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3. Kapitel

Elsa spürte, wie ihr Tränen über die Wangen bis zu den Ohren rannen. Sie wischte sie seufzend mit der rechten Hand weg, während ihr Blick auf eine kleine Keramikfigur fiel, die ihren Kuno darstellte. Über all die Jahre hinweg hatte sie diese kleine Figur aufgehoben als Erinnerung an eine ganz besondere Beziehung. In Gedanken versunken sah sie ihn wieder vor sich. Manchmal hatte sie den Eindruck, seinen Geruch einfangen zu können. So ertrug sie die Vergangenheit, es wurde für sie leichter, in der Gegenwart zu leben.

Um nicht weiter düsteren Gedanken nachzuhängen, stand Elsa auf, öffnete ihre Balkontüre und spürte den auffrischenden Wind, der durch die Bäume zu ihr her wehte. Die Sonne schien noch angenehm warm. Unversehens verspürte sie Lust, im Park spazieren zu gehen. Ihre Augen suchten forschend die Garderobe ab, was sie anziehen sollte. Ihr Blick fiel auf eine Jacke, die zur Hälfte aus Wolle und, um unangenehmen Wind abzuhalten, ab der Mitte aus einem Steppmaterial war. Im Vorbeigehen zog sie den wärmenden Schal vom Haken, den sie auf einer Urlaubsreise erstanden hatte. Sie trat vor die Türe und atmete tief ein. Frische Luft füllte ihre Lungen. Sie wandte das Gesicht der Sonne zu. Vor dem Haus standen uralte Bäume mit dicken Stämmen. Von dort führten Schotterwege quer durch den Park. Sie schlug die Richtung zur Kapelle ein, um dann erst den Weg zum Teich zu nehmen. Ihre Erinnerungen waren verflogen, unbeschwert begann sie ihren Spaziergang.

»Darf ich Sie einladen, ein Stück des Weges mit mir zu gehen?« Eine samtene Stimme hing in der Luft. Elsa drehte sich verblüfft um. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand hinter ihr ging. Viktor Lehmann winkte ihr zu.

»Und wie ich will!«, dachte sie und erwiderte:

»Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Bitte, sehr gerne! Wohin?«

»Ganz egal«, antwortete er.

Er kam näher, reichte ihr die Hand und schloss sich ihrem Tempo an, ohne den Abstand zwischen ihm und ihr zu verringern. Er war ausgesprochen höflich, ein Gentleman wie aus dem Buche.

»Wie verbringen Sie ihren Tag in der Residenz?«. »Ähm … was meinen Sie?«

Elsa war auf diese Frage nicht gefasst, denn, um ehrlich zu sein, hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht, seit sie in der Residenz lebte. Die Tage verstrichen, mal unterhaltsamer, mal zurückgezogen, aber auf jeden Fall unspektakulär.

»Ich lasse mich treiben.« Dabei spähte sie ihn vorsichtig von der Seite her an.

»Verstehe!« Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Ohne das Schritttempo zu ändern, stapfte er weiter voran.

»Ich plane eigentlich nicht viel. So wie es sich ergibt, passt es für mich«, setzte sie nach. Aber stimmte das wirklich? Elsa hätte dem jetzt so nicht zustimmen wollen, doch sie wollte vorerst nichts von sich preisgeben.

Sie sah Viktor an, um seine Reaktion auf ihre Erwiderung zu sehen, aber da war nichts Besonderes. Er ging neben ihr her und setzte dabei wie gewohnt den Stock ein.

»Schön ist es hier.« Mehr fiel ihnen an Gesprächsstoff nicht ein.

Dabei beobachtete sie eine Amsel, wie sie aus dem Boden einen Wurm herauszog, ihn im Stakkato in kleine Stücke hackte und hektisch verschlang.

Viktor Lehmann blieb unvermutet stehen, drehte sich einmal um sich selbst und sagte:

»Ja, stimmt! Nur … leer ist es, unbelebt. Hier fehlt der Lärm des Lebens. Es muss ja nicht gleich ein Kinderspielplatz sein, aber etwas, das dem Park einen Pulsschlag verleiht.«

Sein Durchatmen klang wie ein Seufzer, während er geradeaus blickte.

»Ich hatte auf dem Land gelebt auf einem kleinen Hof«, erzählte er spontan. »Meine Frau und ich liebten die Natur. Wir hielten Tiere, wir hatten zwei Ponys und einen Hund. Meine Frau hatte eine Vorliebe für Vögel, und so baute ich ihr eine Voliere. Leider wurde sie krank, sie hatte keine Kraft mehr für die viele Arbeit.«

Lange sagte er nichts, und bevor Elsa mit einer Frage die Stille überbrücken wollte, fuhr er fort:

»Nach ihrem Tod lebte ich noch einige Zeit dort, entschloss mich aber später, die Tiergemeinschaft aufzugeben. Die Ponys gab ich einem Reitstall, unser Hund starb ein Jahr nach meiner Frau, und die Vögel schenkte ich einem Tiergarten.«

Aus seinen Augen schimmerte eine tiefe Traurigkeit, die seinen Blick für kurze Zeit verschleierte. In sich versunken spazierten beide den Kiesweg entlang.

»Wieder trägt jemand den Kummer im Herzen herum«, dachte sie. Abrupt blieben sie stehen, drehten sich fast gleichzeitig einander zu und lächelten. Elsa unterbrach seine Gedanken und holte tief Luft, bevor sie sagte:

»Könnten wir nicht »Du« sagen? Ich bin Elsa.« Freudig reichte Viktor ihr die Hand und erwiderte: »Viktor, ich freu mich.« Er nahm galant ihre Hand und küsste sie nach alter Gentlemen-Art. Beide lenkten ihre Schritte synchron in die Richtung des kleinen Teiches, wo die Bank stand, bei der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten.

»Setzen wir uns?«, fragte Viktor mit einer einladenden Handbewegung.

Zustimmend nickte Elsa, inspizierte die Bank und setzte sich. Gedankenverloren scharrte sie mit ihrem Schuh den Kies am Boden zu einem Hügel zusammen, zerstreute Zigarettenkippen, die vor der Bank achtlos hingeworfen worden waren, und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie Viktor sich in dieser Situation verhielt.

»Wir sitzen da wie Teenager, die sich zum ersten Mal verbotenerweise treffen«, sagte er belustigt und schaute zu Elsa, die verlegen mit der Zunge über ihre Lippen strich.

Elsa überlegte hastig, worüber sie sich unterhalten könnten, ohne zu persönlich oder privat zu werden.

»Hast du Lust, irgendwohin auf einen gemütlichen Drink zu gehen?«

»Nichts lieber als das!« Elsa fühlte sich kribbelig mit der Aussicht auf Abwechslung.

»Madame, darf ich Sie um Ihr Geleit bitten?« Viktor sprang wie ein Jüngling auf und hielt ihr beim Aufstehen charmant den Arm hin, den sie mit einem Lächeln ergriff. Dann hakte sie sich bei ihm unter, und sie wandten sich dem Ausgang zu.

»Ich kenne nicht weit von hier ein gemütliches Lokal.«

Nach ungefähr einer Viertelstunde tauchte vor ihnen, versteckt in einer kleinen Seitengasse, ein Lokal mit einem anschließenden Gastgarten auf. Sie überquerten die Straße und näherten sich dem Eingang. Es war gerade nicht viel los, der hübsche Gastgarten lockte.

»Es ist gemütlich hier, sollen wir bleiben?«

Fragend drehte sich Viktor zu Elsa.

»Unter der alten Linde dort wäre es schön.«

Mit der Hand deutete Elsa auf einen runden Tisch, der um den Baumstamm herum gezimmert war. Kaum hatten sie sich gesetzt, eilte schon der Kellner herbei und erkundigte sich nach ihren Wünschen.

»Willst du etwas essen?«, fragte Viktor. Elsas Magen übernahm mit einem hörbaren Knurren die Antwort.

»Eine Kleinigkeit. Warum nicht?«, antwortete sie.

»Und zur Feier des Tages, bitte, ein gutes Glas Wein. Ist dir doch recht, Elsa?«

Kurz darauf servierte der Kellner das bestellte Essen. Er schenkte beiden den Wein ein und wünschte guten Appetit. Viktor schwenkte das Weinglas in seiner Hand leicht hin und her, als ob er am Grund des Glases Gold suchte. Dann hob er das Glas in Elsas Richtung.

»Danke, dass du mitgekommen bist, Elsa.«

»Salute!« Sie stießen an, leises Klirren war zu hören, dabei sahen sie sich zum ersten Mal direkt Auge in Auge an.

Mittlerweile war es Abend geworden, aus den Fenstern der angrenzenden Häuser drang Licht nach außen, der Verkehr wurde weniger. Der Tag kam langsam zur Ruhe. Sie zahlten und verließen das Gasthaus. Als sie den Heimweg zur Residenz antraten, fühlten sie sich gut. Sie hatten gelacht und erzählt, was nicht zu privat war. So hatten sie herausgefunden, dass sie beide Musik liebten, gerne Theater besuchten und an vielen durchaus unterschiedlichen Dingen interessiert waren. Keiner aber hatte etwas über seine Familie erzählt. Eine unsichtbare Wand hielt dieses Thema von ihnen fern. Zufrieden spazierten sie nebeneinander her. Das große schmiedeeiserne Tor zum Park der Residenz war schon geschlossen, aber durch eine Nebentüre, die mit dem Haustürschlüssel geöffnet werden konnte, für den Fall, dass der Portier schon nach Hause gegangen war, erreichten sie den Eingang. Die Laternen warfen einen fahlen Schein auf den Weg. Langsam schlenderten sie über den Kiesweg zum Haupteingang der Residenz, zu dem modernen Gebäudekomplex, in dem Elsa ihr Appartement bewohnte.

»Ich danke dir für den netten Nachmittag und Abend«, sagte Viktor zum Abschied.

Sie verabschiedeten sich voneinander, wobei Elsa sanft Viktors Oberarm berührte und dieser mit einem warmen Blick in den Augen ihre Hand drückte. Kurz drehte sie sich um und rief winkend: »Bis zum nächsten Mal!«

Beschwingt öffnete Elsa die Türe zu ihrem Zuhause, warf mit einer Hand ihre Jacke samt Schal über eine Sessellehne und zog mit der anderen Hand ihre Schuhe aus. Vorsichtig tappte sie über den Holzboden. »Wo habe ich wieder die Hausschuhe stehenlassen«, murmelte sie ärgerlich, weil sie nicht wusste, wo sie sie abgestellt hatte. Mit einem Blick in die dunkle Nacht hinaus griff sie zu einem ihrer schönsten Gläser, die rechts neben ihr in einer Vitrine aufgereiht standen.

»Was sagt man dazu? Das ist doch ein Grund zum Feiern. Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht.«

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich ein Glas Rotwein einschenkte. Sie umfasste das Glas mit beiden Händen, atmete das Bouquet des Weines ein und machte es sich auf ihrem Sofa bequem. Die Ruhe war zum Greifen nahe, fast gespenstisch. Hin und wieder knackte das Holz, aber außer ihren eigenen Geräuschen war nichts zu hören. Elsa fühlte sich rundherum wohl. Sie stellte das Glas ab, lehnte sich zurück und schlief fast in der gleichen Sekunde ein. Doch ihr Schlaf war unruhig, sie träumte von Jonas, wie er sang und sie anlächelte. Wirre Traumbilder vergangener Tage suchten sie heim. Sie sah, was gewesen und nicht mehr Bestandteil ihres Lebens war.

Sternenpfad zu dir

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