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Die vergessenen Namen

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Es waren einmal drei Kinder. Das Älteste war ein Mädchen mit blondem, feinem, langem Haar, großen blauen Augen, einer kleinen Stupsnase und einem meist sehr ernsten Gesicht, das fragend in die Welt hinausblickte. Das etwas jüngere Kind war ein Bub, der mit seinen großen dunklen Augen und seinem Lachen die Aufmerksamkeit sogleich auf sich zog und durch sein schelmisches Auftreten alle Herzen im Sturm eroberte. Das jüngste Kind war wieder ein Mädchen, mit gutmütigen Augen, einem leicht frechen Zug um den Mund, aber mit einem ans Herz gehenden Leuchten von innen.

Du willst wissen, wie diese drei Kinder heißen? Genau das ist das Problem. Keiner weiß, wie diese drei Kinder heißen. Darum hat das älteste Kind meist ein ernstes Gesicht, darum blicken die großen dunklen Augen des Buben oft sehr traurig und darum überspielt das dritte Mädchen diesen Umstand mit einem frechen Lachen. Den Buben können die Schwestern ja leicht rufen mit „Hallo Bub!“, und er weiß sofort, dass er gemeint ist. Aber wenn das große Mädchen das kleine Mädchen rufen will, dann sagt es meistens „Du, hallo, du!“ und zupft die Schwester am Ärmel. Das mag aber das kleine Mädchen nicht. Sie ruft dann „Lass mich doch, ich will das nicht! Warum haben wir nur keine Namen wie all die anderen Kinder auf dieser Welt? Warum hat man darauf vergessen, uns beim Namen zu nennen? Ich könnte ja Ameli heißen oder Marina oder …..?“


Du willst auch wissen, wo denn die Mama und der Papa von den drei Kindern sind? Die sind eh zu Hause. Mama ruft immer „Butzilein!“, wenn sie das kleine Mädchen meint. Papa ruft „Mein Baby“! Wenn sie den Buben rufen, dann heißt es immer „Hallo kleine Nuss!“ oder „Lustiger, zeig uns, was du kannst!“ Ganz schlimm ist es aber bei der Großen. Du willst wissen, wie sie zu ihr sagen? „Große – das musst du verstehen“, „Große – du musst nachgeben“ und so weiter. Wo sind nur die Namen geblieben? Irgendwann haben auch Papa und Mama vergessen, welche Namen ihre Kinder wirklich haben. Dabei haben sie ihre Kinder so lieb. Sie machen sich nichts daraus, dass sie die Namen nicht mehr wissen. Es geht ja auch so. Und sie können sich jeden Tag neue Kosewörter ausdenken.


Das große Mädchen nimmt die beiden Kleinen – denen Tränen über die Wangen kullern – in den Arm und drückt sie ganz fest. Sie denkt intensiv nach, was sie nur tun könnte. Sie haben ja schon einen Brief an das Christkind geschrieben, aber das hat letztes Jahr leider auch nichts gebracht. Vielleicht wüsste Oma noch, wie sie heißen. Aber sie ist leider vor ein paar Jahren gestorben und im Himmel.

Über all das denkt das große Mädchen nach, und jetzt rinnen auch ihr ein paar Tränen über das ernste Gesicht. Ihre Tränen tropfen auf die Köpfe von den zwei kleinen Kindern, die inzwischen auf ihrem Schoß eingeschlafen sind.

Weißt du auch, dass der liebe Gott über alle Menschen wacht und über kleine Kinder ganz besonders? Bis jetzt hat er völlig übersehen, dass es diese drei traurigen Kinder auf der Erde gibt. Er hat ja so viel zu tun. Dauernd passiert auf der Erde etwas und er muss dann schnell retten, aufhalten, beruhigen, horchen, lieben, drücken, organisieren. Und wenn er einmal zu spät kommt, dann holt er sich diese Menschen in den Himmel und richtet ihnen ein schönes Zuhause ein. Jedes Zuhause hat ein Fenster auf die Erde hinunter und all diese Himmelsmenschen bekommen eine besondere Eigenschaft. Sie können auf ihre zurückgebliebene Familie und ihre Freunde aufpassen.

Die Oma der drei Kinder ist auch im Himmel. Sie schaut aber fast nie aus dem Fenster, weil sie für die Engel Decken und Tischtücher häkelt, die Flügel immer neu erstrahlen lässt und allen im Himmel hilft. Nur heute sitzt sie am Fenster und ist sehr nachdenklich. Sie spürt, dass sie einmal auf die Erde blicken sollte. Oma öffnet das Fenster ganz weit und schaut auf die Welt hinunter. Zu ihrer Freude entdeckt sie sofort ihre Enkelkinder, wie sie auf der Stiege vor dem Haus sitzen. Die beiden Kleinen dürften am Schoß der Großen schlafen. Die Oma lächelt. Im nächsten Moment fallen der Oma große salzige Tropfen auf den Kopf. Oma zieht sofort den Kopf zurück ins Zimmer, aber das Fenster lässt sich nicht mehr schließen. Auch im Zimmer hängen überall Tropfen. Von der Lampe, vom Bettrand, am Sessel, vom Tisch. Oma schaut sich die Tropfen ganz genau an, kostet und erkennt, dass es die Tränen ihrer Enkelkinder sind.

Entsetzt läuft sie wieder zum Fenster und beim genauen Hinsehen auf die Erde erkennt sie, dass alle drei Enkelkinder weinen. Oma fragt die Tränen „Was ist denn los – warum sind meine Enkelkinder so traurig?“ Sofort erfährt sie, dass auf der Erde die Namen der drei Kinder vergessen wurden, weil sie durch Kosenamen ersetzt wurden. Oma weiß natürlich die Namen noch, aber wie soll sie diese den Kindern denn sagen? Sie kann ja nicht auf die Erde zurück. Schnell schickt Oma einen Engel zum lieben Gott, damit er ihr hilft. Und schon steht der liebe Gott im Zimmer von Oma und fragt, was denn los sei.

Oma zeigt aus dem Fenster und erzählt ihm die Sorgen ihrer Enkelkinder. Der liebe Gott sagt: „Da müssen wir ja sofort etwas unternehmen und ich weiß auch schon, was!“


Am Weihnachtsabend sind die drei Kinder aufgeregt. Die Große hofft noch immer auf ein Wunder. Als endlich die Glocke läutet, die Türe aufgeht und der Christbaum erleuchtet vor ihnen steht, schauen alle drei Kinder wie gebannt auf einen eingerollten Zettel, der an der Spitze des Christbaums flattert. Die Eltern schauen sich fragend und verwundert an, und der Papa nimmt den Zettel in seine Hände und liest:


ALINA fängt zu lachen an und drückt ihre Geschwister ganz fest. Klaus ruft immer wieder „Ich heiße KLAUS und habe zwei Schwestern, die LARA und ALINA heißen!“ ALINA hüpft herum und singt „Alina, Lara, Klaus – wohnen in diesem Haus!“

Mama und Papa fallen einander überglücklich in die Arme und freuen sich ebenso. „So ein Wunder, so ein Wunder“. Als keiner bemerkt, dass die Haustüre offen steht, läuft Lara hinaus, blickt zum Himmel und kann sofort zwischen den Wolken ein Leuchten wie aus einem Fenster erkennen. Aus diesem Wolkenfenster blickt ihr direkt Oma mit einem verschmitzten Lächeln entgegen. Hinter Oma steht ein Mann mit einem langen weißen Bart und dreht sich langsam zu Lara um. Lara reibt sich die Augen und als sie wieder zum Himmel blickt, kann sie nur noch einen leuchtenden Stern erkennen, der – das kann doch nicht wahr sein – soeben gezwinkert hat.


Märchenhaftes überall

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