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Cecilia in Bremen, Sabine hungert, Lorena in Spanien

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Samstagmorgen saß Cecilia in ihrem Auto und raste in Richtung Bremen. Damit sie den Tag nutzen konnten, war auch Florian schon um acht losgefahren. Gegen zehn würden sie sich treffen und sich in Bremen ein wenig umsehen, unter anderem wollte Cecilia einen Blick in den Bleikeller werfen.

„Ja, das ist wohl berufsbedingt, was?“, hatte Florian amüsiert zugestimmt. Cecilia war froh, dass er nichts dagegen hatte. Das Thema Tod und seine Manifestation hatte für Cecilia nichts Abschreckendes, weil jeder sich damit früher oder später auseinandersetzen musste. Hagen hatte da immer die Stirn gerunzelt.

„Man muss das Leben feiern, nicht den Tod“, hatte er gesagt. „Das Leben ist zum Genießen da, wie kann man sich so mit dem Tod beschäftigen? Das ist doch schrecklich! Morbide! Regelrecht krank!“ Viele teilten seine Meinung.

Cecilia war froh, dass nicht so viel wie sonst auf der Autobahn los war. Da herrschte ja inzwischen wirklich Krieg, und da sie so oft unterwegs war, um in verschiedenen Städten ihre Lesungen abzuhalten, erlebte sie eine Menge Schreckenszenarien. Wenn es ging, fuhr sie auf der mittleren Spur. Denn links fuhren einem die Raser gnadenlos bis auf die Stoßstange auf, selbst wenn man über hundertfünfzig drauf hatte und gerade nicht rechts rüber konnte, und rechts schossen die Neuankömmlinge von der Beschleunigungsspur - ohne die Vorfahrt zu achten -, einfach in den fließenden Verkehr. Cecilia fragte sich, ob die alle ihren Führerschein bei eBay ersteigert hatten oder meinten, ihre hochtechnischen Vehikel würden von selbst abbremsen oder ausweichen, wenn es brenzlig wurde. Ihr Gehirn stellten diese Autofahrer jedenfalls auf Standby.

Kein Wunder, dass es auf den deutschen Autobahnen so oft krachte.

In Bremen wurde es aber doch recht schön. Das Wetter spielte leider nicht mit, es war kalt und nieselte leicht. Der Marktplatz mit den Stadtmusikanten gefiel Cecilia gut, sie mochte alte Häuser sowieso und bekam die ersten Ideen für eine Gruselgeschichte. Florian machte mehrere Fotos von ihr neben der Statue mit den Stadtmusikanten und spazierte mit ihr zum Dom, wo sie den Bleikeller und die Mumien besichtigten. Cecilia bedachte diese Menschen, die schon so lange tot waren, mit mitfühlenden Blicken. Was für ein Leben hatten sie wohl damals gehabt? Bestimmt ein mühevolles, und meistens auch recht kurz. Nun lagen sie hier und wurden täglich beglotzt. Sie wirkten irgendwie hilflos und rührten Cecilia auf eigentümliche Weise.

„Lässt einen nachdenklich werden, was?“, murmelte Florian hinter ihr. Auch er senkte die Stimme, seit sie hier unten waren.

„Ja. Sehr. Ich würde hier nicht liegen wollen. Dass der menschliche Körper verwest und zu Erde wird, aus der wieder neues Leben wachsen kann, gehört zum Kreislauf des Lebens. Dafür hat man auch die Ruhe unter der Erde. Hier so zu liegen, und sich anstarren lassen zu müssen, ist irgendwie ... na ja ...“

„Respektlos“, nickte Florian.

„Ja, das auch. So wie die Glotzer bei Verkehrsunfällen. Die saugen das Elend anderer in sich auf, die ihnen hilflos ausgeliefert sind. Mit Totenruhe hat das hier nichts zu tun“, wisperte Cecilia zurück. Sie verließen den Keller bald und schlenderten weiter. In einem Bistro aßen sie zu Mittag und verbrachten den Nachmittag größtenteils in einem Café. Der Nieselregen ging ihnen auf die Nerven, und sie wollten ja ohnehin vor allem die Zeit zusammen genießen. Sightseeing war Nebensache.

„Ich kann ja nächstes Wochenende wieder nach Bielefeld kommen. Dann haben wir auch mehr Zeit“, schlug Florian vor, als es auf sechs Uhr zuging. Die beiden wollten noch zusammen essen und gegen halb acht zurück auf die Autobahn. Cecilia war auch schon ganz unruhig. Maja so lange alleine zu lassen ... was, wenn sie gefallen war?

„Ja, das wäre ganz gut. Das Klappbett ist ja wieder frei, du kannst also bis Sonntag bleiben, wenn du magst.“ Cecilias Wangen brannten. Auch Florian errötete. Er hatte sie öfters an sich gezogen und geküsst. Mehr war noch nicht passiert. Aber nächstes Wochenende ... oder war das noch zu früh? Wie lange musste man heutzutage als Frau warten, um nicht als leicht zu haben abgestempelt zu werden? Und wann galt man als eine, die die Knie nicht auseinander bekam? Cecilia kannte sich da überhaupt nicht mehr aus. Das mit Hagen war ja sehr schnell gegangen und sowieso nur sexuell gewesen.

„Ja, das wäre schön. Sonntagnachmittag ist auch die Autobahn frei ohne die Lkw. Da macht das Fahren mehr Spaß“, sagte Florian jetzt und knabberte an dem kleinen Keks, der zu seinem Kaffee gehörte.

„Ja, wochentags ist das ganz schön schlimm auf der Autobahn“, stimmte Cecilia zu. „Was möchtest du denn am Wochenende unternehmen? Viel ist glaube ich nicht los bei uns in Bielefeld, aber wir können ja auch die Umgebung unsicher machen.“

„Ach, das ist sowieso nicht so wichtig. Ich komme ja, um Zeit mit dir zu verbringen und dich näher kennenzulernen. Wir können aucheinfach spazieren gehen. Das tut Majas Rücken doch gut.“

Ach ja, Maja. Wenn Maja noch da war, dann konnte sie nicht mir Florian ... auch wenn sie ein Stockwerk höher schliefen. Irgendwie war der Gedanke, dass da jemand im Haus war, abtörnend.

„Ja. Okay“, stimmte Cecilia zu und nahm sich vor, bis zum nächsten Wochenende dafür zu sorgen, dass sie ihr Haus ganz für sich hatten.

Sie und Florian gingen Hand in Hand noch etwas in den Geschäften stöbern, bis sie auf ein hübsches kleines Restaurant stießen, wo sie Schnitzel aßen, und schon war der schöne Tag wieder vorbei.

Florian brachte sie zu ihrem Auto und nahm sie in die Arme. Wieder küsste er sie, und wieder verglich Cecilia sofort diesen Kuss mit der Art, wie Hagen sie geküsst hatte.

Verdammt, das ist doch egal, schimpfte sie mit sich selbst. Aber auf der Heimfahrt fühlte sie sich elend. Hagens Küsse waren fordernd, leidenschaftlich. Florians zärtlich, vorsichtig und respektvoll. Wie kam es, dass Florians Zärtlichkeit ihr nicht so durch und durch ging wie Hagens wilde und manchmal regelrecht brutale Inbesitznahme ihrer Lippen?

Das ist doch scheiße. Florian ist genau das, was ich brauche. Er tut mir unendlich gut. Wieso kann ich dann nicht aufhören, ihn mit Hagen zu vergleichen? Und wieso kann ich nicht aufhören, Hagen zu vermissen?

Der Gedanke erschreckte sie. Sie hatte sich zuvor nie eingestanden, dass sie Hagen, den Saukerl, vermisste. Aber es war so.

Was vermisse ich denn? Belogen, betrogen und verarscht zu werden? Dass er mich versetzt? Das Heulen? Die Kotzerei? Das Warten, dass er sich mal meldet?

Was konnte man denn an Hagen vermissen?

Den Sex auf jeden Fall. Aber wenn Florian und sie am nächsten Wochenende miteinander schliefen, würde das hoffentlich aufhören. Maja musste da einfach mal aus dem Haus. Sie konnte wieder laufen und brauchte keine ständige Hilfe mehr. Sie musste sich sowieso bald eine neue Wohnung mieten.

Müde bog Cecilia zwei Stunden später in ihre Straße ab und tuckerte langsam bis zu ihrer Einfahrt. Sie stellte den Motor ab, stieg aus, nahm ihre Handtasche und schloss die Hintertür auf. Schon auf der kurzen Treppe zum Wohnzimmer hörte sie Stimmen, dachte sich aber nichts dabei. Wahrscheinlich schaute Maja fern. Lesen mochte sie Cecilias Bücher nämlich nicht, die waren ihr zu schrecklich. Und da Cecilia ihr Buchprojekt über sich und ihre Freundinnen nach ein paar Seiten kopfschüttelnd abgebrochen hatte, gab es nur Horrorbücher, die Maja hätte lesen können.

Als Cecilia die Flurtür öffnete und ihre Jacke und Handtasche an die Garderobe hängte, hörte sie aber Maja mit einer Frau reden, und öffnete neugierig die Wohnzimmertür. War Lorena etwa gekommen? Wollte die heute nicht nach Spanien fliegen?

„Ach, da ist sie ja. Hallo, Brummelchen.“

Cecilia riss die Augen weit auf. Da saß eine alte Frau auf ihrem Sessel. Ein Gehwagen stand daneben.

„Oma?!“, stammelte Cecilia fassungslos. Maja und die Oma lachten.

Sabine wurde langsam verrückt vor Hunger. Zu allem Überfluss hatte sich auch noch Sascha gemeldet und ihr erzählt, dass er heute Abend bei Vera zum Essen eingeladen war und es Gulasch mit Nudeln geben sollte, sein Leibgericht. Auch Sabine schmeckte das, und ihr tropfte der Sabber beinahe auf die Schuhe. Sie konnte ihn schlecht bitten, ihr nichts mehr von geplanten Essenseinladungen zu erzählen. Denn er sollte ja nicht mitbekommen, was sie tat, sondern sich über ihre schlanke Linie freuen, wenn er wieder da war.

Ihr Blut schäumte, als sie auflegte. Dass Sascha bei Vera mit den Kindern aß, machte ihr nichts. Nicht mehr. Aber am nächsten Tag wollte er bei Jana und Dietmar Kaffee trinken und mit ihnen abends ins Restaurant, und Jana und Dietmar mochte Sabine einfach nicht mehr. Bei denen war Sascha nämlich mit Britt untergekommen, als Sabine und Peter die beiden mit ihrem – hoffentlich – schlechten Gewissen in dem dänischen Ferienhaus hatten sitzen lassen und sie irgendwann nach Deutschland zurückgekehrt waren.

Obwohl Jana und Dietmar eher zu Sabines Freundeskreis gehört hatten, meldeten sich die beiden nie mehr bei ihr. Selbst nachdem Sascha Britt den Laufpass gegeben hatte, kam von Jana und Dietmar nichts mehr. Kein Anruf, keine E-Mail.

„Soll ich sie von dir grüßen?“, hatte Sascha auch noch am Ende des Gesprächs gefragt.

„Nein.“ Sabine war selbst erstaunt, dass sie das fertigbrachte. Normalerweise hätte sie „sicher“ gesagt und mit den Zähnen geknirscht.

Sascha war kurz ins Stocken geraten, hatte noch irgendetwas über das Wetter gesagt, und dass er sich in ein paar Tagen wieder melden würde, und dann etwas verstört aufgelegt. Sabine war es egal. Sollte er sich doch eine Ausrede ausdenken oder lügen und Grüße ausrichten, die sie nie über die Lippen gebracht hatte. Lügen konnte er ja gut.

Zitternd legte sie das Telefon weg. Hunger und Appetit quälten sie. Und bis zum nächsten Drink waren es noch fast zwei Stunden.

Um sich abzulenken, ging sie erst mir Wulfi ins Naturschutzgebiet, musste sich aber nach einer halben Stunde in die Heide setzen, weil ihr Kreislauf plötzlich absackte. Jede Anstrengung war ihr zu viel. Sie schleppte sich zum Haus zurück und mixte sich schnell den nächsten Drink zusammen, obwohl es noch immer eine ganze Stunde zu früh dafür war. Mit zitternden Händen und Knien goss sie ihn sich in die Kehle.

Bald ging es ihr besser. Wulfi stupste sie besorgt am Bein und sah sie ratlos an. Sabine entschädigte ihn für den verkürzten Spaziergang mit einem lebensgroßen getrockneten Ochsenziemer.

Wulfi zerrte ihn ins Wohnzimmer und knabberte genüsslich daran herum. Aus Erfahrung wusste Sabine, dass er das elend lange Ding heute um die Hälfte dezimieren würde. Eine stramme Leistung für so einen kleinen Hund.

Wulfi war versorgt. Aber was mache ich jetzt? Irgendwie läuft das falsch. Sabine nahm sich noch einmal die Begleitbroschüre des Pulvers vor und stieß die Luft aus den Lungen: Sie hatte nicht genug getrunken. Sie sollte zu den Drinks über den Tag verteilt mindestens drei Liter Flüssigkeit zu sich nehmen, und das hatte sie irgendwie verschwitzt.

Schnell kochte sie sich eine große Kanne Pfefferminztee und trank eine halbe Flasche Mineralwasser. Das fühlte sich zwar schon besser an, aber ob es tatsächlich genug helfen würde, diese Diät durchzuhalten?

Wenigstens habe ich morgen etwas, auf das ich mich freuen kann, dachte sie. Sie war schon sehr gespannt auf Jaspers Hof.

Etwas besser gelaunt räumte sie den Geschirrspüler aus und putzte die Küche. Endlich gehörte die ihr wieder ganz alleine. Sascha stellte nämlich alles um und meistens fand Sabine nichts mehr wieder. Und Dekogegenstände wie den kleinen Hahn aus Porzellan fand er überflüssig und stellte sie irgendwohin an die Seite, wo man sie nicht mehr sah. So, als ob Sabine dabei nichts zu sagen hatte. So, als ob es nur seine Küche wäre. Sabine holte tief Luft und schob den Gedanken beiseite. Sie wohnten hier nun einmal zusammen, und auf die Macken seines Partners musste man Rücksicht nehmen.

Im Garten gab es ja leider zu dieser Jahreszeit nicht mehr viel zu tun. Sabine hätte die freie Zeit gerne genutzt, um Blumen einzutopfen. Das war ihre Lieblingsbeschäftigung im Frühling. Aber genau da hatte sie wenig Zeit. Und Sascha fand, die Büsche und der Rasen reichten völlig aus. Das war ein gepflegter Garten. Sabine wollte es aber auch gemütlich haben. Schließlich hatte sie klein beigegeben und keine Töpfe mehr auf die Veranda gestellt. Nun sah sie recht kahl aus.

Sie wuselte in ihrem Haus herum und musste sich schließlich eingestehen, dass sie sich nicht vor den Fernseher setzen und den Tag mit hochgelegten Beinen ausklingen lassen wollte, weil normalerweise eine Tafel Schokolade oder ein Schälchen Eis ihr dabei half, abzuschalten. Sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt. Zwar sah Sascha das nicht gern, aber Sabine pflegte zu sagen: „Wer hart arbeitet, darf auch hart essen.“ Meistens schwieg Sascha dann. Nur sein gereiztes Gesicht sprach Bände.

Jetzt konnte sie sogar essen, soviel sie wollte, weil ja kein missbilligender, schlanker Mann mit der Nase dabei saß, und sie machte eine Diät. Schön blöd!

Ihr Magen, den sie jetzt mit Flüssigkeit abfüllte, gab gurgelnde Geräusche von sich und fühlte sich merkwürdig an. Sabine stellte den Tee erst mal beiseite. Sie musste nun ständig auf die Toilette. Nachts musste das nicht auch noch sein. Das Gefühl im Magen wurde nagender. Bald schon würde sie wieder Hunger bekommen. Es stimmte schon, wer schön sein wollte, der musste leiden!

Sie ließ Wulfi in den Garten und setzte sich doch noch vor den Fernseher. Aber obwohl ein spannender Krimi lief, konnte Sabine sich nicht konzentrieren. Ihr Unterbewusstsein funkte Erinnerungen an Schokolade, Zwiebelringe, Brotchips und Fruchtgummis in ihr Bewusstsein. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, und sie wälzte sich unruhig in ihrem Sessel hin und her. Nur ein bisschen Schokolade oder wenigstens ein Käsebrot!

„Gut, dass ich kein Auto hier habe, sonst würde ich runter zum Freja’s fahren und mir ein Schnitzel mit Pommes holen“, brummte sie. Die Gewohnheit, Selbstgespräche zu führen, hatte sich schnell wieder eingestellt. Nicht mehr lange, und sie war wieder genauso verschroben wie damals, ohne Sascha. Und um das zu verhindern, musste sie abnehmen. Ihre Beziehung mit Sascha wurde auf jeden Fall besser, wenn sie körperlich anziehender für ihn war. Dann blieb er auch bei ihr.

„Es ist der erste Tag, das schaffst du! Was sind schon drei Wochen, die vergehen doch im Flug“, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen und kämpfte gegen Bilder von Pommes, riesigen Cheeseburgern und Eisbechern mit Schaum und Marmelade obendrauf.

Erschöpft von ihrem Kampf gegen sich selbst, stellte sie den Fernseher ab und wollte ins Bett gehen. Wulfi war inzwischen wieder hereingekommen und widmete sich seinem Ochsenziemer. Kaum, dass Sabine einen Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt hatte, klingelte das Telefon.

„Hej, meine Süße!“

„Anders! Hej!“

„Na, was treibst du so?“

Sabine ging zu ihrem Sessel zurück und erzählte ihm von Jasper.

„Das klingt doch toll! Bestimmt entwickelt sich da was. Die Funken scheinen ja zu fliegen“, sagte er begeistert.

„Na ja, wer weiß, ob da was draus wird. Er scheint über seine Svende noch nicht hinweg zu sein, und ich bin ja noch mit Sascha zusammen!“

„Das stimmt leider.“

„Leider?“

„Ich bin Sascha gegenüber sehr skeptisch, wie du weißt. Wegen dem wolltest du dich damals umbringen, als wir uns an Bodils Strand trafen, weißt du noch?“

„Ja, na sicher weiß ich das noch.“

„Gut. Manchmal habe ich da nämlich meine Zweifel.“

„Wieso denn das?“

„Weil es mir oft so vorkommt, als ob du ihm alles durchgehen lassen würdest. Außerdem hat er dich damals so übel betrogen. Und trotzdem nimmst du ihn wieder bei dir auf. Dein Körper sagt dir ja ziemlich deutlich, was er davon hält. Wenn ich dich an deine E-Mail erinnern darf.“

„Du meinst, weil ich keine Lust mehr auf Sex habe.“

„Genau.“

„Das kann auch daran liegen, weil ich ihm zu dick bin und mich dann nicht wohl bei der Sache fühle. Aber dagegen ist ein Kraut gewachsen. Ich mache nämlich eine Diät. In drei Wochen bin ich schlank.“ Sie erklärte dem entsetzten Anders die Funktionsweise der Shakes.

„Bist du verrückt?! Du ruinierst dir deine Gesundheit!“

„Ach wo, das haben schon viele mit Erfolg durchgezogen. Klar habe ich Hunger, aber es ist ja auch der erste Tag.“

„Erfolg? Süße, wenn du dich zu dick findest, dann nimm auf langsame Art ab. Zwei Kilo pro Monat sind reichlich. Das wären immerhin vierundzwanzig Kilo in einem Jahr, das ist eine ganze Menge!“

„Schon, aber ich will in den nächsten drei Wochen ...“

„Ah, alles klar. Du willst ausgerechnet dem zuliebe in drei Wochen möglichst viel Gewicht verlieren.“

„Ja!“

„Das ist Quatsch!“

„Kein Quatsch, zehn Kilo sind weg, wenn er wiederkommt.“

„In drei Wochen? Zehn Kilo? Willst du dich umbringen? Schon wieder? Und schon wieder wegen dem?“

„Das geht!“

„Sabine. Du wohnst da ganz allein! Wenn dein Kreislauf schlappmacht deswegen, und du in Ohnmacht fällst, kriegt das außer deinem Hund keiner mit.“

„Mir geht’s gut. Du machst dir zu viele Sorgen!“

„Ich mache mir eher zu wenig Sorgen. Was mich am meisten stört, ist, dass du das wegen Sascha machst. Er ist das doch gar nicht wert!“

Sabine schwieg.

„Jetzt sagst du nichts mehr und bist sauer auf mich. Obwohl du weißt, dass ich recht habe“, beharrte Anders.

„Ja ... aber ... ach ... ich habe doch schon alleine gelebt hier, Anders. Und du weißt, dass das ganz schön hart war!“

„Ah ... da liegt der Hase im Pfeffer, wie man hier so schön sagt. Du liebst ihn ja gar nicht mehr.“

„Doch!“

„Nein. Sonst hättest du etwas anderes gesagt. Wenn nur Einsamkeit der Grund ist, dass er bleiben soll ...“

„Ich will, dass er mich nur einmal so ansieht, wie er Britt angesehen hat“, flüsterte Sabine besiegt ins Telefon. Anders kitzelte immer die bittere Wahrheit aus ihr heraus.

„Wenn er dich nie so angesehen hat, wird er das auch zukünftig nicht tun.“

„Doch, Britt ist schlank und zieht sich toll an“, protestierte Sabine.

„Dann hat er sie vielleicht voller Bewunderung angesehen, aber das war nur Lust. Er hat sie doch ganz schnell fallenlassen. Wie kannst du dich mit einer miesen Schlampe wie Britt vergleichen? Die hat doch einen Charakter wie Attila der Hunne mit PMS!“

Wider Willen musste Sabine lachen, obwohl ihr inzwischen ein paar Tränen über das Gesicht kullerten.

„Charakter ist in einer Beziehung das Wichtigste“, erklärte Anders eindringlich.

„Ja, das stimmt schon. Aber ihr Männer seid Augentiere. Ihr müsst eine Frau auch sexy finden. Hübsch.“

„Na, wenn Frauen vor allem auf den Charakter schauen, wieso gibst du dich dann mit Sascha ab? Der ist doch ein Schönling.“

„Nein, kein Schönling. Er sieht gut aus, ja. Aber wir verstehen uns auch gut, und ...“

„Und ihr habt den gleichen Geschmack bei Büchern und so. Ja. Weiß ich. Betonst du immer wieder. Da frage ich mich aber, ob das ausreicht? Meinst du, du bist die Einzige, die auf Horror Bücher steht? Es gibt jede Menge Kerle, die das tun.“

„Aber ob ich noch einen anderen kriegen könnte ...? Vielleicht bilde ich mir ja auch nur ein, dass Jasper mit mir flirtet“, flüsterte Sabine ins Telefon und wischte sich die Tränen ab.

„Na, da haben wir ja den Kern des Problems. Lass mich mal zusammenfassen: Du bist mit Sascha zusammen, der dich betrogen hat. Du vergleichst dich mit Britt und ziehst dabei optisch den Kürzeren. Du willst nun unbedingt ganz schnell extrem viel abnehmen, damit Sascha dich geil findet und mit hängender Zunge hinter dir her ist, obwohl du sowieso nicht mehr mit ihm ins Bett willst. Aber du denkst, nur so kannst du ihn halten. Und halten willst du ihn, weil du sonst alleine wärst und glaubst, keinen anderen mehr abzukriegen.“

„Wenn du es so sagst, klingt das alles ziemlich bescheuert“, gab Sabine zu.

„Wahrscheinlich deshalb, weil es bescheuert ist!“

„Ich weiß auch nicht ... ich weiß gar nichts mehr.“

„Dann hast du ja jetzt etwas zum Nachdenken.“

„Na, schönen Dank auch“, lachte Sabine, „kurz vorm Schlafengehen rufst du mich an und wirfst mir so einen Brocken vor die Füße!“

„Gern geschehen.“ Sabine konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. „Halte dich lieber an Jasper, wenn du denkst, er flirtet, wird das auch so sein. Was früher nicht gut war für dich, wird nie gut werden. Wenn dieser Jasper nicht mehr mit seiner Frau zusammen ist, dann wird er schon bereit sein für etwas Neues.“

„War Sascha doch damals auch nicht. Er kam zu mir, aber er wollte eigentlich wieder zu Vera zurück.“

„Ich denke nicht, dass man Sascha und Jasper vergleichen kann, Sabine. Das mit Sascha ist damals nichts Halbes und nichts Ganzes gewesen. Der brauchte nur jemanden. Und dass du in ihn verknallt warst, wusste er. Da hat er zugeschlagen.“

„Und wieso ist er dann nicht bei Britt geblieben, sondern kam zu mir?“, rief Sabine wütend.

„Na, das ist doch klar! Britt war für ihn nur Sex. Bei dir hat er sich wohlgefühlt. Aber mehr war es leider nicht, meiner Meinung nach, sonst hätte er dich nicht betrogen. Vielleicht liebt er dich ja jetzt, es klingt so, nachdem was du mir erzählst. Aber ist die Liebe eines solchen Mannes denn irgendetwas wert? Würdest du mir zu so einem Partner raten, wenn es andersherum wäre?“

Sabine schluckte.

„Vermutlich nicht“, gab sie zu, „aber bestimmt würde ich ihn dir ebenso wenig ausreden können wie du mir Sascha. Mensch, Anders ... es kam mir damals vor wie ein Wunder, dass er zu mir kam. Ich hatte mir das so sehr gewünscht! Und dann soll ich ihn jetzt wegstoßen ...“

Anders seufzte und schwieg eine Weile.

„Tu mir einen Gefallen ... nutz die drei Wochen lieber, um Jasper zu erobern, statt möglichst viel Gewicht zu verlieren. Kein Mann ist das wert, was du jetzt tust. Jasper nimmt dich so, wie du bist. Und Sascha müsste das doch wohl auch tun, wieso will er denn sonst was von dir? Wenn du denkst, du bist dem zu dick, dann hat es sowieso keinen Zweck. Dann lass den Quatsch doch bitte sein, okay?“

„Ich ... ich will endlich schlank sein, Anders.“

„Aber für wen? Und warum? Für dich oder eher, weil du auf diese Weise etwas retten willst, das nie eine Chance hatte?“

„Ich muss es einfach versuchen. Mach dir keine Sorgen, bitte.“

„Das werde ich wohl trotzdem tun. Geh ins Bett und bitte überleg dir noch einmal, ob du deinem Körper wirklich so etwas zumuten willst. Ich rufe dich jetzt jeden Abend an, und wehe, du nimmst nicht ab. Ich meine den Hörer!“

Beide lachten kurz und verabschiedeten sich. Nachdenklich ging Sabine in ihr schönes Schlafzimmer und hörte Wulfi unten sein Trockenfutter knurpsen.

Der hat’s gut, dachte sie, der darf fressen, soviel er will.

Sie konnte lange nicht einschlafen.

Lorena sank tiefer in den Sitz und sah vom Fenster zu, wie die letzten Gepäckstücke verladen wurden. Sie war von der Reise zum Flughafen schon müde und freute sich auf ein schönes Hotelzimmer. Sie war nämlich direkt nach dem Ganymed aufgebrochen und hatte kein Auge mehr zubekommen. Zwei Stunden Zugfahrt nach Düsseldorf lagen hinter ihr.

Hoffentlich konnte sie in Spanien ein wenig abschalten. Denn in ihrem Kopf ging es hoch her. Werner schwirrte darin herum. Sie fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde, und warum der Gedanke daran, ihn vielleicht nicht mehr zu sehen, ihr das Herz schwer machte.

Werner war mit ihr gekommen. Sie hatte ihn weiter nach hinten gezogen, an der Spielwiese vorbei. Denn sie war sicher, dass Werner für das erste Mal etwas Privatsphäre brauchte.

Hinten gab es kleinere Zimmer mit einer Art Ampel. Lorena hatte den Knopf für das rote Licht außen betätigt, denn sie wollte mit Werner alleine sein. Grün bedeutete, dass jemand ungefragt mitmischen konnte, gelb Mitmachen auf Nachfrage.

Im Zimmer gab es ein hübsches rundes Bett, eine Packung Kosmetiktücher und eine Großpackung Kondome standen bereit. Ein kleiner Flachbildschirm hing an der Wand und bot Einblick in das, was auf der Spielwiese geschah. Da gab es nämlich Kameras.

Lorena zog Werner behutsam zu sich auf das Bett und begann, seine Brust zu streicheln. Noch zögerte er, dann traute er sich, auch Lorena zu berühren. Seine rauen Hände waren sehr zärtlich. Lorena überraschte es, dass seine kleinen Speckröllchen sie nicht störten. Normalerweise war so etwas für sie ein No-Go. Sie schindete sich schließlich ab, ihren Liebhabern einen schlanken und straffen Traumkörper zu bieten, da erwartete sie etwas Gleichwertiges. Aber mit Werner behutsam Zärtlichkeiten auszutauschen, war viel schöner, als auf der Spielwiese von anderen begrapscht und an den Geschlechtsteilen stimuliert zu werden. Zum ersten Mal seit Rüdiger ließ sich Lorena auf etwas ein, das nichts mit animalischer Lust zu tun hatte, sondern mit dem Begehren eines Menschen, den sie wirklich mochte.

Werners Hände blieben jedoch auf neutralem Gebiet. Er streichelte ihren Rücken, ihr Haar, ihr Gesicht. Aber, wie Lorena amüsiert und etwas genervt zugleich feststellte, ließ er die gefährlichen Bereiche aus.

Sie war es, die ihre Hände auf Wanderschaft gehen ließ und ihm sein Höschen auszog. Er erschauerte, als ihre Lippen sich um sein Geschlecht schlossen. Sie ließ ihre Zunge langsam um sein Glied kreisen und streifte ihm ein Kondom über. Da er noch immer passiv war und sein Gesichtsausdruck zwischen Leidenschaft und Schuldbewusstsein schwankte, setzte sie sich auf ihn. Sie bewegte sich langsam auf ihm. Seine Hände griffen nach ihren Hüften und kneteten sie.

Lorenas Lust mischte sich mit einem Gefühl der Zärtlichkeit. Sie neigte sich vor und küsste ihn. Werner öffnete seine Lippen und ihre Zungen begannen, sich zu umkreisen. Dann hatten sich seine Hände auf ihren Hüften plötzlich versteift, während Werners andere Versteifung auf einmal immer weicher wurde. Seine Hände zwangen Lorena, aufzuhören. Erschrocken sah sie zu ihm herunter.

„Ich ... ich kann das einfach nicht!“ Sein Gesicht sah gequält aus, in seinen Augen lagen Scham und sanfter Vorwurf. Verwirrt stieg Lorena von ihm herunter. Werner zerrte das Kondom herunter, zog sich sein Höschen wieder an, und ging aus dem Zimmer.

Lorena hatte noch eine Weile gebraucht, um sich von diesem Fiasko zu erholen. Dann war sie zurück ins Speisezimmer gegangen. Aber an dem Tisch, an dem sie mit Werner gegessen und geredet hatte, saßen jetzt zwei Pärchen und stärkten sich mit Spießbraten und Kroketten. Werner war nirgends mehr zu sehen.

Bedrückt hatte Lorena sich eine Cola geholt und sich woanders hingesetzt. Ob Werner alleine nach Hause gefahren war? Aber der ließ seine Anja wohl kaum ohne Auto zurück. Waren sie beide nach Hause gefahren? Wie hatte Werner Anja denn von ihren Liebhabern loseisen können?

Viel hatte Lorena nicht mehr vom Ganymed gehabt. Zwar hatte sie sich beinahe trotzig ins Getümmel gestürzt und sich mit drei Männern gleichzeitig vergnügt, war aber nicht ein einziges Mal zum Höhepunkt gekommen, obwohl einer ihrer Partner nicht aufgeben wollte und schließlich einen Krampf in der Hand bekommen hatte.

Dann war sie nach Hause gefahren, hatte geduscht, ein Taxi bestellt und war zum Bahnhof gefahren.

Nun saß sie endlich im Flugzeug und wollte nur noch hier weg. Eine SMS an die Eltern – anrufen wollte sie die natürlich nicht – hatte sie abgeschickt und ihr Handy dann einfach ausgeschaltet. Sie hatte nicht vor, es während ihrer Urlaubswoche wieder einzuschalten. Sollte man sie dringend erreichen müssen, hatte Cecilia die Nummer des Hotels.

Auf dem Flug entspannte sich Lorena nur wenig. Flugangst hatte sie zwar nicht, aber sie gehörte nicht zu den Leuten, die beim Dröhnen des Flugzeugs schlafen konnten. Sie döste etwas und fühlte sich bei der Landung noch müder als vorher. Der Transfer zum Hotel klappte zum Glück reibungslos. Irgendwelche Schwierigkeiten und verpasste Busse hätte sie in ihrem Zustand nicht ertragen.

Endlich schien Lorena mal die Sonne ins Gesicht und tauchte den Ort in ein strahlendes Licht. Die Strandpromenade gefiel ihr auf Anhieb. Viele Touristen schlenderten darauf umher. Auch die Geschäfte sahen so aus, als ob das Stöbern in ihnen viel Spaß machen würde.

Palmen, dachte Lorena, endlich Palmen, Sonne und Strand.

Das Hotel sah genauso ansprechend aus wie auf den Fotos. Das Personal war freundlich und sprach gut Deutsch. Lorena hatte eines der Zimmer mit Meerblick. Die Balkontür stand etwas offen und eine leichte Brise bauschte die Vorhänge. Es war überraschend ruhig, aber am Pool war ja auch niemand. Kein Kindergekreisch, kein Plätschern. Also konnte sie die Balkontür ruhig etwas offen lassen.

So ist das eben, wenn man nicht in der Hauptsaison kommt, dachte sie erfreut. Im Pool oder Meer zu baden, erschien ihr auf einmal nicht mehr so wichtig. Hauptsache etwas Abstand und ein wenig Ausspannen. Sie spürte auf einmal, wie erschöpft sie war. Nicht nur physisch.

Ihre Kosmetiktasche hängte sie ins Bad und stellte den Koffer erst einmal beiseite. Dann zog sie sich aus und legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis sie tief und fest schlief.


Kurschatten und Gänseblümchen

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