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Eismitte

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Es war ein elender Ritt zur Front – Kiéran konnte nicht mal ein Feuer machen, es hätte unliebsamen Besuch angelockt. Frierend zog er den Umhang enger um sich, er spürte seine Finger kaum noch. Doch schlimmer war, wie sehr er Jerusha vermisste. Unglaublich, ich habe mich tatsächlich getraut, sie zu fragen! Und sie hat Ja gesagt! Wem erzähle ich das als Erstes? Tarxas, meinem Cousin Jolan? Ach verdammt, wie gerne würde ich es Santiago sagen, er hätte sich so gefreut.

Schließlich zwang sich Kiéran, diese Gedanken beiseite zu schieben – ein Moment der Unaufmerksamkeit konnte ihn hier den Kopf kosten.

Je näher er und Reyn der Front kamen, desto vorsichtiger wurde Kiéran, und er behielt die Umgebung im Auge, während er so rasch wie möglich durch die Vorberge ritt, höher und höher, bis hin zum wichtigsten Pass über die Queamandeh-Berge, den irgendjemand Eismitte getauft hatte. Wenn die Anderwesen es schafften, Eismitte einzunehmen, dann lag ganz Benaris offen vor ihnen und sie konnten das Fürstentum pflücken wie einen reifen Apfel. Das war der Grund, warum Dinesh ihn ausgerechnet hierher geschickt hatte – hier wurde er am dringendsten gebraucht.

Er hatte damit gerechnet, schon aus der Entfernung den Klang von Schwertern zu hören, doch nur das Pfeifen des eisigen Windes drang an seine Ohren. Die zaghafte Wärme der Morgensonne auf seinen Wangen verriet ihm schließlich den Grund – es war Tag geworden, wahrscheinlich griffen die Anderwesen hauptsächlich in der Nacht an.

Zeitgleich mit vier anderen Männern und Frauen, wahrscheinlich Freiwilligen aus Benaris, traf er im Lager der Grenzkämpfer ein, das in einer windgeschützten Zone hinter einem Felsgrat errichtet worden war. Kiéran sah nicht viel davon, nur Hunderte von schattenhaften Gestalten in ewiger Dunkelheit, aber er roch den Rauch von Kochfeuern und hörte das Klappern von Löffeln in Blechschüsseln. Viel geredet wurde nicht, die Leute wirkten erschöpft. Kiéran saß ab und führte Reyn am Zügel mit sich. Er hatte vorgehabt, seinen Hengst in einem der Stallzelte unterzubringen, doch die waren hoffnungslos überfüllt, und einer der Soldaten erklärte ihm: „Ein Pferd brauchst du hier nicht, wir können ohnehin nur zu Fuß kämpfen in diesem Gelände.“

Kiéran nickte. Wahrscheinlich ist es sowieso eine miese Idee, Reyn hier zu lassen, was ist, wenn die Skraelings gezielt die Stallzelte angreifen? Er bat den Soldat um Markierungsperlen, und zum Glück hatte der Mann welche. Sorgfältig flocht Kiéran die Farbfolge seines Clans in Reyns Mähne, eine klare Botschaft, dass dieses Pferd keineswegs ein Wildpferd war, das jeder einfangen konnte, sondern den SaJintars gehörte. Dann führte er seinen Hengst an den Rand des Passes zurück, gab ihm einen Klaps und wollte ihn wegschicken, zurück ins Tal. Doch zunächst schnaubte Reyn nur gereizt und dachte gar nicht daran, sich wegjagen zu lassen.

„Los, Mistvieh, genieß deine Freiheit, auf geht´s“, drängte ihn Kiéran schweren Herzens, und endlich gab der Hengst nach. Niedergeschlagen hörte Kiéran zu, wie das Geräusch seiner Hufe sich entfernte. Dann drehte er sich um und ging auf die Suche nach einem Offizier.

„Wir wollen uns als Freiwillige melden“, sagte eine Frau mit frühlingsgrüner Aura und heller Stimme zu einem Soldaten. Wie alt war sie? Warum meldete sich ein Mädchen zum Kampf an der Grenze? Es war schwer zu ertragen, dass ihre Aura fast so aussah wie Santiagos, und Kiéran musste den Blick abwenden. Nein, er würde nicht mit ihr sprechen, nicht mal ihren Namen wollte er wissen. Wahrscheinlich würde sie sowieso bald sterben, und sein Herz war schon angeschlagen genug, er musste es schützen, so gut er konnte.

„Verstärkung? Die können wir verdammt gut brauchen“, erwiderte der Mann, den die junge Frau angesprochen hatte. Seinem Akzent nach gehörte er zu Truppen aus Benaris. „Geh zu dem Zelt da vorne, dort kannst du dich melden. Entschuldige, wenn ich dich nicht hinbringe, aber wir haben gerade ein Gefecht hinter uns ... ich dachte wirklich, es ist aus mit mir ...“

„Ich verstehe“, sagte die junge Frau, sie klang erschrocken. Ohne weitere Fragen ging sie los, und die anderen Freiwilligen folgten ihr. Nur Kiéran blieb, wo er war.

„Wo finde ich den Kommandanten?“, fragte er denselben Soldaten.

„Du bist auch ein Freiwilliger? Dann geh einfach mit zu dem Zelt da vorne.“

„Nein“, sagte Kiéran und zwang sich zur Geduld. „Ich suche euren Kommandanten. Reghan LoMia.“

Er konnte sich vorstellen, warum der Soldat ihn nicht auf den ersten Blick als Offizier erkannt hatte. Wahrscheinlich sahen seine Sachen nicht mehr sonderlich sauber aus nach dem Ritt zur Grenze, und er selbst wirkte vermutlich wie ein Wegelagerer mit seinem Dreitagebart.

Ein anderer Kämpfer mischte sich ein – ihm waren wohl Kiérans edles Schwert und Pferd aufgefallen, denn er klang deutlich respektvoller als sein Kamerad. „Ich bringe Euch hin, Sir.“

Kiéran bedankte sich, und kurz darauf stand er in einem Zelt, in dem ein Reiseofen wohlige Wärme verbreitete, ihm gegenüber ein schlanker Mann mit überraschenderweise violetter Aura. Ein Diener servierte ihm gerade etwas, das nach einem Blauwein roch. „Ja, was gibt´s?“, fragte Reghan LoMia kurz angebunden, trank und wischte sich den Mund mit etwas ab, wahrscheinlich einem Seidentuch.

Höflich stellte Kiéran sich vor und fügte hinzu: „Vermutlich hat mich der Erste Priester Dinesh mit einer Nachricht angekündigt. Er hat mich gebeten, Euch hier zu unterstützen, damit wir den Pass halten können ...“

„Nachricht? Ich glaube nicht.“ Achtlos stellte LoMia seinen Wein beiseite und winkte seinem Diener. „Ist eine Nachricht eingetroffen? Schau nach, jetzt aber hurtig!“ Er klatschte einmal ungeduldig in die Hände und nahm dann noch einen Schluck von seinem Wein, ohne Kiéran etwas anzubieten.

Kiéran bemühte sich um einen gleichmütigen Ausdruck. Gut, dass Dinesh ihn darauf vorbereitet hatte, was ihn hier erwarten würde: Ist vielleicht besser, dass Ihr ihn nicht sehen könnt, er pflegt eine blonde Lockenmähne und legt Wert auf maßgeschneiderte Uniformen sowie seinen Erfolg bei den Damen. Ein niederer Adliger aus Benaris, Ihr kennt den Typus bestimmt. Er weiß, dass er als jüngerer Sohn in seinem Clan nichts werden kann, und hat sich deshalb für eine Karriere als Offizier entschieden.

„Keine Nachricht, Sir, wahrscheinlich wieder einmal ein Botenvogel, den die Grenze verwirrt hat“, meldete der Diene des Offiziers.

„So!“ Ohne großes Interesse wandte sich LoMia wieder Kiéran zu. „Nun gut. Ihr habt schon einmal gekämpft? Dann könntet ihr helfen, die neuen Freiwilligen zu drillen, und bei den Angriffen brauchen wir sowieso jedes Schwert, denn ...“

Ein Schwall kalter Luft, jemand war hereingekommen und stampfte jetzt ein paarmal kräftig auf, um den Schnee von seinen Stiefeln zu lösen. Kiéran wandte sich neugierig um und sah eine breite Gestalt mit dunkelgrüner Aura. Sie trug einen Helm mit Nasenschutz und Kleidung, an denen seine neuen Augen Stickereien aus Kupfer- und Messingdraht erkannten, das galt hier im Bergland als Zeichen hohen Ranges. Verwundert sah Kiéran, dass die Aura des Neuankömmlings jetzt in gelben Glanzlichtern aufleuchtete – das sah geradezu kitschig aus und erinnerte ihn ans Kerzenfest zu Mittwinter.

„Kiéran!“, sagte eine raue Frauenstimme begeistert. „Kiéran SaJintar, bei allen Göttern!“

Zum Glück erkannte Kiéran ihre Stimme, und gerade noch rechtzeitig, denn jetzt stampfte Tezara MiJesho auf ihn zu und schloss ihn kräftig in die Arme, es fühlte sich an, wie von einem Eisenfresser geherzt zu werden.

„Schön, dich zu sehen, Tezara“, sagte Kiéran herzlich, während ihm der Geruch ihrer speckigen Lederkleidung in die Nase stieg. „Eigentlich hätte ich mir denken können, dass man dich derzeit hier antreffen kann.“

„Bin hier an der Gebirgsfront Kommandantin aller Truppen aus Khelgardsland“, erklärte Tezara. „Das ist im Moment der mieseste Posten in ganz Ouenda, aber was soll man machen?“

„Ja, was soll man machen“, erwiderte Kiéran und musste lächeln. So konnte man es auch ausdrücken, dass gerade Krieg herrschte.

Tezara deutete mit dem Finger auf ihn und dröhnte: „Jetzt schaut ihn nur an! Lächelt schon wieder! Der lässt sich einfach nicht die Laune verderben, auch wenn die Scheiße vom Himmel regnet!“

Kiéran erinnerte sich noch gut an sie, sie hatten zusammen am Panrir Alié gekämpft. Tezara war vierzig Jahresläufe alt und sah mit ihren schulterlangen, dunklen Haaren und ihrer weiblich gerundeten Gestalt einer Wirtin ähnlicher als einer Kämpferin. Doch sie konnte mit ihrem Zweihänder hervorragend umgehen und Kiéran mochte ihre direkte, manchmal ein wenig grobe Art. Sie war die Tochter eines Earel und hatte selbst vor, sich einmal zum Oberhaupt ihres Clans wählen zu lassen, dem zahlreiche Erzminen gehörten. Doch bislang hatte sie mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern und ihrem Kommando zu viel zu tun gehabt, um sich ernsthaft zu bewerben.

Jetzt wandte sich Tezara an Reghan LoMia, der die Begegnung in verblüfftem Schweigen beobachtet hatte. „Weißt du überhaupt, wer das ist, Reghan? Kiéran SaJintar, sagt dir das nichts? Jüngster Escadrán, den die Terak Denar jemals hatten! Hat mir am Panrir Alié mindestens zweimal den Hintern gerettet! Adlerkacke, bringt ihr ihm vielleicht mal ein Bier? Wollt ihr ihn hier verdursten lassen oder was?“

Eingeschüchtert wieselte der Diener davon, und kurz darauf schüttete sich Kiéran dankbar ein dampfend heißes Gewürzbier die Kehle hinunter. Es tat unsagbar gut, und der warme Krug half, seine klammen Finger aufzutauen.

„Tja, was soll ich sagen?“ Reghan LoMia klang schon ganz anders als zuvor. „Es ist mir eine Ehre, Escadrán. Gut, dass Ihr hier seid – gestern ist mein Stellvertreter getötet worden, wie wäre es, wenn Ihr seinen Posten übernehmen würdet?“

„Mache ich gerne, Sir“, sagte Kiéran trocken. „Hoffen wir mal, dass ich es länger überstehe als er.“

Tezara lachte und stieß ihren Krug gegen seinen. „Festen Tritt und sicheren Weg!“

„Wilder Tag, wilde Nacht“, konterte Kiéran mit dem in Yantosi üblichen Trinkspruch und wandte sich wieder LoMia zu. „Ach ja, eins ist vielleicht noch wichtig zu wissen.“

„Ja?“ Mit einem Fingerschnippen rief Kiérans neuer Vorgesetzter seinen Diener herbei, vielleicht um eine neue Flasche Wein zu ordern.

„Ich bin blind“, sagte Kiéran.

Das verschlug allen die Sprache, ein fallendes Blatt hätte in dieser Stille geklungen wie ein Herbststurm. Wahrscheinlich war LoMia gerade die Kinnlade runtergesackt. Kiéran stellte fest, dass er diesen Effekt ein klein wenig genoss, und wunderte sich über sich selbst. Wohin war seine Wut auf das Schicksal verschwunden? Hatte er sich tatsächlich daran gewöhnt, dass er nicht mehr dasselbe sah wie andere Menschen? Jedenfalls machte es ihm nichts mehr aus, darüber zu sprechen.

„Ihr seid was?“, fragte LoMia fassungslos.

„Blind“, wiederholte Kiéran. „Jedenfalls sehe ich nicht mehr, was Ihr seht. Andererseits kann ich jetzt Anderwesen auf weite Entfernung erkennen, auch bei völliger Dunkelheit.“

Das schien Tezara nicht ganz geheuer zu sein, ihren Handbewegungen nach vollführte sie gerade irgendeinen Schutzzauber. „Und wie bei tausend heulenden Dämonen ist das so gekommen? Als wir uns zuletzt begegnet sind, hattest du noch Augen wie ein Falke!“

Kiéran erzählte vom Gefecht in Daressal und davon, dass er in einem Tempel der Schwarzen Spiegel gesund gepflegt worden war. Was für eine Rolle sein Amulett spielte, ließ er natürlich aus. Er merkte, dass die Erwähnung der Schwarzen Spiegel die Gemüter beruhigte. Na klar, schließlich sind die Priester hier enorm wichtig, sie genießen Respekt – und meine neuen Augen damit gleich mit.

Mittlerweile hatte sich Reghan LoMia ein wenig von der Enthüllung erholt, und als sein Diener ihm einschenkte, war seine gute Laune zurück. „Na, mir scheint, wir werden Euch gut gebrauchen können, SaJintar. Diese verdammten Skraelings können sich gut tarnen, wir haben Mühe, sie zu erkennen, bevor sie unsere Leute in Stücke reißen.“

„Allerdings – wir haben letzte Nacht ein Drittel unserer Leute verloren“, knurrte Tezara und orderte einen doppelten Kattis. Sie stürzte den Schnaps hinunter wie Wasser, und Kiéran leerte sein zweites Gewürzbier. Wie vertraut das alles war – leider. Alle saufen zuviel, um die Angst zu betäuben, und natürlich hilft es rein gar nichts, dachte Kiéran und bat den Kommandanten um einen Käfig mit Teodésh – vor seinem ersten Gefecht in Eismitte musste er dringend ein paar Botschaften auf den Weg bringen.

Vor allem musste er seinem Clan mitteilen, dass er jetzt mit Jerusha verlobt war. Sonst erbte irgendeine seiner Tanten, die er seit zehn Jahresläufen nicht gesehen hatte, seinen Besitz, wenn er nicht zurückkam aus diesem verfluchten Gebirge.

***

Was rief ihn zurück zum Tempel seiner Geburt? Grísho konnte sich keinen Reim darauf machen, und das beunruhigte ihn.

Er hatte es eilig, sein Ziel zu erreichen, und in der Dunkelheit kam er gut voran, weil er nicht von einem Schatten zum nächsten springen musste, sondern sich frei bewegen konnte. Weder Tiere noch Menschen bemerkten ihn, als er schneller als ein Windhauch an ihnen vorbeiglitt, und erst am nächsten Tag sah er sich zu dem gezwungen, was Menschen eine Pause nannten. Eigentlich brauchte er keine – seine Energien waren unerschöpflich – doch der Benár war ihm im Wege. Flüsse waren ihm samt und sonders unangenehm, und der Benár war der Breiteste von ihnen. Eine Scheußlichkeit sondergleichen. Es dauerte eine Weile, bis Grísho an den Schatten der Uferbäume entlanggesprungen war und ein Fährboot gefunden hatte, auf dem er unerkannt im Schatten eines Passagiers übersetzen konnte.

Am nächsten Tag hielt ihn trübes, nieseliges Wetter auf, der einzige brauchbare Schatten, den er fand, war unter einem umgestürzten Tontopf. Missgelaunt kauerte er darunter, bis endlich wieder lebenspralle Dunkelheit herrschte. Daher war er spät dran, als er „seinen“ Tempel im Süden des Fürstentums Kalamanca, in der Gegend der Sieben Mühlen, erreichte.

Sofort nach seiner Ankunft spürte er, dass er nicht alleine war ... es wimmelte von seinesgleichen um den Tempel herum. Sie alle hatten den Ruf wahrgenommen, und waren ihm halb willens, halb unfreiwillig gefolgt, weil sie zu unterschiedlicher Zeit in diesem Tempel entstanden waren. Auf den ersten Blick sah Grísho mehr als ein Dutzend Schattenspringer, und einige von ihnen kannte er, weil sie älter waren als er.

Seine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen. Grísho legte wenig Wert auf das Zusammensein mit anderen Schattenspringern, wie andere Wesen seiner Art war er lieber allein ... oder mit Jerusha zusammen, deren Gesellschaft ihm so angenehm war wie eine Flötenmelodie.

„Sieh an, da ist ja unser Jüngster“, wisperte ihm einer der anderen Schattenspringer zu, der sich Balyo getauft hatte. „Sie nannten ihn auch Der mit den Menschen kuschelt.“

Heiseres Gelächter erklang, das Menschen wahrscheinlich mit dem Rauschen der Bäume verwechselt hätten.

„Ihr wisst gar nicht, was ihr verpasst“, erwiderte Grísho so würdevoll er es vermochte.

„Nicht viel, nicht viel!“, kicherte ein anderer aus dem Schatten eines Steines. „Sie liegen die Hälfte jeden Tages mit geschlossenen Augen herum und machen gar nichts, und den Rest der Zeit stechen sie Metallstücke in den Boden oder in einander ...“

Grísho seufzte. Es hatte keinen Sinn, die anderen über die Natur des Sonnenvolks aufklären zu wollen. Die meisten anderen Schattenspringer waren so scheu, dass sie nie mit einem Menschen sprechen würden. Außerdem war er selbst nicht sicher, ob er die Menschen wirklich verstand, sie gaben ihm immer neue Rätsel auf. Warum zum Beispiel hasste Jerusha diesen Mann in Perikhor so sehr ... und wie fühlte es sich überhaupt an, jemanden zu hassen?

„Weiß einer von euch, warum wir hier sind?“, fragte Grísho in die Runde und sprang vor lauter Nervosität in den Schatten eines Busches, der schon besetzt war. Das war kein angenehmes Gefühl, wie ein kaltes Kribbeln. Vor Schreck sprang er reflexhaft weiter – und landete im Schatten eines Kieselsteins, der so klein war, dass er Mühe hatte, darin Platz zu finden. Doch den anderen hatte es noch schlimmer getroffen, er hatte sich in einen schwächlichen Halbschatten geflüchtet und machte, dass er daraus wieder wegkam.

„Warum wir hier sind? Keine Ahnung, aber ich konnte mich nicht verweigern“, beschwerte sich einer seiner Genossen. „So muss es sich anfühlen, an einem Gummiband zu hängen!“

„Eins ist klar, es muss wichtig sein“, hauchte ein anderer.

Noch ein weiterer Schattenspringer traf ein, der noch weiter entfernt gewesen war, als er den Ruf gehört hatte. Menschlichen Augen blieb er verborgen, doch für Grísho war seine Gestalt so deutlich zu erkennen wie silbriger Nebel. „Möge der Atem der Dunkelheit immer mit euch sein“, verkündete der Neuankömmling großspurig.

Es war nicht leicht, den vielen Gesprächen zu folgen, die sich entsponnen hatten, sie wogten durcheinander wie das Zischen eines Wasserfalls, wie das Rauschen der Bäume. Selbst Menschen, deren Ohren so stumpf waren wie Baumklötze, wäre das Geflüster aufgefallen.

Grísho achtete nicht weiter darauf, sondern umrundete einmal rasch den Tempel. Alle Türen verschlossen. Abgeschottet. Dicht selbst für seinesgleichen. Im Inneren waren Schattenspringer unerwünscht, so wie in allen anderen menschlichen Behausungen.

Doch als Grísho seine Sinne ausstreckte, hörte er, wie sich im Inneren des Tempels Gesang erhob. Wie gebannt hielt er inne. Es war eine Frau, die sang.

Die Schwinge der Nacht

erhebt sich lautlos,

streicht über deine Stirn,

zerreißt dein Lächeln.

Hab Acht, Fremder, hab Acht!

„Der Warngesang“, flüsterte einer der ältesten Schattenspringer. „Zuletzt habe ich ihn vor achthundert Wintern gehört!“

Er war der einzige, der wagte, etwas zu sagen. Alle anderen Schattenspringer waren verstummt und verharrten an Ort und Stelle. Dann breitete sich ein Gefühl der Aufregung unter ihnen aus, Grísho konnte es fast spüren. Gemeinsam mit den anderen näherte er sich dem Eingangstor des Tempels. Denn von dort vernahm er Schritte, der Gesang wurde lauter. Jemand näherte sich, anscheinend eine Priesterin!

Gleich würden sie erfahren, warum sie hier waren.

Wer oder was es war, das sie gerufen hatte.

***

Es fühlte sich seltsam an, diesem Mann gegenüberzusitzen, er war ihr vertraut und doch fremd. Jerusha und ihr Vater saßen auf einer Holzbank in der Kräuterkammer des Tempels, einem luftigen, wohlriechenden Raum. Es duftete nach Minze, Salbei, Silvanida-Blättern und zahlreichen Heilkräutern aus dem nahen Wald von Atordar. Doch Jerusha nahm die Gerüche kaum wahr, sie konzentrierte sich darauf, diese nervöse Unruhe in sich zu besiegen.

Josuan sah nicht aus wie ein Bäcker, sondern eher wie jemand, der in einer Schänke Ärger machen konnte. Er war ein kraftvoller Mann mit Oberarmen wie ein Holzfäller, etwas strähnigem blondem Haar, das ihm in die Stirn fiel, und erstaunlich feinen Zügen, etwas verwittert nach den fünfzig Sommern seines Lebens. Als Jerushas Mutter ihn kennengelernt hatte, hatte er als Küchenmeister am Fürstenhof in Jakobsburg gearbeitet. Er war ihre große Liebe gewesen, so hatte sie es Jerusha in einem schwachen Moment erzählt. Einen anderen hatte es für sie nie gegeben.

„Ich hab dir was mitgebracht“, sagte ihr Vater, und Jerusha lächelte nervös. Sie wartete, was er aus seiner abgewetzten Ledertasche zum Vorschein bringen würde – ein in Wachspapier eingeschlagenes Gebäck, wie sich herausstellte. „Oh, Proviant, danke“, sagte Jerusha und wollte es beiseitelegen, doch Josuan lächelte verschmitzt, seine makellosen Zähne blitzten. „Wickel es aus.“

Es war ein kleiner, flacher Kuchen – in Form einer Katze! Jerusha musste lachen. „Ach ja, solche habe ich früher auch gebacken, und dir dadurch das Geschäft verdorben. Dass du das noch weißt.“ Was für eine nette Geste. Er hat Humor. Dabei hat er damals furchtbar geschimpft, weil niemand meine Tiere aus Teig kaufen wollte.

„Klar weiß ich das noch.“ Josuan wurde ernst. „So, und jetzt erzähl mir alles über diesen Fluch, der angeblich auf dem Clan deiner Mutter lag.“

Jerusha hatte sich schon fast gedacht, dass er darüber reden wollte. Sie berichtete, was den Frauen der KiTenaros in den letzten Jahrzehnten widerfahren war und was sie selbst bei den Traumweberinnen und den Eliscan erlebt hatte beim Versuch, den Fluch zu lösen. Wie es ihr gelungen war, und wie sie dabei beinahe den Mann verloren hätte, den sie liebte. Zu Beginn ihres Berichts merkte sie, dass Josuan oft die Augenbrauen hochzog, doch nach einer Weile stützte er sich auf seine Unterarme und lehnte sich weit über den Tisch, die Augen auf ihr Gesicht geheftet. Hin und wieder stellte er ein paar Zwischenfragen, sagte aber schnell: „Weiter.“

Als sie geendet hatte, sah er nachdenklich aus. „Hol mich doch ein Dämon, das klingt fast, als hätte es diesen Fluch wirklich gegeben.“

„Es gab ihn.“ Jerusha blickte ihren Vater an, schätzte ihn ab. Es ließ ihr keine Ruhe, dass ihre Mutter so wenig darüber offenbart hatte, was zwischen ihnen passiert war. Frag ihn jetzt! Sonst erfährst du es nie. Und du willst es doch wissen, egal, wie schlimm es ist. „Wozu hat der Fluch sie gezwungen? Wie ... hat Myrial versucht, dich umzubringen?“

„Du willst es wirklich wissen?“ Josuan stieß einen Laut aus, der halb Schnauben, halb Knurren war. „Sie hat in der Nacht eins der Küchenmesser geholt und mir in die Brust gestoßen. Genau hier.“ Er knöpfte sein Hemd auf und zeigte ihr eine Narbe. „Hab verdammt Glück gehabt, dass ich das überlebt habe. Weißt du, wer mich gerettet hat? Ein Heiler, der gerade bei den Nachbarn zu Gast war. Er hat meine Schreie gehört und ist zu Hilfe gekommen.“

Jerusha versuchte, Bilder in sich zu finden zu diesem Ereignis, aber es kamen keine. „Aber ... wo war ich in dieser Nacht? Ich war doch schon neun, ich hätte aufwachen müssen. Aber ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, was passiert ist.“

„Du hast an diesem Abend bei Kianna, deiner Freundin, übernachtet. Und, verstehst du jetzt, dass ich mit ihr nicht mehr in einem Haus leben wollte? Ich bin in derselben Nacht noch gegangen. Weil ich dachte, dass unser ganzes Leben zusammen eine Lüge gewesen war. Obwohl ich nicht genau wusste, warum sie meinen Tod wollte.“

Ja, dass er noch in der Nacht gegangen war, wusste Jerusha. Er war einfach weg gewesen, und niemand hatte darüber gesprochen, was passiert war.

Josuan blickte auf die Tischplatte. „Es ging uns so gut zusammen. Glücklich, könnte man sagen. Verdammt glücklich. Manchmal vermisse ich sie immer noch ... die Frau, die sie damals war.“

Und sie vermisst dich. Sie hat ihre Seele weggeworfen, als du gegangen bist.

Es fiel Jerusha schwer weiterzusprechen. „Warum hast du Liri und mich nicht mitgenommen? Hattest du nicht Angst, dass sie uns in ihrem Wahn etwas antut?“

„Ich habe Liriele mitgenommen“, widersprach Josuan fast ein wenig ärgerlich. „Aber Myrial hat so gebettelt um sie. Deine Großmutter auch. Und Liriele war ja auch noch ein Baby, sie brauchte die Milch und so weiter. Ich konnte mich nicht richtig um sie kümmern und gleichzeitig zur Arbeit gehen, eine Amme gab es nicht im Dorf. Aber ich hatte Angst, als ich sie zurückgebracht habe, das kannst du mir glauben.“

„Und mich?“, Jerushas Lippen fühlten sich taub an. „Wieso hast du mich nicht mitgenommen?“

Josuan blickte auf seine groben, schweren Hände, die auf dem Tisch lagen. „Hätte ich tun sollen, ja.“

„Hast du aber nicht.“

„Du warst alt genug, du hättest weglaufen können, wenn es Ärger gegeben hätte ...“

„Das meinst du nicht ernst, oder?“

Diesmal explodierte er. „Alle Götter, Jerusha, du weißt selbst, wie ähnlich du ihr siehst! Ich habe sie gehasst in den ersten Jahren, ich ...“

„Aber jetzt erträgst du es wieder, deine Tochter anzusehen?“, schleuderte Jerusha zurück. „Ich bin nicht Myrial, ich bin ich!“

Die Stille, die den Raum erfüllte, war so grenzenlos wie der Nachthimmel.

Lange saßen sie so da, ohne sich anzublicken. Dann schob sich sehr, sehr langsam seine Hand über den Tisch. „Verzeihst du mir?“

Jerusha richtete die Augen auf diese Hand. Auf die kräftigen Finger. Auf die Halbmonde seiner Nägel. Sehr kurz geschnitten waren sie, ein paar Mehlreste klebten daran. Vielleicht von der Katze, die er für mich gebacken hat.

Ohne aufzublicken, streckte sie ihre eigene Hand aus. Wie rau sich seine Finger anfühlten, und wie warm.

„Ja“, sagte sie.

***

Tezara ließ es sich nicht nehmen, Kiéran persönlich im Lager herumzuführen, in dem sich gerade Soldaten aus Benaris und Khelgardsland, Priester und Freiwillige ausruhten. „Wie viele insgesamt, so etwa achthundert Kämpfer?“, fragte Kiéran nach einem Rundblick. Ihm war ein bisschen schwindelig und er ärgerte sich über sich selbst. Wieso habe ich auf leeren Magen drei Gewürzbier getrunken? Ich hätte einfach Nein sagen müssen, als Tezara es mir aufgedrängt hat!

„Vor einer Woche waren es noch doppelt so viele“, sagte Tezara bitter, und schockiert blickte Kiéran sie an. Bevor er zu Wort kam, fuhr sie fort: „Und wir kämpfen gegen nur etwa fünfzig Eliscan, schätze ich, dazu hundert dieser schaurigen Vogelwesen und einen dieser weißen Drachen. Jetzt sag bitte nicht, dass das gut klingt!“

„Es klingt überhaupt nicht gut“, sagte Kiéran besorgt. Trotzdem fragte er sich, wieso es nicht mehr Eliscan waren, unterstützten viele von ihnen diesen Krieg nicht? Oder gab es so wenige von ihnen? Schließlich waren sie unsterblich, da wurden sicher nicht viele Kinder geboren. „Was schätzt du, wie lange können wir den Pass noch halten, wenn es so weitergeht wie bisher?“

„Eine Nacht, zwei Nächte ... wenn wir Glück haben.“ Tezara klang furchtbar erschöpft. „Wir brauchen dringend Verstärkung. Deine ehemaligen Gefährten, die Terak Denar, haben sich angesagt, aber wir wissen nicht, wann sie hier sein werden.“

Kiéran spürte ein wenig Hoffnung. Die Terak Denar waren die einzigen Kämpfer, die er kannte, die halbwegs gegen Eliscan bestehen konnten. Ich hoffe, sie kommen nicht zu spät! Verdammt, wieso nur hat AoWesta sie nicht früher losgeschickt?

Während sie sprachen, waren sie durchs Lager gegangen, und viele Kämpfer grüßten Tezara freundlich. Die Kommandantin zog Kiéran am Arm in eine bestimmte Richtung: „Ich muss dir jemanden vorstellen ... wir haben eine Kundschafterin, eine Welshar ... sie ist ständig in den Bergen unterwegs und hat uns schon ein paarmal vor Angriffen gewarnt ... Xi, warte doch! Das hier ist Kiéran, der neue Stellvertreter von Reghan!“

Jetzt bloß keinen Blödsinn reden, dachte Kiéran und atmete tief durch, damit die Welt aufhörte, sich um ihn zu drehen. Er hob eine Handvoll Schnee auf und kühlte sich damit die Stirn.

Xi zog sich gerade den Felsgrat hoch, und ihre Bewegungen waren dabei so geschmeidig und mühelos, als laufe sie über eine ebene Fläche. Als Tezara sie rief, kehrte sie zurück, sprach aber kein Wort.

Weil Welshar eine Art von Anderwesen waren, sah Kiéran sie deutlich, er konnte sogar ihre Gesichtszüge erkennen. Xi war etwa so groß wie ein zehnjähriges, zierliches Kind, hatte feines weißes Haar, lange Greifhände und eine Haut, an der Wasser abperlte wie von einem Seerosenblatt. Um ihren Hals konnte er einen Beutel mit einem Stein erkennen; von dieser Tradition hatte er gehört, dieser Stein stammte aus dem Gebirge, in dem sie geboren worden war. Wahrscheinlich war Xi nur ihr Umgangsname, ihren wahren Namen hielten Welshar geheim, sie glaubten, dass andere sonst Macht über sie gewinnen konnten. Kurz dachte Kiéran an Tafte, den Halb-Welshar in Burg Maharir – vielleicht würde er der Kundschafterin irgendwann von ihm erzählen.

„Wir können froh sein, dass wir dich haben, Xi“, sagte er höflich. „Bekommst du genug Gegenwert für deine Arbeit?“

„Am Gesterntag fünf Eier, drei Handvoll Felsenflechten, ein Messer. Es ist genug.“ Xi lispelte ein wenig und sprach leise, Kiéran verstand sie kaum.

„Bist du freiheitlich ... ich meine freiwillig hier?“ Xatos´ Rache, dieses verdammte Gewürzbier!

Xi nickte, blickte ihn mit schief gelegtem Kopf an und lächelte dann ein klein wenig. Es war ein verschmitztes Lächeln, das nur für ihn allein bestimmt war. Anscheinend hatte sie gemerkt, was mit ihm los war. Wie peinlich!

„Eigentlich haben wir sie nur als Bergführerin angeheuert, aber sie ist geblieben, als ihr klar wurde, wie groß die Bedrohung ist“, erklärte Tezara.

„Meinen Dank“, sagte Kiéran verlegen zu der Welshar und verabschiedete sich, schon zog Tezara ihn weiter. Sie stellte ihn einer Gruppe von zwei Dutzend Stadtwachen aus dem nahe gelegenen Quinlan vor, die beschlossen hatten, nicht zu warten, bis ihre Stadt von Anderwesen überrannt wurde. Kommandiert wurden sie von einem Mann namens Trejan DoJintar. „Ihr seid ein SaJintar?“, fragte er freundlich, als Kiéran ihm vorgestellt wurde. „Das heißt, wir sind entfernt verwandt – wenn ich mich nicht irre, hat sich mein Clan vor hundert Jahresläufen von Eurem abgespalten.“

„Ich hoffe, es gab damals keinen ernsten Zwist?“, erkundigte sich Kiéran, ihm gefiel die schlichte Freundlichkeit des Mannes. Zum Glück fühlte sich sein Kopf inzwischen ein klein bisschen klarer an, mit etwas Glück unterlief ihm kein Patzer mehr.

Trejan lachte. „Nein, macht Euch keine Gedanken. Und wir haben hier sowieso andere Sorgen.“ Auf seiner Schulter regte sich irgendetwas, und Trejan hob die Hand, um ein dort sitzendes Wesen zu streicheln. Kiérans neue Augen verrieten ihm wenig darüber, doch er wettete auf einen Jagdfalken und sagte aufs Geratewohl: „Ein schönes Exemplar, wie heißt er?“

„Windwächter.“ Der Stolz in Trejans Stimme war unverkennbar. „Er hilft mit, meine Leute zu ernähren, das Essen wird hin und wieder knapp hier in den Bergen. Da kommt das eine oder andere Schneekaninchen für den Topf gerade recht.“

Kiéran wünschte ihm und seiner Truppe viel Glück. Als sie weitergingen, erklärte Tezara leise: „Seit seine Frau gestorben ist, lebt er nur noch für die Stadtwache. Und das merken seine Leute, sie sind ihm treu ergeben. Eine gute Truppe, sie haben schon einige Routine darin, Skraelings zu umzingeln und zu erledigen.“

Kiéran nickte, und schon ging es weiter zu den nächsten Kämpfern – er gab bald auf, sich die Namen merken zu wollen. Und wenn ich Pech habe, sind die Leute, die ich gerade kennengelernt habe, morgen sowieso schon tot. Was für ein seltsamer Gedanke ...

Auf dem Weg bemerkte er eine Aura, die ihm bekannt erschien, strahlend hellblau war sie. Wo hatte er sie schon einmal gesehen? Schließlich fiel es ihm ein – es war in diesem Gasthaus gewesen, in das Qedyr unbedingt hatte gehen wollen, um zum ersten Mal mit fremden Menschen zu plaudern. Der Kerl dort vorne war dieser schreckliche Barde, der mit den unappetitlichen Vorurteilen über Eliscan! Kiéran stöhnte innerlich.

Und natürlich hatte der Barde ihn ebenfalls wiedererkannt. Er verbeugte sich schwungvoll. „Sieh an! Jetzt gibt es doch eine Gelegenheit für Euch, die Kunst von Eolo QiLinnek zu genießen!“

„Sieht fast so aus“, gab Kiéran zurück und rief sich ins Gedächtnis, was genau der Kerl an diesem Abend gesagt hatte. „Und, gab es schon eine Gelegenheit für Euch, die Eliscan aus der Nähe zu betrachten?“

„In der Tat, die gab es! Mehrfach, in der letzten Nacht!“

„Und, sind sie riesengroß?“

„Na ja, ein wenig größer als ich ...“

„Und was ist mit den glühenden Augen?“

„Vielleicht glühen sie nur bei Tag ...“

Kiéran musste ein klein wenig grinsen. „Und die langen Krallen?“

„Schon gut, schon gut, sie hatten keine!“ Eolo seufzte, dann wandte er Kiéran das Gesicht zu, musterte ihn wahrscheinlich genau. „Aber woher wisst Ihr eigentlich so gut Bescheid über diese dämonischen Wesen?“

„Ich kenne ein paar persönlich.“ Es war ihm herausgerutscht, und daran war garantiert das Gewürzbier schuld. Es könnte schlimmer sein, tröstete sich Kiéran. Eigentlich gibt es nicht viele Gründe, es jetzt noch geheim zu halten.

„Ihr kennt ...?“ Eolo vollendete den Satz nicht. Kiéran konnte förmlich sehen, wie die Zahnräder in seinem Kopf einrasteten. „Moment mal! Eure Begleiter ... kamen die etwa gar nicht aus Elisondo?“

Kiéran antwortete nicht, lächelte ihn einfach nur an, und Eolo schnappte nach Luft. Wahrscheinlich begreift er gerade, welche Gelegenheit ihm entgangen ist! Stoff für eine Ballade der Extraklasse.

Eins musste Kiéran noch loswerden: „Ach ja, mir ist übrigens nicht bekannt, dass sie zu Unzucht mit irgendwelchen Hirschen neigen.“

Tezara hatte dem Gespräch verständnislos zugehört. Jetzt sagte sie: „Jungs, es ist schön, dass ihr euch so gut versteht, und Unzucht ist immer ein faszinierendes Thema, aber ich sage jetzt Gute Nacht oder wie auch immer man das tagsüber ausdrücken kann. Hab bis Sonnenaufgang gekämpft und jetzt haue ich mich aufs Ohr.“ Sie zeigte auf Eolo. „Dir würde ich das auch raten, Dichter, wenn du offenen Auges irgendetwas miterleben willst für dein Epos oder wie man das nennt!“

„Und, rätst du mir das auch?“, fragte Kiéran. Er begann allmählich, von einer Mahlzeit und etwas Schlaf in einem warmen Zelt zu fantasieren.

„Dir nicht“, gab Tezara gnadenlos zurück. „Du hast hier das Kommando, solange Reghan und ich unsere verdiente Ruhe genießen. Zu Sonnenuntergang sind wir wieder auf dem Posten. Alles klar?“

„Alles klar“, sagte Kiéran und verkniff sich einen Seufzer. Doch bevor sie sich hinlegte, rief Tezara alle Kämpfer zusammen, damit Kiéran eine kurze Ansprache halten und erklären konnte, was ihnen beim Kampf gegen die Anderwesen helfen würde. Wo der Giftstachel der Skraelings saß, und vieles andere mehr. Anschließend übergab ihm Tezara offiziell das Kommando und stapfte zu ihrem Zelt.

Als erstes ließ Kiéran sich von Reghans Diener eine Schüssel Eintopf bringen und Waschzeug, damit er sich rasieren konnte. Wenn er hier als kommandierender Offizier einspringen sollte, war es nicht egal, wie er aussah.

Während die Sonne höher stieg und der eisige Wind Schneestaub über den Pass blies, inspizierte er die Verteidigungsstellungen und Wachtposten am Pass, ließ sich Waffen und Ausrüstung zeigen und bat einen Unteroffizier, ihm zu erklären, wie und von wo die Anderwesen in den letzten Nächten angegriffen hatten. Dann stieg er mit Xi auf den Felsgrat, um selbst Ausschau zu halten.

„Siehst du Qem?“, fragte ihn Xi. „Oder ist dein Kopf noch zu stark gewürzt?“

Nicht zu fassen, diese Kundschafterin zog ihn auf! Sie lächelten sich an. „Mein Kopf ist jetzt genau richtig“, gab Kiéran zurück. „Leider sehe ich trotzdem keine Skraelings. Die haben sich garantiert irgendwo versteckt.“

Von hoch oben bekam Kiéran mit, dass unten im Lager irgend eine Art Disput ausbrach. Er beeilte sich, wieder auf ebene Erde zurückzukehren, und kam gerade noch rechtzeitig, um zwei Männer auseinanderzuzerren, die sich gerade einen Faustkampf liefern wollten.

„Was genau ist hier los?“, schnauzte Kiéran sie an und winkte einen Unteroffizier herbei, der ihn unterstützen konnte.

„Diese da!“, brüllte einer der Kämpfer und zeigte auf seinen Gegner und einen zweiten Mann. „Die da sind Diebe, ich habe sie schon mal in Qinlan am Pranger stehen sehen! Haben sich hier kalt wie Hundeschnauzen eingeschlichen, um uns alle zu bestehlen ...“

Kiéran wandte sich den beiden Beschuldigten zu, die eng nebeneinander standen, als suchten sie beieinander Schutz. Sie hatten beide eine dunkelblaue Aura, die Farbe war fast identisch, allein das war schon bemerkenswert. Noch interessanter fand Kiéran, dass ihre Aura ähnlich gefärbt war wie seine eigene. Spontan sagte er: „Ihr seid Brüder, nicht wahr? Wie heißt ihr?“

„Sjan und Mjak“, entgegnete einer der beiden. „Genau, Brüder sinn´wer.“

„Seid ihr wirklich Diebe?“, fragte Kiéran sie geradeheraus. An ihrer Aura würde er sehen können, ob sie logen.

Doch wie sich herausstellte, brauchte er seine Fähigkeiten jetzt nicht.

„Ja“, erwiderte der andere Bruder offen. „Aber wir sinn doch nicht hier, um zu arbeiten.“ Er klang rechtschaffen empört. „Wir wolln nur helfen, so wie alle anneren auch!“

„Aber warum fehlt mir dann meine Geldbörse?“, beschwerte sich sein Widersacher lautstark und hob die Fäuste wieder.

Aus dem Augenwinkel sah Kiéran, wie die Aura einer anderen Person ein paar Meter entfernt zu flackern begann. Er wandte sich um und fixierte denjenigen. „Durchsucht diesen Mann“, sagte er zu seinem Unteroffizier, und aus den Taschen des fremden Soldaten kam tatsächlich die vermisste Geldbörse zum Vorschein. Ein Raunen ging durch die Menge, die sich um die Streitenden versammelt hatte, und Kiéran wusste, dass sich schnell herumsprechen würde, dass dieser neue Offizier besondere Fähigkeiten hatte. Das konnte nicht schaden. Es würde garantiert noch mehr Ärger geben, die Leute waren nervös.

Den wahren Dieb schickte Kiéran hoch auf den Felsgrat, um dort bis Sonnenuntergang Wache zu halten. Es war furchtbar kalt und windig dort oben, das war Strafe genug. Dann wandte er sich an die anderen. „Das nächste Mal beurteilt ihr die Leute hier nicht nach ihrer Vergangenheit. Wir haben in diesem Lager nur eins gemeinsam – den Mut, Ouenda zu verteidigen. Klar?“

Verlegenes zustimmendes Gemurmel. Kiéran verabschiedete sich mit einem Nicken und einem „Viel Glück heute Nacht“ von diesen Leuten, die ab jetzt seine Leute waren.

„Wir danken schön“, brummte Sjan – oder war es Mjak? – und Kiéran sagte: „Keine Ursache, ich bin froh, dass sich die Sache aufgeklärt hat.“

Verlegen standen die beiden ehemaligen Diebe herum, die Köpfe leicht gesenkt. Irgendetwas an ihnen ließ Kiéran zögern, es ließ ihm keine Ruhe, dass ihre Aura fast die gleiche Farbe hatte wie seine eigene. Also unterhielt er sich mit den beiden und fand heraus, dass sie im Alter von acht Jahren ihre Eltern verloren hatten und ihr zerstrittener Clan sie zu Verwandten geschickt hatte, bei denen sie unglücklich waren. Seit gut fünfzehn Jahresläufen lebten sie nun auf der Straße und ernährten sich durch kleinere Gaunereien, sie waren stolz darauf, dass sie schafften, auf diese Art zu überleben.

Noch immer war Kiéran schleierhaft, welche Verbindung es zwischen ihnen und ihm gab – einsame Kindheit? Heimatlosigkeit? Überlebensinstinkt? – doch irgendwie mochte er die beiden. Schließlich sagt er: „Was für Waffen habt ihr? Zeigt mal her.“

Verlegen zogen sie ihre Schwerter, Kiéran ließ die Finger darüber gleiten und testete die Klingen mit dem Daumen. Alte Dinger mieser Qualität. Er winkte dem Unteroffizier. „Hol diesen Männern hier zwei ordentliche Schwerter aus den Beständen der Benaris-Truppen. Und ein paar warme Sachen.“

Als sie die neuen Waffen in den Händen hielten, leuchtete ihre Aura hell, aufgeregt schwangen sie die Schwerter. Kiéran wartete ihren Dank nicht ab, sondern hob grüßend die Hand und ging weiter, es gab noch viel zu tun. Er kam nicht einmal dazu, so oft wie sonst an Jerusha zu denken. Hoffentlich war sie inzwischen in der Sicherheit des Tempels.

Daran, dass es kühler wurde, merkte er, dass die Sonne sank. Verdammt, bald ist es Nacht. Bald geht es los. Bis jetzt hatten seine neuen Aufgaben ihn in Atem gehalten, doch nun fühlte Kiéran, wie er unruhig wurde. Immer wieder glitt seine Hand zum Griff seines Sternenstahl-Schwertes, und sein Herz schlug schmerzhaft schnell in seiner Brust. War das Angst? Erwartung? Er hätte sich ohrfeigen können, dass er seine ehemaligen Reisegefährten nicht häufiger über die Elis Sarkorr ausgefragt hatte – wahrscheinlich würde er heute Nacht mit diesen Wesen zu tun bekommen.

Immer wieder schritt Kiéran zum Rand des Plateaus, hielt Ausschau nach Verstärkungstruppen auf dem Weg zu ihnen.

Nichts. Noch immer nichts! Niemand wird uns helfen, wir müssen irgendwie so klarkommen. Ein Schauer überlief ihn.

Reghan und Tezara waren inzwischen wieder wach und schritten auf ihn zu. Rasch besprachen sie mit ihm und dem ranghöchsten Priester vor Ort, wer welche Einheit kommandieren würde und welche Taktik sie verfolgen würden. „Wir werden die Truppen dirigieren, von dir dagegen erwarten wir, dass du mit diesem Schwert möglichst viel ausrichtest“, sagte Tezara zu ihm und deutete auf den Sternenstahl.

Kiéran nickte grimmig.

Auf einmal spürte er Xi neben sich, die Kundschafterin. „Sind da!“, zischte sie ihm und den anderen zu und huschte davon, eine steile Felswand hoch, in Sicherheit.

Eine kalte Welle der Aufregung durchfuhr Kiéran.

Sie kommen!

Winterdrachen

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