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Kapitel 4

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Auf dem Weg hole ich mir ein Sandwich, weil ich davon ausgehe, dass der Süßwarenladen mit seinen Düften wieder meinen Appetit wecken wird. Ist mir schleierhaft, wie da jemand arbeiten kann, ohne fett zu werden wie ne Kuh. Ich würde wohl am ersten Arbeitstag schon gefeuert werden wegen unerlaubten Naschens. Vielleicht liegt das daran, dass ich in meiner Kindheit keine Süßigkeiten bekam. Jetzt, wo ich selbst entscheiden kann, was ich esse und was nicht, ist Zucker ein Hauptbestandteil meiner Ernährung.

Noch immer warten Kinder vor dem Laden, aber die Schlange ist kürzer geworden. Ich ignoriere sie einfach und gehe direkt hinein, hab keine Geduld mehr länger zu warten. Das Mädchen steht noch immer hinter der Theke und sieht jetzt ausgesprochen erschöpft aus. Kein Wunder, wenn sie den ganzen Tag lang Süßigkeiten ausgehändigt hat. Na wenigstens habe ich in der Zwischenzeit die Gegend erkundet.

Bei meinem Anblick seufzt sie auf. „Ich bin noch nicht fertig.“

„Gibt’s ein Hinterzimmer, in dem ich warten kann?“ frage ich sie, und sie seufzt erneut.

„Da ist ein kleines Büro. Fass aber nichts an. Ich komme, so schnell es geht.“

Ich schenke ihr ein gewinnendes Lächeln und folge ihr in dieses Büro, das sich gleich hinter dem Laden befindet. Es war nicht übertrieben, als sie sagte, es sei klein. Es besteht eigentlich nur aus einem Schreibtisch, einem Regal und einem alten Ledersessel, der aussieht, als würde er jeden Moment zusammenklappen. Das Regal biegt sich unter Aktendeckeln und Papieren. Das genaue Gegenteil zu Kindlers Büro bei sich zu Hause. Dieses Zimmer sieht sehr wohl so aus, als sei es regelmäßig benutzt worden. Der Schreibtisch ist übersät mit Briefen und Rechnungen.

Das Mädchen ist wieder in den Laden zurückgegangen, und ich kann hören, wie sie mit den Kindern spricht. Also hindert mich nichts daran, mich ein bisschen umzuschauen. Hatte sie was gesagt, von wegen nichts anfassen? Nein, dachte ich auch nicht. War sofort aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Die Schriftstücke auf dem Schreibtisch sind nicht besonders spannend, Stromrechnungen, Bahnfahrkarten, Rechnungen für große Mengen an Süßigkeiten. Nichts, was irgendwie außergewöhnlich wäre. Ich arbeite mich durch die beiden Schubladen. Die obere ist bis zum Rand mit weiteren Papieren vollgestopft. Da ist keine Ordnung zu erkennen, kein Ablagesystem. Es sieht aus, als habe er einfach alles da hineingestopft und gehofft, die Sachen würden sich von alleine sortieren. Finde ich irgendwie sympathisch, macht aber meine Arbeit nicht leichter.

Die unterste Schublade sieht da ganz anders aus. Sie enthält lediglich eine kleine metallene Kassette. Die Einnahmen aus dem Geschäft vielleicht? Ein Schlüssel liegt nicht dabei, und leider ist das Schlüsselloch zu klein für den Schlüssel, den ich bei Kindler zu Hause gefunden habe.

Ich schüttele die Kassette. Der Klang von Münzen bestätigt meine Vermutung. Da ist mit Sicherheit Geld drin. Vielleicht hat das Mädchen den Schlüssel.

Enttäuscht, nichts Verdächtiges oder zumindest Aufregendes zu finden ist, drehe ich mich zu dem Regal hinter mir um. Da kann ich nur aufstöhnen. Das absolute Chaos. Aktendeckel mit unterschiedlichem Umfang und verschiedenen Größen, ein paar zerfetzte Bücher und stapelweise alte Papiere. Wie soll man in diesem Durcheinander irgendetwas finden?

Ich nehme wahllos eine blaue Mappe und blättere durch die Seiten. Inventurlisten von vor zehn Jahren. Echt jetzt? Warum musste Winston Kindler wissen, wie viele Sahnebonbons und Pfefferminzlutscher er vor zehn Jahren hatte? Vielleicht hatte er einfach keine Zeit, mal richtig auszumisten. Oder er fühlte sich diesen Listen irgendwie emotional verbunden, wer weiß das schon. Ist mir so was von egal.

Auch die nächsten Papiere sind ausgesprochen uninteressant. Ich bleibe wohl doch besser bei meinem Job. Leute umzulegen ist so viel spannender.

Das Mädchen rettet mich vor weiteren Gähn-Attacken. Als ich höre, dass sie den Laden abschließt, lege ich die Papiere schnell wieder dahin, wo ich sie gefunden habe. So in etwa jedenfalls, in dem Chaos merkt sowieso keiner was.

Ich schlage die Beine übereinander und setze meine Unschuldsmine auf. Sie bleibt vor dem Schreibtisch stehen und sieht mich misstrauisch an.

„Hast du was angefasst?“ fragt sie mich stirnrunzelnd.

Ich halte abwehrend die Hände hoch. „Du hast mir das doch nicht erlaubt.“

„Das habe ich nicht gefragt“. Sie seufzt, lässt sich dann aber in den zweiten Sessel im Zimmer fallen, offensichtlich total fertig. Ist ja auch kein Wunder, sie hat den ganzen Tag gierige kleine Monster bedient.

„Muss hart für dich sein, so ganz alleine jetzt“, sage ich und versuche, als netter Mensch rüberzukommen. Ich habe gehört, dass das manchmal bessere Ergebnisse bringen soll, als jemanden zu bedrohen. Mal sehen. Überzeugt bin ich davon noch nicht.

Sie zuckt die Achseln. „Wird bald alles vorbei sein. Jetzt, wo die meisten Süßigkeiten verteilt sind, muss ich nur noch die Reste loswerden, dann wird der Laden verkauft. Ich muss mich nach neuer Arbeit umsehen.“

Sie sieht jetzt besiegt und verloren aus, die vorhin gezeigt Courage ist verschwunden.

„Hat er dir denn nichts hinterlassen?“ frage ich sanft. „Hat er bestimmt, dass das Geschäft verkauft werden soll?“

Sie nickt. „Er hatte sowieso vor, nächstes Jahr den Laden zu verkaufen. Er hat mir nie gesagt, warum, die Geschäfte liefen eigentlich gut. Die Kinder liebten ihn. Zugegeben, das war eher wegen seiner niedrigen Preise, nicht, weil er so gut mit Kindern umgehen konnte. Aber egal, sie kamen immer wieder und gaben in unserem Geschäft ihr Taschengeld aus.“ Sie korrigiert sich schnell – „In seinem Geschäft“.

Das Mädchen tut mir leid. Fast bin ich versucht, ihr einen Job anzubieten, aber ich denke nicht, dass meine Art von Arbeit etwas für sie wäre.

„Wie heißt du?“ frage ich sie und merke erst jetzt, dass diese Frage ein bisschen spät kommt. Mit meinen Umgangsformen ist es nicht weit her.

„Caitlin“, sagt sie lächelnd. „Caitlin Baumann. Du hast mir deinen auch noch nicht gesagt.“

Ich lächle zurück, verzichte aber auf eine Antwort. „Erzähl mir von Herrn Kindler. Wie war er so als Chef?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Er hat mich immer pünktlich bezahlt. Er ist nie böse oder laut geworden. Er hat erwartet, dass ich meine Arbeit gut mache, hatte aber Verständnis, wenn ich mal einen Tag frei nehmen musste, um mich um meine kleinen Brüder zu kümmern.“

„Hatte er Geldsorgen?“

Caitlin schüttelt den Kopf. „Nein, glaub ich nicht. Falls doch, hat er jedenfalls nie darüber gesprochen. Wie gesagt, er hat mich immer bezahlt, und ich habe hier mehr verdient als in meinen früheren Jobs. Mir hat die Arbeit bei ihm gefallen.“

Langweilig. Langweiliger. Am langweiligsten. Ich muss mich zur Ordnung rufen und an den Scheck erinnern, der auf mich wartet. Sonst würde ich jetzt schreiend rausrennen. Ich bin einfach nicht zum Ermittler geboren. Das Töten liegt mir im Blut. Da muss ich wenigstens nicht mit Leuten reden und so tun, als würden mich die Antworten interessieren.

Ich seufze. „Es muss doch irgendwas geben, weshalb ihn jemand umbringen wollte.“

Sie schüttelt den Kopf. „Da fällt mir nichts zu ein, und ich hab auch schon darüber nachgedacht, warum er ermordet wurde. Er hat über sein Privatleben nicht gesprochen, aber ich hatte immer den Eindruck, dass er ein ganz zufriedener Mensch ohne große Sorgen war. Falls er die hatte, hat er das gut verborgen.“

Jetzt bin ich an der Reihe mit dem Seufzen. „Du weißt also nicht, warum das passiert ist?“

„Nein. Ist für mich genauso unerklärlich wie für dich“ gibt sie zurück. „Aber sein Tod bedeutet für mich das Ende von einem geregelten Job und Einkommen, gefällt mir also ganz und gar nicht. Ich hab also überhaupt kein Interesse an seinem Tod, falls das als nächstes kommt.“

Ich lehne mich zurück in diesem unbequemen Bürosessel und wünschte, ich wäre ganz weit weg. Vielleicht bitte ich meine M.I.A.U. Angestellten, den Fall zu übernehmen. Ich kann ihnen eine Gehaltserhöhung geben, wenn sie den Mörder finden. Das sollte sie ausreichend motivieren. Aargh!

„Ich fand es nur merkwürdig, dass ich all die Süßigkeiten verschenken sollte“, sagt sie plötzlich in die Stille hinein. „Ich hätte sie für einen guten Preis verkaufen oder an den neuen Besitzer weitergeben können. Einige der Gläser waren frisch befüllt, und jetzt sind sie leer. Diese Kinder haben heute hunderte von Darem gegessen.“

Es muss für sie ein schmerzlicher Verlust sein, dass so viel Geld verschenkt wurde. Bald wird sie keinen Job mehr haben, und Kindler hat ihr auch nichts hinterlassen.

Das füge ich zu meiner Liste merkwürdiger Verhaltensweisen von Winston Kindler hinzu. Die wird immer länger, je mehr ich über ihn herausfinde.

„Würde es dir was ausmachen, wenn einer meiner Leute morgen vorbeikommt und sich die Unterlagen hier mal genauer ansieht?“ frage ich sie. „Das würde dir ja auch helfen, da kommt Ordnung in dieses Durcheinander hier.“

Sie schaut sich um, als würde ihr gerade erst auffallen, wie chaotisch das alles ist.

„Das war nicht immer so schlimm“, sagt sie ruhig. „Er mochte es eigentlich immer sauber und ordentlich. Dann hat sich das vor fünf Monaten total geändert. Als ob ihn die finanzielle Lage des Geschäfts überhaupt nicht mehr interessierte. Da fing er auch an, über den Verkauf des Ladens zu sprechen. Das hatte er vorher nie erwähnt. Ich dachte immer, er würde das hier bis zur Rente weitermachen.“

„Vor einigen Monaten? Kannst du sich erinnern, wann genau das war?“ frage ich und mache mir schnell eine Notiz. Endlich etwas, das sich zu einer Spur entwickeln könnte.

Sie runzelt die Stirn. „Es war Winter, ich erinnere mich, dass Schnee gelegen hat. Ich dachte damals noch, wie kalt es wohl wäre, wenn ich diesen Job nicht hätte. Unser Haus ist so schwer zu heizen.“

Davon kann ich auch ein Lied singen. Ich wohne gern in einem großen Haus, aber es ist nicht leicht, es im Winter warm zu halten. In den Mengen, wie wir sie für unsere Kamine brauchen, ist Holz sehr teuer.

„Es war Januar, glaube ich. Ja, Januar.“

Ich lächle sie an. „Danke, das hilft mir wirklich weiter. Gibt’s noch etwas, was damals merkwürdig war?“

Caitlin schüttelt den Kopf. „Nein, deshalb war es auch solch ein Schock, dass er den Laden verkaufen wollte. Es gab dafür vorher keine Anzeichen, absolut nichts. Das kam aus heiterem Himmel.“

Ich stehe auf und stöhne auf, als ich so richtig merke, wie unbequem der Sessel war. Da muss ich wohl einige Dehnübungen machen, besser noch, eine Runde Laufen gehen.

„Lass mich wissen, wenn du dich sonst noch an irgendwas erinnern kannst.“ Ich gebe ihr eine Visitenkarte, nur für den Fall, dass sie die erste schon verloren hat. „Und viel Glück bei der Jobsuche.“

Sie verzieht das Gesicht. „Danke. In dieser Stadt ist das Angebot nicht gerade groß“.

Ich bin schon fast zur Tür raus, als ich noch einmal zurückgehe. „Hab ich fast vergessen. Gibt es hier irgendwo einen Safe? Ich habe in Kindlers Haus einen Schlüssel gefunden.“

Caitlin schüttelt den Kopf. „Nein, wir haben nur den Laden, dieses Büro, eine Toilette und einen Lagerraum. Hier ist kein Platz für so etwas Ausgefallenes wie einen Safe. Er hat die Tageseinnahmen immer am Abend auf die Bank gebracht, zur Sicherheit.“

„Kann ich den Lagerraum mal sehen?“

Ihr Gesichtsausdruck wird jetzt feindselig. „Nein, kannst du nicht. Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt, du hast mich schon zu viel Zeit gekostet. Ich muss den Laden noch saubermachen, und es ist schon spät.“

Interessant. Ich glaube, ich weiß wem ich heute Nacht einen Besuch abstatte. Es geht doch nichts über einen kleinen Einbruch…

Miau

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