltet Ihr mich sprechen, Aláes?“ Ularias Stimme, unendlich fern.

„Ich? Wieso? Nein, nicht dass ich wüsste. Wer hat euch die Botschaft überbracht?“

„Eine junge Frau, eben gerade ...“

„Das war wohl ein Missverständnis, verzeiht. Wie sah sie denn aus, diese Frau?“

Bitte sieh mich, Ularia! Du musst mich sehen! Ich bin hier, du musst mir helfen! Aus Silmars Mund kam nur ein leises Ächzen. Dann überrollte ihn die nächste Welle purer Qual, und Silmar krümmte sich zusammen. Seine Schuhe scharrten über den Boden.

Weit, weit entfernt schnappte jemand erschrocken nach Luft. „Oh, das ist doch ... wieso habt Ihr nicht gesagt, dass es ein Notfall ist? Ich rufe sofort einen Heiler!“

Aláes´ Stimme, widerlich die geheuchelte Sorge. „Ja, bitte, mein Neffe ist ganz plötzlich zusammengebrochen.“

Dann kniete jemand neben ihm, berührte ihn vorsichtig, träufelte ihm etwas in den Mundwinkel. Vorsichtige Hände hoben ihn auf, trugen ihn davon.

Gnädige Dunkelheit nahm ihn auf.

Als er in den Räumen der Heiler erwachte, fühlte er sich besser. Er konnte sich sogar wieder etwas bewegen, die Finger zu strecken gelang ihm. Steif versuchte Silmar, sich aufzusetzen, doch es war zu anstrengend, erschöpft ließ er sich wieder zurücksinken. Eine Heilerin eilte herbei, sie hatte wunderschöne Haare in der Farbe des Mondlichts. Er wusste, dass er irgendwann einmal mit ihr geschlafen hatte, aber ihr Name fiel ihm nicht mehr ein. „Du bist wach!“, rief sie. „Erieth sei Dank!“

Silmar hob seine Hand vor Augen – sie schmerzte noch immer furchtbar, er rechnete damit, rohes, versengtes Fleisch zu sehen. Doch sie sah aus wie sonst, die Haut glatt und geschmeidig, die langgliedrigen Finger völlig unversehrt. Verblüfft betastete er sein Gesicht, auch das fühlte sich ganz normal an. Sein langes, hellblondes Haar war ebenfalls nicht angesengt. „Was ist ... mit mir passiert?“ Seine Zunge gehorchte ihm wieder.

Die Züge der Heilerin verhärteten sich. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Eine unbekannte Krankheit, dir mir noch nie untergekommen ist ... oder jemand hat dir Xdhiál gegeben. Das Gegenmittel hat jedenfalls gewirkt.“

Silmar nickte mit schmalen Lippen. Xdhiál. Für Menschen sicher tödlich, für Eliscan nur entsetzlich qualvoll. Ja, das musste es gewesen sein. Er hatte so etwas nie zuvor erlebt ... wie grauenhaft es gewesen war! Und sein eigener Onkel hatte ihm das Zeug verabreicht! Wenn Ularia nicht unerwartet erschienen wäre, wäre diese Folter wahrscheinlich noch stundenlang, womöglich tagelang weitergegangen. Aber wieso war Ularia überhaupt da gewesen? Aus Erinnerungsfetzen reimte er sich zusammen, dass jemand, eine junge Frau, sie durch eine gefälschte Botschaft dorthin gelockt hatte ... steckte dahinter Pharanee, hatte sie geahnt, dass ihm Gefahr drohte? Wenn ja, dann hatte er sie ernsthaft unterschätzt.

Die Tür ging auf, und Aláes schritt herein, die Absätze seiner hohen Lederstiefel klackten auf dem Marmorfußboden. Sofort verbeugte sich die Heilerin respektvoll vor ihm und zog sich mit ihren Helfern und Helferinnen in den Hintergrund zurück.

Mit einem herzlichen Lächeln, das auf den ersten Blick echt wirken mochte, setzte sich Aláes an den Rand seines Bettes. Silmar verkrampfte sich. Wenn er noch einmal versucht, mir auf die Schulter zu klopfen, schreie ich ... aber er würde es nicht hier unter aller Augen tun, oder?

„Ich hoffe, du gesundest rechtzeitig zu meiner Krönung, Neffe“, sagte Aláes mit besorgtem Blick.

Wie entsetzlich gut er heucheln kann. Silmar nickte schweigend – wenn er sprach, würde er alles nur noch schlimmer machen.

Sein Onkel beugte sich zu ihm herab und hauchte ihm, noch immer lächelnd, ins Ohr: „Du denkst nicht daran, mir weiterhin zu trotzen, oder? Wenn doch, dann muss ich zu meinem Bedauern weitere Maßnahmen ergreifen. Ich denke da ans Abtrennen deiner Hände ... ein bedauerlicher Unfall natürlich.“

Silmar erstarrte, doch Aláes war noch nicht fertig. „Stell dir vor, wie gut du es dann hast. Nicht einmal dein Glas musst du selbst zum Mund heben. Doch leider wird dich keine Frau in Moranshir mehr mit Begehren anblicken. Das einzige, was du noch in ihrem Blick sehen wirst, ist Mitleid.“

Einatmen. Ausatmen. Wenn Silmar sich auf seinen Atem konzentrierte, dann ging es irgendwie. Dann schaffte er es, sich nichts anmerken zu lassen.

„Erhol dich gut, Neffe“, sagte Aláes wieder lauter, erhob sich und schritt ohne einen Blick zurück zur Tür.

Vorsichtig erhob sich Silmar und stellte die Füße auf den Boden, ungeduldig winkte er einer Helferin, ihm seine Schuhe zu bringen. Er musste hier raus. Doch bevor er die Tür erreichte, ging sie schon auf – noch mehr Besuch! Erleichtert sah er, dass es diesmal Pharanee war – doch sie war bleich wie das Blütenblatt einer Anemone und zitterte am ganzen Körper. „Aláes ... eben ...“, stammelte sie. „Er wusste, dass ich diese Botschaft ... er sagte, dass er mir ... dass er ...“

„Ich weiß“, sagte Silmar und nahm sie in die Arme. „Zu mir hat er es auch gesagt.“

Pharanee erwiderte die Umarmung, doch sie ließ sich nicht gegen ihn sinken. Ihr Körper fühlte sich an wie aus Holz, und ihre violetten Augen waren glasig. „Er meint das auch so, nicht wahr?“

„Ja. Und selbst wenn er dafür verurteilt wird ... für uns ist es dann zu spät.“ Silmar versuchte sich ein Leben ohne Hände vorzustellen und schaffte es nicht.

„Lass uns fortgehen von hier, jetzt gleich“, flüsterte Pharanee.

Doch Silmar spürte, wie die Wut zurückkehrte, die ihn damals erfasst hatte, nachdem Aláes das magische Amulett des Lin´tháresh zerstört hatte. Es war eine kalte Wut, klar und hart wie Eis, und er konnte fühlen, wie sie ihm seine Kraft zurückgab. „Nein“, sagte er – mit Absicht so laut, dass die Heilerinnen ihn hören konnten. „Dieser Mann darf nicht König werden!“

Die meisten Heilerinnen blickten drein wie Eulen, wenn es donnert, doch diejenige mit den mondfarbenen Haaren nickte und begegnete seinem Blick. „Was können wir tun?“, fragte sie.

Dankbar lächelte Silmar sie an. Er musste nur kurz überlegen, bis ihm etwas einfiel. Rasch, bevor die Angst ihn wieder in den Griff bekam, nahm er die Wortführerin beiseite und begann leise zu sprechen.

***

Erleichtert sah Jerusha, dass in Loreshom noch fast alles so war wie bei ihrer Abreise. Auf den Feldern grasten schwarzköpfige Kehanoschafe, am Dorfweiher angelte ein Junge, auf dem Dach einer Kate putzte sich ein Storch das Gefieder. Nirgendwo Leichen, nirgendwo brennende Häuser, den Göttern sei Dank! Noch war der Krieg nicht bis hierher vorgedrungen.

Doch ihre Botschaft schien angekommen zu sein, Barrikaden aus angespitzten Holzpfählen waren um das Dorf herum errichtet worden, und an den ungepflasterten Straßen, die ins Dorf hineinführten, standen Wachen. Jerusha erkannte Nicojem DoAlland, ihren Nachbarn, und Andros ElMoris, einen jungen Schmied. Sie versuchten beide ihr Bestes, grimmig dreinzublicken, und legten großspurig die Hand an den Griff ihrer Schwerter, als sie ihren kleinen Trupp erblickten.

„Woher und wohin?“, schnauzten sie die Priester an. Doch dann erkannten sie Jerusha, entspannten sich und lächelten sie verlegen an. „Ach, du bist es, alles in Ordnung?“, meinte Nicojem, und Andros fragte neugierig: „Wo ist Kiéran?“

„Kämpft an der Grenze“, sagte Jerusha, sie vermisste ihn schon jetzt furchtbar. Unwillkürlich verglich sie die beiden Gestalten vor sich mit ihm. Ihre Schwerter waren kaum besser als Schrott, die Klinge schartig, der Griff rostig – aber das war eigentlich egal, denn an der Haltung der beiden Männer sah man, dass sie sowieso nicht wussten, wie man mit einer Waffe umging.

„An der Grenze“, wiederholte Nicojem DoAlland tief beeindruckt. „Er wird sie alle fertigmachen!“

„Es sind ziemlich viele, fürchte ich – die schafft selbst er nicht alle“, sagte Jerusha mit einem schwachen Lächeln. „Ach ja, wisst ihr, wo meine Leute sind?“

„Die haben ihre Sachen gepackt und sind ab in den Wald“, meinte Andros und beäugte neugierig die beiden Priester, die schweigend auf ihren Pferden hockten. „Niemand anders wollte mitkommen. Bei diesem Wetter im Wald nächtigen, Ghalil bewahre!“

Ihnen ist nicht klar, wie gefährlich die Eliscan wirklich sein können, dachte Jerusha beunruhigt und war froh, dass ihre Familie getan hatte, worum sie sie gebeten hatte. Sie fragte nach ihrer Freundin Kianna, doch die war gerade auf einer Reise nach Uskaja, um dort ihre Waren anzubieten. Sie würden sich nicht verabschieden können. Zum Glück lag Uskaja noch weiter von der Grenze entfernt als Loreshom, dort war es sicherer als hier.

Traurig bedankte sich Jerusha für die Auskunft, sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei, all ihre Freunde und Nachbarn zurückzulassen und selbst in einem Spiegeltempel Schutz zu suchen. Hilft nichts, dachte sie verbissen, niemals hätte ich die Genehmigung bekommen, alle Dorfbewohner im Tempel unterzubringen.

Sie ritt kurz bei ihrer Kate vorbei, um Ersatzkleidung, ein neues Stück Seife und weiteren Proviant zu holen. Vorsichtig strich sie über die schwarzlila Blüten ihrer Nachtlilien, die wie immer zu dieser Zeit geschlossen waren. Ich bin wieder da, sobald ich kann, versprach sie ihnen lautlos, dann ritt sie los zum Fir Evarn. Sie konnte es kaum noch erwarten, ihre kleine Schwester wiederzusehen, seit fast einem Mond hatte sie ihre Stimme nicht mehr gehört. Instinktiv trieb sie Damaris zum Galopp an, und die Priester folgten auf ihren Pferden.

Noch allzu gut erinnerte sich Jerusha daran, wie sie zuletzt auf dem Fir Evarn gestanden hatte ... in dieser ganz besonderen Nacht von König Qedyrs Ankunft. Jetzt war es hell, und an diesem regnerisch-kühlen Nachmittag sah alles sehr viel gewöhnlicher aus, auch die Baumgesichter.

Suchend sah Jerusha sich nach Liri um, doch keine Spur von ihr und ihrer Mutter.

„Heda! Wo seid ihr?“, rief Jerusha, und in einem immergrünen Baum in der Nähe raschelte es plötzlich. Zwei Hände drückten die Zweige auseinander, und Liris übermütiges Gesicht lugte hervor. „Shani!“, schrie ihre kleine Schwester, und kurz darauf lagen sie sich in den Armen. Wie immer trug Liri ihren Bogen über der Schulter, auch wenn er beim Klettern sicher hinderlich gewesen war. Ihre kurzen hellblonden Haare brachten ein wenig Sonnenschein in den grauen Tag.

Auch ihre Mutter tauchte auf, sie hatte sich unter einem Baum ein Lager gerichtet, das durch eine gewachste Plane vor dem Wetter geschützt war. Noch immer wirkte Myrial gleichgültig, wie erloschen, und mehr als eine freundliche Begrüßung, wie sie auch zwischen Fremden angemessen gewesen wäre, schafften sie beide nicht. Es war undenkbar, ihr freudig zu erzählen, dass Kiéran ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Dafür war später noch genug Zeit, und vielleicht würde sich wenigstens Liri darüber freuen.

„Wir müssen sofort los“, teilte Jerusha ihrer Familie mit.

„Ja, aber ... wohin sollen wir denn gehen?“ Ihre Mutter klang ratlos. „Und die Nacht kommt bald, bei Dunkelheit können wir nicht reisen.“

„Wir müssen“, drängte Jerusha. „Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis die Anderwesen hier eintreffen.“ Es hätte ihnen gerade noch gefehlt, jetzt von einem Rudel Skraelings überrascht zu werden. Doch Jerusha zwang sich zur Geduld und erklärte, dass sie Zuflucht in einem Tempel der Schwarzen Spiegel suchen würden, und warum diese Tempel sichere Orte waren. Liri beäugte die beiden Priester skeptisch und nickte, ihrer Mutter schien ohnehin alles egal zu sein.

Netterweise erboten sich die Priester, ihre Mutter mit auf eins ihrer Pferde zu nehmen, und Liri und Jerusha ritten gemeinsam auf Damaris, was der Stute nichts auszumachen schien. Unterwegs hatte Jerusha einen Käfig mit zwei Botenvögeln gekauft, den sie am Sattel befestigt hatte.

„Wusstest du übrigens, dass Papa gestern in Loreshom war?“, sagte Liri zu Jerusha, als sie sich auf den Weg zum Fürstin-Jolissa-See machten. „Zum Glück haben wir ihn noch getroffen, bevor wir in den Wald gegangen sind.“

„Tatsächlich?“, sagte Jerusha, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte ihren und Liris Vater seit über einem Jahreslauf nicht gesehen. „Er hat bestimmt nicht nach mir gefragt, oder?“

„Erst nicht“, musste Liri zugeben.

Es schmerzte jedesmal ein wenig, an ihren Vater Josuan zu denken, weil er von seinen Kindern Liri bevorzugte, die so groß und blond war wie er selbst. Jerusha dagegen war klein und dunkelhaarig wie seine Frau ... diese Frau, die versucht hatte, ihn umzubringen. Schuld daran war der Fluch gewesen, der alle Frauen der KiTenaros gezwungen hatte, diejenigen zu verraten, die sie liebten. Doch das hatte Josuan nie akzeptiert, er hatte damals voller Wut die Familie verlassen, was ihre Mutter endgültig gebrochen hatte. Jetzt führte er eine Bäckerei irgendwo auf der anderen Seite des Benar und hatte seinen bisherigen Clan-Namen EoLinnek wieder angenommen.

„Aber ich habe ihm trotzdem etwas über dich erzählt“, berichtete Liri. „Ich habe ihm gesagt, dass der Fluch jetzt aufgehoben ist – dass du durch ganz Ouenda, Jil´quanor und Khorat reisen musstest, um ihn zu lösen.“

„Was hat er dazu gesagt?“ Jerusha wusste, dass Josuan nicht an den Fluch geglaubt, ihn für ein Hirngespinst gehalten hatte.

„Danach war er neugierig und wollte eine Menge wissen über das, was du erlebt hast“, meinte Liri und klopfte Damaris abwesend den Hals. „Ich glaube, er ist nicht mehr ganz so sicher, dass wir uns den Fluch nur eingebildet haben.“

Wider willen spürte Jerusha, wie ein warmes Gefühl sie durchflutete. „Das will ich hoffen“, sagte sie. Nein, nichts davon war eingebildet gewesen, sie hatte tatsächlich mit Drachen, Traumweberinnen und Eliscan-Fürsten gesprochen ... und keins dieser Anderwesen hatte jemals angezweifelt, dass es mächtige Flüche gab. Es waren immer nur Menschen, die all das Unglück, das über die KiTenaros hereingebrochen war, für Zufall oder Schicksal gehalten hatten.

Damaris scheute, weil sich gerade ein Botenvogel in ihre Mähne gekrallt hatte und Jerusha nun aufgeregt anpiepte. Kurz darauf traf ein zweiter Teodésh ein.

„Du bekommst ja viel Post“, sagte Liri enttäuscht. „Von wem ist das?“

„Eine ist von Kiéran.“ Er war gerade an der Grenze eingetroffen und schrieb ihr, wie sehr er sie liebte. Jerusha lächelte gerührt. Dann sah sie, dass die Nachricht schon vier Tage alt war, und blickte den Teodésh vorwurfsvoll an. Außerdem fragte Kiéran, ob er ihre anderen Botschaften bekommen hatte – nein, hatte sie nicht! Sie seufzte. „Die Grenze verwirrt die Teodésh. Vielleicht ist das arme Vieh hier eine Weile durch Khorat geirrt, bis es doch noch hergefunden hat.“

Doch es war die zweite Nachricht, die Jerusha wirklich überraschte. Sie kam von Josuan, ihrem Vater, und war nur sehr kurz.

Jerusha, können wir reden? Melde dich, wenn du in der Nähe bist. Josuan

Schon riss ihr Liri das Pergament aus der Hand und las es ebenfalls. „Er will mit dir reden! Das ist doch gut, oder?“

„Ja“, sagte Jerusha und zuckte die Schultern. Lieblos klang diese Botschaft, und sie sah hastig hingekritzelt aus. Trotzdem – durfte sie diese Gelegenheit vorbeigehen lassen? Sie hatte so viele Fragen ... es war quälend, nicht genau zu wissen, wie ihre Familie damals zerbrochen war. Da Myrial sich weigerte, darüber zu sprechen, wusste sie nicht einmal, auf welche Weise ihre Mutter versucht hatte, ihren Vater zu töten. Wahrscheinlich war schon der Gedanke daran unerträglich für sie.

Als Jerusha begann, sich über mögliche Treffpunkte Gedanken zu machen, wusste sie, dass sie sich eigentlich schon entschieden hatte. Wenn er bereit dazu war, würde sie mit ihrem Vater reden und auf sich zukommen lassen, was er zu sagen hatte.

Sie nutzte eine kurze Rast, um ihm eine Antwort zu schreiben und mit dem Botenvogel abzuschicken. Auch Kiéran brauchte sie auf den neusten Stand.

„Wir müssen weiter“, drängten die Priester, und Jerusha nickte. Sie waren spät dran, da die Pferde unter der doppelten Last nur langsam vorankamen, und die Sonne war bereits untergegangen. Obwohl Jerusha mit Kiéran, Qedyr und den anderen Eliscan oft bei Nacht gereist war, fühlte es sich falsch an, es jetzt zu tun – sie wusste, dass Anderwesen bevorzugt zu dieser Zeit angriffen, da sie in der Dunkelheit besser sahen als Menschen.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Jerushas Mutter und strich sich die eisengrauen Locken aus dem Gesicht. Selbst im warmen Licht der Laterne wirkte ihr Gesicht bleich und angespannt.

„Etwa drei Stunden“, gab einer der Priester zur Auskunft, ein zurückhaltender, aber freundlicher junger Mann namens Timok, der sich beim letzten Lager mit Jerusha sehr kundig über die Bildhauerei unterhalten hatte. Wie sich herausstellte, arbeiteten seine Brüder beide in einem Steinbruch, doch er selbst hatte sich ein anderes Leben ersehnt und hatte eines Tages erfreut gemerkt, dass die Schwarzen Spiegel ihn riefen.

„Drei Stunden? Aber nur, wenn wir gut durchkommen“, knurrte der zweite Priester, ein bulliger älterer Mann aus Benaris, der sich Gramb nannte und eine schwere Streitaxt mit zwei Klingen trug. Wachsam blickte er sich um, er schien sich keine Sekunde lang zu entspannen, und das wiederum machte Jerusha nervös. Der Bogen hing über ihrer Schulter, sie hatte ihren Köcher in Loreshom neu mit selbst gefertigten Pfeilen aufgefüllt. Aber konnte man Skraelings überhaupt mit Pfeilen verletzen? Ganz abgesehen von Frostdrachen. Für sie war es nur ein kurzer Flug von Khorat bis hierher, es war nicht völlig ausgeschlossen, dass einer von ihnen hier auftauchte.

„Nur drei Stunden? Dann bekommen wir vielleicht noch eine Abendspeise“, sagte Liri hoffnungsvoll, ihre Arme umfassten Jerusha und ihr Kopf lag schläfrig auf ihrem Rücken. Bisher hatten sie vor allem von getrockneten Wurzeln, Dörrfleisch und nicht mehr sonderlich frischem Fladenbrot gelebt.

„Um Mitternacht? Ich fürchte, da wird uns kein Koch mehr etwas richten.“ Die Stimme ihrer Mutter aus der Dunkelheit hinter ihr.

Jerusha beteiligte sich nicht an der Diskussion, alarmiert beobachtete sie Damaris. Die Stute hatte den Kopf gehoben, erst lauschte sie mit gespitzten Ohren, dann legte sie die Ohren an. Irgendetwas hatte sie bemerkt, vielleicht gewittert. Ein Schauer durchlief Jerusha. Die anderen Pferde verhielten sich ganz normal, doch sie hatte schon länger den Verdacht, dass Damaris feinere Sinne hatte und vielleicht sogar spüren konnte, wenn Magie in der Luft lag.

„Irgendetwas ist in der Nähe“, sagte sie zu Gramb, und der Priester hob seine Axt.

„Könnt Ihr erkennen, was?“, fragte Timok und blickte sich unruhig um.

Jerusha schüttelte den Kopf. Ihre gewöhnlichen Augen schafften es nicht, die tiefe Dunkelheit zu durchdringen, sie sah wenig mehr als den Pfad vor Damaris´ Hufen und die Äste der Bäume in unmittelbarer Nähe.

„Vielleicht ...“, begann sie, doch sie schaffte es nicht mehr, den Satz zu beenden.

Denn in diesem Moment sah sie, was Damaris solche Angst einjagte.

***

Atadriel, der Erste Ratgeber des Königs, fühlte sich schlecht. Magenkrämpfe plagten ihn, obwohl er nur ein leichtes Mahl aus Apfelblüten, Nussbrot und Honig zu sich genommen hatte. Außerdem hatte er wie jeden Morgen ein Elixir genommen, um sich zu stärken, er ließ es nach einem uralten Rezept seiner Familie von den Heilern wöchentlich frisch zubereiten. Doch diesmal ließ es ihn anscheinend im Stich.

Wieder ein Magenkrampf, wenn auch ein leichter. Das war eine Katastrophe, er musste die Krönung und die nächste Sitzung des Rates vorbereiten, dessen Vorsitzender er war!

Er begab sich zu den Räumen der Heiler und ließ sich dort auf eine mit Moos gepolsterte Liege sinken. Schon eilte die Heilerin, eine nicht sehr große Frau mit mondfarbenem Haar, zu ihm. „Was hat das Schicksal Euch beschert?“, fragte sie besorgt. Nachdem Atadriel ihr seine Beschwerden erklärt hatte, hob sie die Augenbrauen. Sie gab ein „Hm“ von sich und begann dann schweigend mit einer Untersuchung.

Hm? Was sollte das denn heißen? Womöglich war er schwer krank und musste nun jahrhundertelang dahinsiechen. Atadriel schloss gequält die Augen und überließ sich den kundigen Fingern der Heilerin, die hier und da tastete, klopfte oder fühlte. Schließlich richtete sie sich auf und sagte: „Das ist ein ernster Fall.“

„Ein ernster Fall?“, ächzte Atadriel.

„Aber nicht ohne Hoffnung“, versicherte ihm die Heilerin. „Die Ursache liegt tief hier drinnen ...“ Sie legte die Hand auf die Brust. „Dort sitzt ein Knoten der Sorge und der Furcht, der Euch zu schaffen macht und Euer Elend hervorruft.“

Atadriel schaffte ein verzerrtes Lächeln. „Die Sorge um Moranshir gehört leider zu meiner Berufung ...“

„Dieser Knoten ist mehr als das. Und wenn Ihr ihn nicht loswerdet, wird Euer Leiden immer schlimmer.“

„Es ist sicher die Sorge um meinen Sohn Colmarél“, sagte Atadriel, und wieder einmal nahm ihm die düstere Stimmung fast den Atem. Natürlich, Col war schon seit Jahrhunderten erwachsen, doch er würde immer sein Kind sein. Dass er in Ouenda verschollen war, raubte ihm den Schlaf. „Wir haben nichts von ihm gehört, womöglich wird er ebenso wie Qedyr als Geisel festgehalten und gefoltert. Ein unerträglicher Gedanke.“

„Ich verstehe“, sagte die Heilerin mitfühlend. „Aber es muss noch etwas anderes geben ... etwas ebenso Schlimmes. Erst wenn ich weiß, was es ist, kann ich Euch das richtige Elixir geben, um Euch zu heilen.“

Der Gedanke an die Erpressung, der er ausgesetzt war, an diesen Plan, den er gegen seinen Willen umzusetzen half, fühlte sich an wie ein tonnenschwerer Felsen auf Atadriels Schultern. Eigentlich erstaunlich, dass er nur an Magenkrämpfen litt – manchmal fühlte es sich an, als müsse sein Herz den Dienst versagen, weil es all das nicht mehr aushielt. Unsterblich zu sein, war zu manchen Zeiten schwer erträglich.

Atadriel zögerte lange, dann begann er zu sprechen. „Als ich noch mehr reiste als jetzt, verliebte ich mich einst in Linney, eine junge Frau der Elis Finhar“, sagte er, und seine Zunge fühlte sich schwer an, so schwer, dass er sie kaum bewegen konnte. „Sie war schön wie der Nebel selbst, gütig und klug. Doch wenn ich gewusst hätte, in welches Verderben mich diese Liebe führen würde ...“

Er verstummte. Viel zu viel hatte er preisgegeben.

„Ich glaube, jetzt weiß ich, wie ich Euch helfen kann“, sagte die Heilerin sanft und nahm ein winziges Fläschchen aus geschliffenem blauen Kristall zur Hand. „Nehmt drei Tropfen davon dreimal in jeder Nacht. Ihr werdet merken, noch heute wird es Euch besser gehen.“

Atadriel atmete tief durch und nahm das Fläschchen. Vielleicht hätte er einfach gestehen sollen, was er damals getan hatte. Dann wäre er jetzt nicht in diesem furchtbaren Dilemma. Aláes wird kein guter König sein, aber was soll ich tun? Mich opfern, damit es nicht so weit kommt, gestehen, was damals passiert ist, so dass mir niemand mehr damit drohen kann? Nein, das bringe ich nicht fertig! Colmarél würde es nicht ertragen, wenn sein Vater in Schande verbannt würde. Nicht nur mein Leben bei Hofe wäre zu Ende, auch seines.

Was auch immer in diesem Elixir enthalten war, es wirkte. Kurz darauf waren seine Magenkrämpfe weg.

Nur die düsteren Gedanken, die blieben.

Noch fünf Tage bis zur Krönung.

***

Das Licht von Jerushas Lampe fiel auf ein Geschöpf, das neben dem Pfad im Gebüsch kauerte, die großen dunklen Schwingen auf dem Boden ausgebreitet. Es sah aus wie ein Mischwesen aus Vogel, Eidechse und Mensch und war etwa doppelt so groß wie Jerusha selbst – alle Götter, das war ein Skraeling! Jerusha stieß einen Schreckensruf aus, und im gleichen Moment richtete sich das Wesen auf, breitete die Schwingen aus und katapultierte sich mit seinen kräftigen Reptilienbeinen in ihre Richtung. Seine Klauen griffen nach ihr, und sein menschlicher Mund mit den Fangzähnen fauchte sie an.

Noch bevor Jerusha reagieren konnte, war Damaris schon in Panik zur Seite gesprungen. Ihre Bewegung war so heftig und unerwartet, dass Jerusha beinahe aus dem Sattel geworfen worden wäre, und sie spürte, wie Liri hinter ihr ins Rutschen kam. „Shani, hilf mir!“, keuchte ihre Schwester und klammerte sich mit aller Kraft an Jerushas Tunika fest, doch es war zu spät. Der Stoff riss, und schon lag Liri im Gras und starrte mit vor Furcht geweiteten Augen das Anderwesen an, das sich gerade mit erhobenen Vorderklauen auf die Priester stürzte.

„Liri!“, brüllte Jerusha entsetzt – und dann reagierte sie instinktiv. Bevor sie zum Nachdenken kam, hatte sie schon Damaris´ Zügel losgelassen und sich seitlich vom Pferd gekippt. Mit einem heftigen Ruck, der ihr die Luft aus den Lungen trieb, kam sie auf dem kalten Matsch des Weges auf, während ihre Stute durch das Gebüsch davonraste.

Jerusha warf sich auf Liri, die verängstigt am Boden kauerte, und riss sie mit sich in einen Graben neben den Weg. Dort drückte sie ihre Schwester mit ihrem eigenen Körper nach unten, damit der Skraeling sie aus dem Blickfeld verlor. „Ich kriege keine Luft mehr“, beschwerte sich Liri und versuchte, unter ihr hervor zu kriechen, doch Jerusha drückte sie zurück und wagte mit hämmerndem Herzen einen Blick auf die Kämpfenden wenige Meter von ihnen entfernt.

Gramb und Timok griffen den Skraeling von zwei Seiten zugleich an und versuchten, ihn mit Schwert oder Axt zu verletzen. Doch viele ihrer Schläge prallten von dem zähen Gefieder ab, und seine Flugsprünge trugen das Wesen immer wieder außer Reichweite der beiden Kämpfer. Von oben, von vorne, von hinten stieß es auf sie herab, hackte mit den Vorderklauen nach ihnen und trat mit seinen krallenbewehrten Hinterbeinen. Entsetzt sah Jerusha, dass Timok schon verletzt war, noch während sie zusah, ging er zum zweiten Mal zu Boden. Hätte sich Gramb nicht mit erhobener Axt zwischen ihn und den Skraeling geworfen, wäre der junge Priester von den Klauen des Anderwesens von der Kehle bis zum Bauch aufgeschlitzt worden.

Verzweifelt sah Jerusha sich um. Wo war ihre Mutter? Hat sie sich auf dem Pferd des Priesters halten können, ist es mit ihr durchgegangen und sonstwo hingerannt? Das ist vielleicht am besten, dann ist sie in Sicherheit!

Doch schließlich entdeckte sie Myrial halb hinter einem Busch verborgen. Sie rief irgendetwas zu ihnen herüber, was Jerusha über den Kampfeslärm nicht verstand. Anscheinend war sie nicht verletzt, Shimounah sei Dank, aber was genau machte sie da? Auf allen Vieren kroch sie über den Boden, streckte den Arm aus und ergriff etwas – den Bogen, den Liri verloren hatte! Daneben lag auch der Köcher.

„Wirf das zu uns!“, rief Jerusha ihr zu. Bei ihrem eigenen Bogen war durch den Sturz die Sehne gerissen, sie hatte nur ihr Messer, um sich zu verteidigen. Sie tastete danach, und zog es, wie lächerlich klein die Klinge war!

Ein Schrei gellte durch die Nacht. Der Skraeling hatte sich auf Gramb gestürzt, der Priester lag am Boden und das Anderwesen hockte auf ihm. Fast genussvoll grub es die Krallen in seinen Rücken. Es war ein so furchtbarer Anblick, dass Jerusha es kaum über sich brachte hinzuschauen. Timok drosch mit all seiner verbliebenen Kraft mit dem Schwert auf das Anderwesen ein, und einmal schaffte er es, den Skraeling am Flügel zu verletzen. Auch Timok hält nicht mehr lange durch, und was dann?

Auch Liri ahnte, was ihnen bevorstand. „Wenn das Vieh mit den anderen fertig ist, dann kommt es zu uns rüber ...“, hauchte sie.

Jerusha antwortete nicht, sie blickte sich nach anderen Skraelings um. Die Biester traten doch immer im Rudel auf – wo waren die anderen? Wenn noch mehr von ihnen eintrafen, dann waren sie endgültig verloren ...

Ihre Mutter hob den Bogen, doch sie schien nicht die Absicht zu haben, ihn Jerusha herüberzuwerfen. Stattdessen richtete sie sich auf, fand einen stabilen Stand, holte einen Pfeil aus dem Köcher, ohne das Anderwesen aus den Augen zu lassen, und spannte den Bogen. Ihr Pfeil jagte auf den Skraeling zu und traf ihn mitten in den Bauch, wo er steckenblieb. Sie hatte geschafft, das Vieh zu verletzen! Der Skraeling stieß einen wütenden Laut aus und blickte sich nach diesem neuen Angreifer um.

Schon schickte ihre Mutter einen weiteren Pfeil ab, und noch einen. Mit offenem Mund beobachtete Jerusha das Geschehen. Diese Frau dort mit den hinten zusammengebundenen Locken wirkte fremd im Licht der umgefallenen Laterne, ihr Gesicht war hoch konzentriert, nur ihre zusammengepressten Lippen verrieten, was sie fühlte. Sie ist eine KiTenaro – und die KiTenaros sind berühmte Bogenschützen seit vielen Generationen!

Hoffnung durchflutete Jerusha. Konnte Myrial es schaffen, den Skraeling zu erledigen? „Ziel auf die Kehle!“, brüllte sie ihrer Mutter zu, sie wusste, dass Skraelings dort am verletzlichsten waren.

Ein dritter, ein vierter Pfeil schlugen im Körper des Skraelings ein, alle zwischen Bauch und Hals. Das Wesen wand sich vor Schmerz und fauchte. Timok nutzte, dass es abgelenkt war, und stieß ihm das Schwert in die verletzliche Unterseite des Flügels. Wütend schlug der Skraeling mit den Klauen nach ihm ... und dann flatterte er von Grambs Körper auf, legte die Flügel an und griff Jerushas Mutter an wie ein Falke, der sich auf seine Beute stürzt.

„Geh in Deckung, geh in Deckung!“, kreischte Liri, doch ihre Mutter blieb einfach stehen. Visierte ihr Ziel an, als sei es nur eine der bunten Scheiben auf ihrem Schießplatz.

Und auf einmal steckte ein Pfeil mitten in der Kehle des Skraelings. Das Wesen stürzte auf die Seite, seine Flügel zuckten und die Beine bewegten sich krampfartig.

Liri jubelte und riss die Arme hoch, doch Jerusha wusste, dass die Gefahr noch nicht vorbei war. Wenn das Vieh Mama jetzt noch mit seiner Giftklaue berührt, dann ist es aus, auch wenn wir schon gewonnen haben! Sie kam auf die Füße und rannte zu ihrer Mutter, packte sie am Arm und riss sie zurück. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie das Anderwesen starb.

Dann wandte sich ihre Mutter ihr und Liri zu. Verblüfft sah Jerusha ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht. In ihren Augen war wieder Leben, wenn auch nur einen Moment lang. „Ich kann es noch“, sagte sie, es klang fast erstaunt.

„Na klar, sowas verlernt man doch nicht“, sagte Jerusha, und dann umarmte sie ihre Mutter. Liri warf sich ebenfalls auf sie und klammerte sich an sie beide. Einen Moment lang verharrten sie so, dann ließ Jerusha los. Was ist mit Timok und Gramb? Die beiden haben ihr Leben für uns gewagt!

Timok kniete schon bei Gramb, der stöhnend am Boden lag, und war schon dabei, seine Wunden mit einer Flüssigkeit aus seinem Gepäck, wahrscheinlich Ydirun, zu behandeln. Als er Jerusha herankommen hörte, blickte er auf und schaffte ein verzerrtes Lächeln. „Gut, dass es nur ein einzelner Skraeling war, vielleicht ein Kundschafter. Sonst hätten sie im Tempel vergeblich auf uns gewartet.“

„Wie schwer ist er verletzt?“, fragte Jerusha besorgt und kniete sich neben den älteren Priester.

„Er wird durchkommen, wenn wir ihn gleich zum Tempel schaffen“, gab Timok zurück. „Sie haben dort einen richtig guten Heilkundigen mit einer Kräutersammlung, die ihresgleichen sucht.“

Doch es dauerte eine Weile, bis Liri und ihre Mutter die Pferde eingefangen hatten und sie endlich weiterkonnten. In der Zwischenzeit hatten Jerusha und Timok eine Art Trage für den zweiten Priester gebaut – zwei lange Stangen, die sie am Sattel des einen Pferdes befestigen konnten, und dazwischen das große Tuch aus Myrials Gepäck. Auf dem Tuch lagerten sie den Verletzten, so dass sie ihn hinter sich herziehen konnten. Doch besonders schnell würden sie so nicht vorankommen.

„Jetzt sind wir leichte Beute“, sagte Myrial und presste die Lippen zusammen. Da Liri darauf bestanden hatte, dass sie ihren eigenen Bogen zurückbekam, hielt ihre Mutter nun Jerushas neu bespannten Eschenbogen bereit und sah sich wachsam um.

„Ja, das sind wir, fürchte ich.“ Timok nickte und band eine weitere Ecke des Tuches am Balken fest. „Nicht zu ändern. Ich hoffe, es sind nicht noch mehr Skraelings in der Gegend.“

Jerusha ging zu Fuß voran und räumte Hindernisse vom Pfad, damit die Trage nirgendwo hängenblieb. Liri ritt auf Damaris und trug den heil gebliebenen Käfig mit den Botenvögeln, Myrial saß auf Grambs Pferd, das die Trage zog, und Timok sicherte ihre Gruppe mit gezogenem Schwert nach hinten. Sie kamen so langsam voran, dass die Sonne bereits aufging, als sie den Tempel erreichten, ein aus schwarzem Basalt gemauertes, anscheinend scheibenförmiges Gebäude, das auf einer Lichtung mitten im Wald stand. Erleichtert beschleunigten sie ihre Schritte. Endlich in Sicherheit!

„Ghalils Schande, hab ich einen Hunger, hoffentlich gibt´s gleich Frühstück.“ Liri hatte den Schrecken des Angriffs offenbar schon verwunden, sie ließ sich von der Stute gleiten und folgte Timok zu den schweren, mit Eisen beschlagenen Türen.

Jerusha dagegen war so müde, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte, Essen war das letzte, an das sie jetzt gedacht hätte. Als sie das Gebäude betrachtete, fühlte es sich zudem an, als habe sie den ganzen letzten Tag über Granitstücke verzehrt. Dieser Tempel sieht ganz genauso aus wie der in Yantosi, in dem ich Kiérans neues Amulett ergaunert habe. Inzwischen haben die Priester sicher herausbekommen, was ich getan habe ... kann es wirklich sein, dass ich hier willkommen bin?

Im Inneren, das von Fackeln erhellt wurde und nach kühlem Stein und Kräutern roch, wurden sie schon erwartet. Während ein rothaariger, beleibter Priester und einige Helfer ihren verletzten Begleiter fortbrachten, wurden Myrial, Liri und sie von einem schmalen Mann mit lichten Haaren und etwas hervorstehenden Augen begrüßt, die Liri wahrscheinlich respektlos „Froschaugen“ nennen würde. Hoffentlich nur dann, wenn niemand zuhörte. Er trug die gleiche Kutte mit eingewebten Mustern, die auch die anderen Priester nie ablegten.

„Seid willkommen, mein Name ist Krivar, ich bin der Erste Priester dieses Tempels“, sagte er freundlich. „Wir waren schon in großer Sorge um euch! Ihr seid angegriffen worden, habe ich gehört?“

Jerusha berichtete, was geschehen war. Als sie fertig war, neigte Krivar den Kopf. „Gelobt sei das Oscurus. Es war euer Schicksal, diesen Tempel zu erreichen, alles Weitere wird sich zeigen.“ Zu Jerushas Überraschung fuhr er fort: „Übrigens ist jemand für euch angekommen ... er wartet schon seit Stunden auf euch ... na also, da kommt er schon.“

Verwirrt blickte Jerusha dem Mann entgegen, der ihnen aus dem Halbdunkel in den Gängen des Tempels entgegenging. Erst als Liri „Papa!“ jubelte und ihm entgegenlief, wurde ihr klar, dass dieser hochgewachsene blonde Mann ihr Vater Josuan war.

Jetzt hatte sie keine Wahl mehr. Sie würde mit ihm sprechen müssen, ob sie wollte oder nicht.

***

Tag und Nacht flossen ineinander, wurden bedeutungslos. Qedyrs Pferd Junius wusste, wie eilig es war, und galoppierte rasch wie ein Windhauch. Hin und wieder sah ein Mensch sie vorbeistürmen und öffnete staunend oder erschrocken den Mund, doch Qedyr achtete ebenso wenig darauf wie seine beiden Begleiter. Das Herz zersprang ihm fast, wenn er an Célafiora dachte. Und der Gedanke an diesen Krieg, der ohne seine Zustimmung begonnen hatte, quälte ihn unablässig.

Colmaréls rote Locken wurden nach hinten geweht, während er ritt, und wenn sie sich ansahen, las Qedyr Hoffnung und Angst in seinem Blick. Er war ebenso ratlos und entsetzt wie sie alle. Rawelha sicherte ihre Gruppe nach hinten und sorgte dafür, dass niemand ihnen folgte, weder Mensch noch Anderwesen.

In Benaris rasteten sie kurz an einer Quelle, dann ritten sie in die Berge von Khelgardsland, dem letzten Fürstentum zwischen ihnen und ihrem Reich. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Grenze nach Khorat, und je näher sie ihrem eigenen Land kamen, desto leichter schien Qedyrs Herz zu werden. Schon morgen würden sie die Ebene von Ymbod erreichen, und das war fast schon der Vorgarten von Moranshir.

„Soll ich vorauskundschaften, damit wir nicht in ein Gefecht mit menschlichen Truppen verwickelt werden?“, fragte Rawelha.

Qedyr schüttelte den Kopf. „Wir können uns keine Verzögerung erlauben. Es muss so gehen.“

Ist es ein Fehler gewesen, in die Welt der Menschen zu reisen?, ging es ihm durch den Kopf. Wir haben unendlich viel gelernt und tiefe Freundschaften geschlossen, aber wiegt das den Zusammenbruch auf?

Ob es ein Fehler war oder nicht, er würde dafür bezahlen müssen – das wurde Qedyr klar, kurz bevor sie die Grenze erreichten. Zunächst hielt er die dreißig Eliscan, die dort in schimmernden Rüstungen auf ihren Pferden warteten, für ein Empfangskommittee, doch als die Männer und Frauen ihn umringten, wurde ihm klar, dass er sich getäuscht hatte. Kein Lächeln begrüßte ihn.

„Ihr könnt hier nicht weiter“, beschied ihm der Anführer der Gruppe.

„Ihr verwehrt mir die Rückkehr in mein eigenes Reich?“, fuhr Qedyr ihn an, doch die Antwort lautete nur: „Nicht alle sind der Meinung, dass es noch Euer Reich ist, Sir.“

Sie hatten keine Wahl, als sich zu ergeben.

Winterdrachen

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