Читать книгу Miau - Skye MacKinnon - Страница 8

Prolog

Оглавление

Der kleine Kater starrt mich an, als sei ich entweder ein lustiges neues Spielzeug oder ein Beutetier, das man am besten umbringt. Er miaut laut, fordert mich heraus. Ich miaue zurück, hundert Mal lauter. Er sieht mich schockiert an, dann rennt er fort, die Rückenhaare angstvoll aufgestellt.

„Tut mir leid, Kleiner“, flüstere ich. „Heute Nacht brauche ich wirklich keine Zeugen“.

Ich setze meinen Gang über die Dächer fort, so still wie der kleine Kater, den ich noch immer von hinter mir spüren kann. Er beobachtet mich von weitem und fragt sich wahrscheinlich, was verdammt nochmal los ist. Ich bedrohe sein Revier, er ist aber noch nicht mutig genug, mich direkt herauszufordern. Gut so. Ich kann heute Nacht auf solche Ablenkungen verzichten.

Ich springe von einem Dach zum nächsten, halte nur ab und zu an um sicher zu sein, dass ich noch auf dem richtigen Weg bin. Es ist viel schwieriger, sich auf Dächern zu orientieren, wenn man nicht die Hilfe von Straßenschildern und anderen Zeichen hat. Mein Orientierungssinn ist gut, aber ich traue ihm nicht immer. So habe ich es gelernt. Traue nichts und niemandem, nicht mal deinen eigenen Gedanken. Nicht dem, was du siehst oder hörst. Die Welt besteht aus einem Lügengewebe, das nur so aussieht, als sei es real.

Als ich ein Dach betrete, das so alt und verfallen ist, dass sogar mein vorsichtiger Schritt ein knirschendes Geräusch auf den gebrochenen Schindeln verursacht, halte ich sofort inne, ducke mich vorsichtig, bereit zum Sprung. Ich weiß nicht viel über die Zielperson, längst nicht so viel wie nötig wäre. Ich weiß nicht, wie stark sie ist und, was noch wichtiger ist, wie paranoid. Die meisten Leute in dieser Stadt leiden unter irgendeiner Form von Paranoia, aber manche mehr als andere. Die Hexenjagd, die sie vergangene Woche zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren wieder veranstaltet haben, war ein eindeutiger Beweis. Armes Opfer.

Aus dem Haus unter mir kommt kein Geräusch, also schleiche ich weiter in Richtung Dachfenster. Es hat einen alten Holzrahmen, also sind Splitter vorprogrammiert. Da lasse ich ohne Handschuhe die Pfoten von.

Vorsichtig spähe ich über die Dachkante. Kein Licht, schon mal gut. Ich teste, wie tragfähig die Kante ist, drücke ein paar Mal drauf. Scheint stabil genug zu sein. Hoffen wir mal, dass sie mein Gewicht aushält.

Ich halte mich nur mit den Fingern fest und lasse mich hinab, bis ich genau vor dem Fenster hänge. Nach dem, was man mir gesagt hat, wird der Dachboden nur für Lagerzwecke verwendet. Er sollte leer sein. Ich schwinge zurück und strecke meine Beine vor mir aus und trete das Fenster beim Vorwärtsschwingen ein. Es ist alt und leistet kaum Widerstand. Wahrscheinlich hätte ich es auch mit den Händen eindrücken können.

Ich lasse mich auf den Boden gleiten, bleibe bewegungslos kauern und lausche nach allem, was im Haus so vor sich gehen könnte. Da ist nur Stille. Entweder er schläft oder er ist nicht da. Hoffentlich schläft er, ich würde ungern den ganzen Weg nochmal machen. Von mir aus gesehen ist das Haus schließlich am anderen Ende der Stadt, und ich bin nicht gerne zu lange draußen. Weiß gar nicht mehr, wie viele Kopfgelder inzwischen auf mich ausgesetzt sind, beim letzten Zählen waren es ein gutes Dutzend. Auf irgendeine kranke Art und Weise macht mich das sogar stolz. Die Leute da draußen haben Angst vor mir. Sollten sie auch. Ihre Furcht ist meine Versicherung. Wenn die Leute dich fürchten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht so hoch, dass sie dich angreifen.

Ich bleibe noch ein paar Minuten in dieser kauernden Position, als ich aber nichts höre, stehe ich auf und hole die Taschenlampe aus meinem Rucksack. Ich schaue mich in dem Raum schnell um. Abgesehen von ein paar staubigen Pappkartons ist er leer, genau, wie man mir gesagt hatte. Nach der dicken Staubschicht auf dem Boden zu urteilen, war seit Wochen keiner mehr auf diesem Dachboden.

Eigentlich ist es ganz hübsch hier oben. Nach einer Putzaktion könnte das eine nette Dachkammer sein. Die durch den Boden ganz nach oben reichenden Dachbalken wären optimal, um eine Hängematte dazwischen aufzuspannen. Viel schöner als das Loch, in dem ich gegenwärtig hause.

Ein Geräusch unter mir erschreckt mich, aber mein gutes Training lässt mich ruhig verharren. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, gebe keinen Ton von mir. Ich höre Schritte, langsam und schwer. Eigentlich mehr ein Schlurfen als ein Gehen. Man hat mir nichts über das Alter meiner Zielperson gesagt, aber diesem Geräusch nach zu urteilen muss sie älter sein. Das sind die leichtesten Ziele. Nicht nur wegen der eigentlichen Arbeit, sondern auch, weil mir das am wenigsten ans Gewissen geht. Alte Leute sterben sowieso bald. Ich kann ihnen nicht mehr so viel Lebenszeit wegnehmen. Weniger Schuld, mit der ich leben muss.

Ich verharre weiter bewegungslos, bis ich unter mir die Toilettenspülung höre und wieder das schlurfende Geräusch, diesmal zurück zum Schlafzimmer. Zeit für Action, bevor sich der Staubfilm auch noch über mich legt.

Vorsichtig schleiche ich zur Bodenluke. Im Vergleich zum Rest des Hauses ist sie eher modern, mit leuchtenden Metallscharnieren, die so aussehen, als würden sie nicht allzu sehr quietschen. Ich arbeite wie in Zeitlupe, öffne vorsichtig die Klappe und lasse langsam die Leiter hinab. Je langsamer, desto weniger Geräusch.

Als ich endlich die unterste Sprosse der Leiter erreiche, geht mir das ganze schon wieder so was von auf die Nerven. Ich bin eher der Typ für eine schnelle Attacke in einer dunklen Seitengasse als hier durch anderer Leute Häuser zu schleichen. Das dauert nicht nur endlos, das zeigt mir auch die Art von Leben, die ich nie hatte und auch nie zu führen gedenke. Bilder an den Wänden, Fotos in staubigen Rahmen. Ein ausgefranster Teppich, verblichen und abgetreten durch all die Schritte, die er aushalten musste. Am Ende des Flurs steht eine verkümmerte Pflanze in einem viel zu großen Topf. Wahrscheinlich wochenlang nicht gegossen. Wenn ich den Besitzer umgebracht habe, gebe ich ihr vielleicht ein bisschen Wasser – im Service inbegriffen.

Auf Zehenspitzen bewege ich mich den Flur entlang, dem sanften Schnarchen entgegen. Die Richtung stimmt mit der Vorstellung von dem Haus überein, die ich mir durch seinen Klogang gemacht habe. Die Tür auf meiner rechten Seite führt in sein Schlafzimmer. Ich ziehe die Messer aus den Scheiden an meinem Gürtel. Die habe ich gestern noch geölt, damit sie ja keinen Laut machen, wenn ich meine bevorzugten Waffen heraushole. Beide Messerspitzen habe ich in Gift getaucht, was dieser Tötungsmethode eine gewisse Eleganz verleiht. Besser, als die Leute nur abzustechen. Ein kleiner Ritz mit dem Messer, und eine halbe Stunde später kommt der Tod auf leisen Pfoten. Es ist auch persönlicher als die Pfeile, die einige meiner Kollegen verwenden. Nein, Kollegen, das sind sie eigentlich nicht. Kumpanen. Elende Kreaturen, die im selben Leben gefangen sind wie ich.

Ich atme tief, aber geräuschlos ein und schiebe die Tür auf. Es ist fast vollständig dunkel in dem Raum, aber meine Augen gewöhnen sich schnell daran, der Flur war auch nur wenig beleuchtet. Im Bett liegt eine Gestalt, unter zahlreichen Decken verborgen. Dem Mann muss ganz schön kalt sein. Wir sind jetzt immerhin am Ende des Frühlings, da müsste eigentlich eine einzige Decke genügen.

Ich nähere mich vorsichtig von der linken Seite, die Messer gezückt. Vielleicht sollte ich heute nur das Gift einsetzen. Dann würde er aus dem Schlaf einfach in den Tod hinübergleiten. Viel schöner und nicht so blutig, als ihm die Kehle durchzuschneiden. Außerdem sehen die Bettlaken gut und teuer aus, die möchte ich doch nicht ruinieren. Vielleicht hat er ja Erben, die damit dann noch etwas anfangen können, aber nur ohne große Blutflecken.

Also stecke ich eines der Messer wieder zurück in die Scheide und ziehe eine feine Nadel aus einer geheimen, in meinen Hemdkragen eingenähten Tasche. Die ist nicht so eindrucksvoll wie meine Messer, aber heute will ich mal nicht so gewalttätig sein. Das Blutbad, das ich bei meinem Opfer gestern angerichtet habe, gleicht das mehr als aus.

Ich beuge mich vor, um den Mann zu stechen – und bemerke meinen Fehler. Das Schnarchen hat aufgehört, es war wohl schon nicht mehr zu hören, seit ich den Raum betreten habe. Der Mann vor mir atmet nicht.

„Du bist nicht gerade schlau!“

Ich drehe mich blitzschnell um, bereit, mein Messer auf den Mann zu werfen, dessen Stimme aus einer dunklen Ecke des Zimmers kommt. Ein Zimmer, das ich nicht auf mögliche Fallen untersucht hatte. Schwerer Fehler. Ohne die Schatten, in denen er sich versteckt, aus den Augen zu lassen, schüttle ich den „Mann“ vor mir. Er wiegt zu wenig. Das ist auch nicht wirklich ein Körper. Bitte sag mir, dass ich nicht auf den „Kissen-unter-Decken“-Trick hereingefallen bin! Mir gehört’s nicht anders. Zu sehr abgelenkt durch Topfpflanzen und abgelaufene Teppiche.

„Wer bist du?“ frage ich ihn mit Stahl in der Stimme. Bloß keine Unsicherheit oder Angst zeigen.

„Die haben mir gesagt, sie würden eine ihrer Besten schicken“, murmelt er vor sich hin. „Bin mir nicht so sicher, dass sie dich damit meinten.“

„Du bist meine Zielperson?“

Er macht einen Schritt aus der Dunkelheit heraus, und ich lasse meine Nadel fallen und ziehe stattdessen das zweite Messer. Selbst in dem düsteren Licht ist klar, dass der Mann tatsächlich alt ist, was ihn aber nicht daran hindert, sich merkwürdig fließend fortzubewegen, wie das Raubtiere tun, die auf Beute lauern. Der schlurfende Schritt zum Badezimmer war wohl nur gespielt.

„Du hast dir ganz schön Zeit gelassen“ erwidert er statt einer Antwort auf meine Frage. „Obwohl – das ist wohl ein gutes Zeichen. Manchmal ist Geduld wichtiger als Intelligenz.“

Er legt’s offenbar darauf an, mich zu beleidigen, aber ich lasse mich nicht provozieren. Habe Übung darin, nicht auf das zu achten, was andere Leute zu mir sagen.

„Was willst du?“ frage ich ihn. Irgendwie ist mir schon klar, dass er nicht seinen eigenen Mörder umbringen will. Das hätte er schon tun können, als ich durch die Tür kam. Hätte mich von hinten anspringen können, mir die Kehle durchschneiden oder mir den Kopf einschlagen. Was auch immer.

„Ich hab dir einen Vorschlag zu machen“, antwortet er ruhig. „Du bist zwar nicht so gut wie ich erwartet hatte, aber du musst wohl genügen. Was hältst du davon, dich selbständig zu machen?“

Ich lache auf. „Keine Chance“.

Nicht unbedingt, weil ich nicht will, ich kann nicht. Aber das werde ich ihm nicht auf die Nase binden. Nie Schwäche zeigen.

„Wegen dem Halsband da?“, fragt er.

Meine Gedanken rasen. Wie konnte er das wissen? Niemand weiß davon. Reflexartig greife ich an meine Kehle und prüfe, ob der Schal noch an seinem Platz ist. Er dürfte das Halsband eigentlich nicht sehen.

„Wie?“ frage ich und weiß, dass er genau versteht, was ich damit meine.

Er gluckst. „Geschäftsgeheimnis. Also, hier ist der Deal. Ich entferne das Halsband, du startest deine eigene Agentur. Ich werde dir ab und zu Zielpersonen nennen, aber ansonsten bist du unabhängig. Vielleicht gebe ich dir sogar eine Geldspritze für den Start.“

Am liebsten würde ich den Mund offen stehen lassen und ihn mit tausend Fragen löchern, aber ich halte die neutrale Fassade aufrecht. „Was ist für dich dabei drin?“

Er lacht erneut. „Ich will schon eine ganze Weile diese Stadt verlassen. Stellen wir uns mal vor, du hättest mich getötet. Das bedeutet Ruhe und Frieden für mich; du kannst mein Haus haben und meine Kontaktliste. Damit solltest du das Geschäft zum Laufen bringen.“

Vor lauter Verwirrung bin ich gerade nicht die Schnellste im Denken. Er will, dass ich mein eigenes Killergeschäft aufbaue? Er will mir das Halsband abnehmen? Mir sein Haus überlassen? Das ist bestimmt ein Test.

„Beweis es“, fordere ich ihn heraus. „Zeig mir, dass du mich von diesem Ding hier befreien kannst.“

Ich reiße mir den Schal herunter und zeige ihm die bronzene Manschette um meinen Hals. Ich habe mich daran gewöhnt, wie eng sie ist, beim Schlucken werde ich schmerzlich daran erinnert. Die paar Mal, die ich sie nicht umhatte, weil mir während des Wachsens fast jedes Jahr eine neue angepasst werden musste, fühlte ich mich fast nackt ohne sie. Sie war ein Teil von mir geworden. Wir haben sie doch alle. Jeder in der Meute.

„Da muss ich aber näher herankommen“ meint er. „Und ein bisschen mehr Licht könnte auch nicht schaden.“ Bevor ich etwas antworten kann, hat er auf den Lichtschalter gedrückt und die Lampe über mir flackert auf. Es ist eine Energiesparlampe, die einen Moment braucht, bis sie ihre ganze Leuchtkraft entfaltet. Ich bin dankbar dafür, das schont meine Augen.

Endlich sehe ich meine Zielperson. Er ist überraschend groß gewachsen, trägt einen schwarzen Zylinder auf seinem weißen Haar. Ein gut gepflegter Bart verdeckt sein eckiges Kinn, lenkt aber nicht von den tiefen Narben ab, die sich an beiden Wangenknochen entlangziehen. Ohne die würde er wie ein Gentleman aussehen, vielleicht ein Akademiker, der die meiste Zeit seines Lebens hinter einem Schreibtisch verbringt, umgeben von Büchern. Die Narben erzählen eine andere Geschichte.

„Wer bist du?“ frage ich noch einmal, bevor mir trotz aller Verwirrung ein Verdacht kommt. „Du hast mich doch nicht etwa selbst beauftragt, dich umzubringen, nur um mich herzulocken?“

„Gut“, sagt er nur und kommt auf mich zu. Ich wehre mich mit aller Macht gegen den Drang, zurückzuweichen und wegzulaufen, bleibe also wie angewurzelt stehen. Manchmal bin ich neugieriger, als mir guttut. Jemanden, der so gefährlich ist wie mein Gegenüber so dicht an mich herankommen zu lassen, ist nie eine gute Idee. Aber da stehe ich also, bewege mich nicht, während er seine rechte Hand zu meinem Nacken bewegt und die linke in seiner Jackentasche verschwindet.

Neugier war der Katze Tod. Das würden sie auf meinen Grabstein schreiben, wenn sich jemand die Mühe machen würde, mich überhaupt zu begraben. Was eher unwahrscheinlich ist. Ich würde wohl eher als Leiche in einem Fluss oder in einem der großen städtischen Müllcontainer enden. Ein würdiges Ende für ein Leben, das hauptsächlich aus Töten und Stehlen bestanden hat.

Ich ziehe den Hemdkragen aus dem Weg, während er sanft über das Band streicht. „Die haben sich etwas weiterentwickelt, seit ich zum letzten Mal eines gesehen habe, ist aber trotzdem ganz einfach. Halt still, das dauert nicht lange.“

Er schließt die Augen. Dies wäre der ideale Moment, ihn ins Jenseits zu befördern. Das zu tun, was man mir aufgetragen hat, und dann nach Hause zu gehen, zu frühstücken und ein Nickerchen zu machen.

Aber nein, ich bin blöd und neugierig. Wenn der mich tatsächlich von dem Ring befreien kann, der mein ganzes bisheriges Leben bestimmt hat, ist es das Risiko wert. Andere vor mir haben schon versucht, das Band loszuwerden. Alle ohne Erfolg. Weiß auch nicht, warum ich diesem Mann überhaupt glaube. Wahrscheinlich doch nur ein Trick. Ich bin doch schon auf seinen anderen reingefallen. Beim ersten Mal war’s ja noch Zufall, ein Moment der Gedankenlosigkeit, das zweite Mal ist es einfach nur Dummheit und Leichtsinn.

Na ja, ich habe nie behauptet, dass ich besonders clever bin.

„Es wird sich jeden Moment öffnen“, murmelt der Mann. „Bereite dich drauf vor, das kann einen überwältigen.“

Er gibt mir keine Zeit, mich darauf einzustellen. Der Ring springt mit einem merkwürdig knirschenden Geräusch auf und ich ziehe die Luft tief ein und taumele nach hinten. Mein Herz schlägt immer schneller und ich merke, wie sich die Haare auf meiner Haut aufstellen. Ein Knurren steigt aus meiner Kehle.

„Ganz sachte“, sagt der Mann beruhigend. „Du kannst das unter Kontrolle bringen. Du bist stark“.

Mir treten Tränen in die Augen, als der Schmerz durch meine Fingerspitzen jagt. Ich muss gar nicht hinschauen um zu wissen, dass meine Krallen durch die Haut gebrochen sind. Meine Augen zucken, jedes Mal, wenn ich sie schließe, ändern sich die Farben des Zimmers und wechseln zwischen dem hellen Raum und verschwommenen verwaschenen Gestalten. Als ob ein Maler mit einem Schwamm über sein Werk wischt und dabei einen Teil der Farben aufsaugt und die klaren Linien unkenntlich macht.

„Du hast die Kontrolle.“

Meine Ohrmuscheln drehen sich der Stimme des Mannes entgegen. Er ist jetzt lauter zu hören, ich kann Nuancen in seinem Tonfall erkennen, die vorher nicht da waren.

Erinnerungen überfluten mich. Ich habe das schon einmal erlebt. Vor langer Zeit. Bevor man mir den Ring umgelegt hat. Ich bin durch langes Gras gelaufen, so viele Gerüche, das Geräusch von Insekten so laut wie das von Straßenverkehr. Meine Pfoten weich auf dem Boden, meine Krallen …

Kontrolle. Ich atme wieder tief ein und konzentriere mich auf diesen Gedanken. Kontrolle. Nicht das Tier. Nicht an das Tier denken, das in meinem Innern schlummert.

Langsam ziehen sich die Krallen zurück, mein Herzschlag normalisiert sich. Es dauert noch eine weitere Minute, bis auch mein Sehvermögen wiederhergestellt ist, aber ich behalte die ganze Zeit den alten Mann im Blick, der sich wieder in die Ecke zurückgezogen hat und mich beobachtet.

„Die haben eine gute Wahl getroffen, als sie dich heute Nacht hierher geschickt haben“, sagt er, als ich bereit bin. „Du hast genug Kontrolle darüber und kommst klar damit. Du hättest gar kein Halsband gebraucht. Die hätten das schon längst entfernen sollen. Na ja, deren Verlust ist mein Gewinn. Also lass uns übers Geschäft reden.“

„Geschäft?“, frage ich mit trockenem Mund. Ich fühle mich so merkwürdig. Ein bisschen schwach, wie kurz bevor man krank wird und nicht so recht weiß, was los ist und man nicht sagen kann, warum man sich nicht so toll fühlt. Ich befühle mit der Hand meinen Hals. An der Stelle, wo das Halsband gesessen hat, ist die Haut weich und empfindlich. Mit schwacher Geste stelle ich meinen Hemdkragen hoch und lege mir wieder den Schal um. Und denke daran, dass ich den Mann besser warnen sollte.

„Vielleicht solltest du das besser an dich nehmen“ sage ich und werfe ihm eine winzige Ampulle zu, die ich in einer meiner vielen Hemdtaschen versteckt hatte.

Er fängt sie ohne Mühe und betrachtet sie neugierig. „Was ist das?“

„Ein Gegenmittel für das Gift, das ich dir verabreicht habe“. Ich grinse ihn an. „Sorry, ich wusste ja nicht, ob du mir wirklich das Band abnehmen würdest oder was Schlimmes ausheckst“.

Er zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Pfeile?“

Ich nicke. „In meinem Kragen versteckt. Ich habe dich geritzt, als du deine Hände um meinen Hals gelegt hast.“

„Also, das hab ich wirklich nicht kommen sehen. Bin beeindruckt. Bist anscheinend doch schlauer, als du aussiehst.“

Er zieht den Korken aus dem Fläschchen und trinkt den Inhalt. Ich bin überrascht, dass er mir vertraut und nicht denkt, dass ich ihn vergiften will. Nun ja, das habe ich ja schon getan, aber es hätte ja auch zweimal passieren können.

Er verzieht das Gesicht. „Nächstes Mal tu ein bisschen Zimt mit rein. Das verbessert den Nachgeschmack.“

Ich schaue ihn ausdruckslos an. „Ich werde darüber nachdenken.“

„Im Keller gibt’s ein Labor. Im Büro wirst du einen Ordner mit allen nötigen Tastencodes finden, die du hier im Haus für die wichtigen Räume brauchst.“

Er beantwortet meinen fragenden Blick.

„Für das Waffenlager, das erwähnte Labor, den Fitnessraum und den Leichenraum.“

Diesmal kann ich mir nicht helfen und frage nach Luft schnappend „Ein Leichenraum? Hier im Haus?“

Er schaut mich merkwürdig an.

„Klar doch. Hat dein jetziger Auftraggeber etwa keinen?“

Ich schüttele den Kopf. „Wir entsorgen die Leichen oder lassen sie einfach liegen“.

Er schnalzt mit der Zunge. „Solch eine Verschwendung. Man kann so viel über den Tod lernen, wenn man sich die Leichen näher anschaut. Und man weiß ja nie, wann man vielleicht eine wohl platzierte Leiche gebrauchen kann, um jemandem eine Botschaft zu schicken.“

Irgendwie ist das schon logisch, aber gleichzeitig – will ich in einem Haus über einer Leichenhalle wohnen? Dann fällt mir wieder ein: Ich bin Auftragskiller. Das Einzige, was mir keine Angst einjagt, ist der Tod. Es gibt auf der Welt einiges, was viel schlimmer ist als der Tod an sich.

„Ich glaube nicht, dass mein derzeitiger Auftraggeber“ – ich betone das Wort, weil ich Boris eigentlich nie so bezeichnen würde – „mich einfach so gehen lässt. Er hat in mich investiert, hat mich ausgebildet. Der wird es kaum hinnehmen, dass ich weggehe und meine eigene Agentur gründe.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagt der Mann ungerührt. „Der wird dir nicht in die Quere kommen. Was du überlegen musst ist, wen du einstellen willst. Ich habe viele Aufträge für dich, die kannst du unmöglich alle allein erledigen. Du kannst klein anfangen, aber ab einem gewissen Punkt wirst du ähnlich viele Angestellte haben wie dein jetziger Manager.“

Auftraggeber, Manager – verwendet er das als Phrasen oder denkt er wirklich, dass das so läuft? Sklaventreiber wäre ein treffenderer Ausdruck. Besitzer. Wir haben uns schließlich nie um diesen Job beworben. Es gibt dafür auch kein Gehalt. Will dieser Mann, dass ich die Dinge wie Boris erledige oder doch anders mache?

„Du findest alles was du brauchst im Büro, einschließlich deines ersten Falls. Du kannst dir die Dinge einteilen, wie du willst, aber meine einzige Bedingung ist, dass meine Aufträge immer Vorrang vor allen anderen haben. Im Gegenzug bekommst du das Haus, ein bisschen Bargeld und natürlich ein Leben ohne Halsband. Bist du einverstanden?“

Da muss ich nicht zweimal drüber nachdenken. Nicht, dass ich mit allem wirklich einverstanden wäre, was er verspricht. Ich erwarte auch gar nicht, dass er seine Versprechen hält. Aber nein, ich bin gut darin, Leute zu hintergehen. Ich bin sehr gut. Und egal, was er glaubt über mich zu wissen, das einzige, was ich wirklich gut kann, ist, auf mich selbst aufzupassen.

Miau

Подняться наверх