Читать книгу Kurschatten und Gänseblümchen - Sonja Reineke - Страница 5

Cecilias Oma, Hühnerjagd, Kurverordnung

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Maja schleppte sich langsam zurück zu Cecilias Haus. Der erste Termin bei der Physiotherapie war sehr interessant gewesen. Die Therapeutin hatte ihr Übungen gezeigt, die den Rücken entlasteten und die Muskulatur stärkten. Allzu anstrengend war es nicht gewesen, aber der Weg hin und nun wieder zurück war recht lang. Nun merkte man erst einmal, wie abgeschieden Cecilia eigentlich lebte.

Natürlich hatte Cecilia sie fahren wollen, aber Maja hatte freundlich abgelehnt. Sie musste ja wieder auf eigenen Füßen stehen lernen, und Cecilia machte sowieso schon viel zu viel für sie. Und nun war auch noch die Oma da.

Cecilia hatte ganz schön dumm aus der Wäsche geschaut. Aber was hätte Maja denn machen sollen? Als es klingelte, hatte sie es erst ignoriert. Sie wohnte ja nicht wirklich in diesem Haus. Aber die Klingel wurde wieder gedrückt. Dann noch einmal. Also hatte sich Maja so von der Couch gewälzt, wie es der Orthopädie ihr gezeigt hatte, und war zur Tür gegangen.

Eine alte Dame hatte sie mit misstrauischen Blicken durchbohrt. Ihr Rollator stand unten an der Treppe und sie stützte sich mit einer Hand am Geländer ab.

„Wohnt hier nicht Cecilia Jacobs?“

„Äh, ja, sie ist nur im Augenblick nicht da.“

„Und wer sind Sie?“

„Maja. Eine Freundin.“

„Kenne ich nicht. Habe ich noch nie gehört, den Namen.“

Etwas ratlos hatte Maja die resolute Dame angestarrt. Und, was hieß das nun? Dass Maja schnellstens verschwinden sollte, weil sie dem Drachen nicht bekannt war?

„Lassen Sie mich jetzt rein, oder soll ich hier auf der Treppe das Zeitliche segnen?“, unterbrach die Ältere Majas verwirrte Gedankengänge.

„Wer sind Sie denn?“, hauchte sie eingeschüchtert.

„Ich bin Cecilias Oma Heidi.“

„Oh ... ach so ...“ Mit gemischten Gefühlen hatte Maja sie hereingelassen. Ob das wohl stimmte? Cecilia hatte merkwürdige Fans und Geld. Und Maja hatte noch nie etwas von einer Oma Heidi gehört. Cecilia hatte nur einmal erwähnt, dass ihre Mutter auf Mallorca lebte. Aber von einer Oma hatte sie nichts gesagt.

„Meinen Rollator könnten Sie mir noch reinholen“, verlangte die Oma mit einem gestrengen Blick.

„Das ... das geht gerade nicht. Ich habe einen Bandscheibenvorfall. Akut“, stammelte Maja.

„Ach, das ist doch harmlos. Letzten Monat haben die mich geröntgt und dabei festgestellt, dass ich drei Bandscheibenvorfälle hatte. Habe ich nie was von gemerkt.“

„Nun, also, ich habe da eine Menge von gemerkt!“ Langsam wurde es Maja zu bunt. „Ich habe gerade erst eine Spritze ins Rückgrat bekommen und mein Orthopäde sagt, ich soll mich nicht bücken und nichts Schweres heben.“

„Das Ding ist ganz leicht. Dafür hat es auch entsprechend viel gekostet. Wird Sie schon nicht umbringen, einer alten Dame einen Gefallen zu tun“, beharrte die Oma.

Maja schluckte, ging die Treppe herunter, und hob den Rollator an. Er wog tatsächlich nicht viel, war aber sperrig. Sie ging automatisch ins Hohlkreuz, was sie nicht durfte, aber sie bekam sonst die Räder ans Bein. Mühsam keuchte Maja mit dem Ding die paar Stufen hoch und stellte es vor der Oma ab. Die nahm die Griffe in die Hände, drehte den Rollator zu sich und ging leicht hinkend den Flur entlang.

„Gern geschehen“, knurrte Maja. Ihr Rücken schmerzte. Dabei hatte sie heute noch keine einzige Tablette nehmen müssen.

„Oh, wie schön Cecilia das alles renoviert hat.“ Die Oma strich anerkennend über die Tapeten und das weiße Holzpaneel. Im Wohnzimmer staunte sie noch mehr.

„Wie hübsch! Richtig gemütlich!“ Sie setzte sich in den großen Sessel. „Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“

Maja reichte es jetzt. Sicher, man bot Besuch Kaffee an, aber sie kam sich langsam vor wie ein Dienstmädchen!

„Ja, finde ich auch.“ Sie legte sich demonstrativ auf die Couch und nahm eine Tablette aus der Packung mit den Schmerzmitteln, die auf dem Tisch bereitlag.

Die Oma beäugte Maja sorgfältig mit grimmiger Miene. Auf einmal lächelte sie.

„Sie dürfen mich Heidi nennen.“ Dann zog sie sich am Griff ihres Rollators in die Höhe und schlurfte in die Küche. Maja hörte sie dort verzückte Laute von sich geben, als sie mit der Kaffeemaschine herumfuhrwerkte. Kein Wunder. Die Küche war wirklich ein Hingucker. Maja staunte jedes Mal, wenn sie sie betrat.

Bald darauf kam Heidi mit zwei Tassen Kaffee, die sie auf der Sitzfläche des Rollators transportierte, ins Wohnzimmer zurück. Sie reichte eine davon Maja und ließ sich wieder in den Sessel plumpsen.

Maja und die Oma hatten sich erstaunlicherweise gut unterhalten. Sie war, wie Maja nun fand, schwer in Ordnung. Sogar über Männer hatten sie geredet. Oliver und Pelle, über den Maja nun wirklich nicht mit jedem sprach, fanden keine Gnade vor ihren Augen.

„Männer werden nach ein paar Jahren schrecklich bequem. Mein Wilfried auch. Immer muss man hinter ihnen herputzen und die Blumen, die man am Anfang kriegt, bekommt man dann nur noch, wenn sie etwas ausgefressen haben.“

„Oder zum Geburtstag“, warf Maja ein.

„Irgendwann nicht einmal mehr das. Einmal bekam ich an unserem Hochzeitstag ein neues Bügeleisen. Da war ich sämtliche Illusionen auf einen Schlag los.“ Grimmig schlürfte Oma Heidi ihren Kaffee.

„Und Typen wie diesen Pelle kenne ich auch. Der Mann von unserer Nachbarin war auch so einer. Der griff unter jeden Rock! Mein Wilfried zum Glück nicht. Der hatte zeitweise nur einen Rock, dem er Blumen mitbrachte. Die kriegte jedenfalls kein Bügeleisen.“

„Was, Ihr Mann auch?“

„Glauben Sie vielleicht, dass nur, weil unsere Generation sich nicht scheiden ließ, das nie vorgekommen wäre? Ha! Man ist zwar zusammengeblieben, aber die Männer haben sich trotzdem ihren Spaß gegönnt! Mein Wilfried hat sich auf größeren Feiern ausgetobt. Wenn der Alkoholpegel stieg und Nachbars Else albern kicherte, dann griff der Wilfried auch mal zu! Aber das war mehr Gefummel. So richtig betrogen hat er mich erst mit einer Krankenschwester. Das war keine schöne Zeit. So hatte sein Arbeitsunfall für ihn auch erfreuliche Seiten.“

„Schlimm!“

„Nun ja, es kam eben in den besten Familien vor. Schon meine Mutter hat mich damals seelisch darauf vorbereitet. ‚Heidi’, sagte sie, ‚jetzt bist du jung und ihr seid verliebt. Aber irgendwann wird die eigene Frau den Männern zu langweilig und sie suchen sich ihre Kurzweil woanders. Da muss man drüberstehen.’ Ich habe ihr das natürlich nicht geglaubt. Mein Wilfried! Der mir so wunderschöne Liebesbriefe schrieb! Aber sie hatte recht.“

Maja war erschüttert. „Aber Oliver hat mich nie betrogen“, warf sie ein.

„Aber er war einer von denen, die nur noch auf der Couch sitzen, oder?“

„Hm, ja.“

„Das sind die, die sogar zum Fremdgehen zu bequem sind.“

„Oh.“

„Jaja. Hab‘ ich alles gesehen. Man wird nicht so alt, ohne dass man viel mitkriegt vom Leben.“

„Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“

„Zweiundachtzig“, erklärte die Oma stolz, „hab‘ meinen Wilfried am Ende doch noch geschlagen. Dachte schon, ich müsste ihn totschießen.“

„Oh. Ähm ...“

Die Oma winkte grinsend ab. „Ist nur Spaß. Natürlich vermisst man jemanden, mit dem man so lange verheiratet war. Man verliert nur alle Illusionen, was die Ehe betrifft. Zum Schluss war es eine Art ... nun ja, Freundschaft.“

Maja beschloss, nie mehr zu heiraten und sagte das auch.

„Wenn du schlau bist. Ich darf doch du sagen? Gut. Ja, wenn du schlau bist, bleibst du alleine. Heutzutage geht das ja auch, aber zu meiner Zeit galt man als alte Jungfer, die keinen Kerl abkriegt, wenn man nicht geheiratet hat. Da war man so ziemlich abgestempelt. Aber ihr jungen Dinger könnt jeden Job erlernen und für euch leben, keiner guckt euch scheel an. Wenn ich noch einmal jung wäre, also ich würde meinen Spaß haben! Nix mehr mit Schiethintern abwischen und Bremsspuren aus Unterhosen waschen!“

Maja grinste. So jung war sie ja auch nicht mehr. Aber recht hat die Oma, dachte sie. Ich bleibe auch lieber allein.

So waren die Stunden verstrichen und als Cecilia hereinkam, hatte die ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt. Brummelchen hatte Oma Heidi sie genannt. Diesen Kosenamen kannte Maja noch gar nicht. Sie fand die Oma inzwischen klasse, aber Cecilias Lächeln sah doch noch recht gekünstelt aus. Dass ihr Opa verstorben war, hatte sie mit einem traurigen Nicken quittiert. „Mit dem war sowieso nicht mehr viel los“, hatte die Oma abgewunken und Cecilias Vorräte bemängelt. „So eine riesige Vorratskammer und nichts, was zusammenpassen würde! Wovon ernährst du dich denn bloß?“ Ihre Augen wanderten an der zierlichen Figur ihrer Enkelin herunter. „Du bist viel zu dünn! Kein Wunder. Wie ich schon zu Maja sagte, ihr könnt heutzutage leben, wie ihr wollt. Aber kochen könnt ihr alle nicht!“

Cecilia lächelte gequält.

„Doch, ich kann schon kochen. Ich bin nicht zu dünn. Es sind doch noch Eier in der Speisekammer. Rührei ist doch okay zum Abendessen.“

„Nur Rührei? Nichts dazu? Also, ein Sonntagsessen ist das aber nicht!“

„Heute ist doch auch Samstag!“

„Ja, aber morgen ist Sonntag. Einen Sonntagsbraten habe ich aber nirgendwo gesehen!“

„Sonntags gibt es auch keinen Braten. Wieso auch? Nur weil Sonntag ist? Wir essen ganz normal. Ob Sonntag, Montag oder Mittwoch.“

„Ich zaubere uns schon was“, hatte die Oma geseufzt und sich in die Speisekammer gequetscht. Lautstark hatte sie Cecilias Qualitäten als Hausfrau bemängelt, Dosen aus Regalen geräumt, als „so’n Scheiß“ bezeichnet, und dann neu einsortiert.

Cecilia, die noch nicht einmal Zeit gefunden hatte, ihre Schuhe auszuziehen, hatte Maja verzweifelt angesehen. Die Nacht hatte die Oma auf dem Klappbett verbracht. Maja wusste, sie brauchte jetzt noch dringender eine neue Wohnung als zuvor.

Sie war froh, dass sie zur Physiotherapie musste. So kam sie wenigstens aus dem Haus, in dem nun die Oma regierte.

Cecilia sah Maja hinterher, als sie am Montag den langen Fußweg zur Physiotherapie antrat. Samstag und Sonntag hatte Oma Heidi notgedrungen auf dem Klappbett im Kino schlafen müssen, was ihr nicht zugesagt hatte. Jetzt endlich war Cecilia mit ihrer Großmutter für eine Stunde allein, und diese Zeit würde sie auch nutzen. Sie ließ die Gardine fallen, als Maja am Ende der Straße angelangt war, und auch ihre Maske ließ Cecilia fallen.

„So, jetzt sagst du mir bitte, wieso du hier bist.“

Die Oma seufzte wieder und setzte sich in Cecilias Fernsehsessel.

„Also, dein Opa hat uns verlassen. Und ohne uns groß was zu hinterlassen. Ich kann mir das Leben allein in unserer Wohnung nicht mehr leisten.“

„Wann war denn die Beerdigung? Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?“

„Beerdigungen sind deprimierend. Ich wollte niemanden dabeihaben.“

Cecilia nickte. Das passte zu ihrer Oma. Ihr plötzliches Auftauchen jedoch nicht.

„Wo sind denn deine Möbel?“

„Das meiste ist auf dem Sperrmüll gelandet. War sowieso nur noch Kram. Herr Menzing sagte, wenn ich innerhalb einer Woche ausziehe, muss ich für den kommenden Monat keine Miete mehr zahlen.“

„Wie hast du das denn geschafft?“

„Herr Menzigs Sohn und ein paar seiner Freunde haben mir geholfen. War im Interesse seines Vaters, dass die Wohnung so schnell wie möglich leer wird. Er will da dringend renovieren und dann neue Mieter rein, Leute mit Geld. Deshalb bin ich jetzt hier.“

„Du hast ja nicht mal einen Koffer dabei!“

„Den konnte ich ja auch nicht schleppen! Ich habe in der Tüte da unten im Korb vom Rollator etwas Wäsche. Und ein Paket mit Kleidung, Schuhen, Fotoalben und Rezeptbüchern habe ich an deine Adresse geschickt. Müsste bald ankommen. Mehr habe ich nicht.“

„Und was sagt Mama dazu?“ Sonst hatte sich Cecilias Mutter von Mallorca aus um ihre Mutter gekümmert.

„Was soll sie dazu sagen?“

„Na ja, hat sie dir nicht ein schönes Altenheim rausgesucht oder so etwas?“

Die Oma fuhr empört zu Cecilia herum. „Altenheim! Wieso denn das? Ich bin doch noch rüstig genug! Ich lege mich doch nicht ins Bett und warte, bis ich sterbe!“

„Davon sagt ja auch keiner was“, knurrte Cecilia. „Es gibt auch Heime für aktive Senioren!“

„Nein. Auf keinen Fall.“

„Und was dann?“

„Ich bleibe erst einmal hier.“

Cecilia schwante Fürchterliches.

„Hier? Aber ich habe gar keinen Platz!“

„So ein großes Haus und kein Platz? Da lachen ja die Hühner!“

„Sieh dich um! Das Kino oben ist meine einzige Übernachtungsmöglichkeit, bis auf die Wohnzimmercouch. Aber auf der schläft momentan Maja. Ein Gästezimmer habe ich nicht. Nur einen Kellerraum könnte ich noch abgeben. Möchtest du im Keller wohnen?“

„Was ist mit deinem Zimmer mit den roten Wänden und diesem ekligen Skelett?“

Aha. Umgesehen hatte sich die Oma also schon.

„Mein Arbeitszimmer? Da schreibe ich!“

„Das kannst du doch auch woanders. Im Keller, zum Beispiel. Du magst es doch düster.“

„So schlecht, wie du Treppen steigen kannst, willst du im Arbeitszimmer oder im Kino wohnen? Die Treppe ins Obergeschoss ist zweimal so lang wie die runter in den Keller.“

„Dann muss ich also im Keller schlafen?“

„Du musst nicht, du kannst.“

„Lässt sich das den heizen?“

„Der Keller ist eigentlich immer schön warm. Der Heizkessel ist gleich neben dem Raum, den ich meine. Aber ich kann dir auch einen Heizlüfter besorgen.“ Der Gedanke an die nächste Stromrechnung ließ Cecilia schaudern.

„Na gut. Dann zeig mir den Raum mal.“ Die Oma erhob sich und schob ihren Rollator in den Flur, wo sie ihn am Fuß der Treppe stehenließ. Cecilia folgte ihr seufzend. Die kleine Treppe in den Keller schaffte Oma Heidi recht gut. Es dauerte nur sehr lange.

„Hier ist es aber nicht sehr warm. Alles gefliest! Da kommt doch keine Wärme an!“

„Hier nicht. Komm.“ Cecilia führte ihre Oma um eine Ecke. Neben der schweren eisernen Brandschutztür gab es eine hölzerne mit einem Oberlicht. Cecilia öffnete sie. Der Raum dahinter diente ihr derzeit nur als Aufbewahrungsort für ein paar kälteempfindliche Topfpflanzen. Die sollten hier den Winter überstehen, aber die konnten ja auch woanders einen Platz finden.

„Hm ... nicht schlecht. Aber auch gefliest. Das wirkt so kalt.“ Die Oma klopfte kritisch gegen die Wand. „Aber warm ist es schon, verglichen mit dem restlichen Keller. Groß genug zum Schlafen ist er auch, der Raum. Aber nur eine Übergangslösung. Auf Dauer müssen wir uns was einfallen lassen.“

Auf Dauer? Wollte die Oma etwa endgültig ihren Einzug halten? Cecilia überlief es kalt.

„Ich mache dir den Raum schon gemütlich“, erklärte sie schwach. „Dann musst du nur Maja die Tür aufmachen, wenn sie wiederkommt. Ich gehe derweil ein paar Sachen kaufen.“

„Kein Problem.“ Die Oma schnaufte die Treppe wieder hoch, und Cecilia zog sich Jacke und Schuhe an. Sie schnappte sich ihre Handtasche und entfloh.

Im Baumarkt zog ihr verzweifelter Gesichtsausdruck einen freundlichen Verkäufer an, dem Cecilia ihr Leid klagte.

„Ich kann doch keine Tapete über die Fliesen kleben!“

„Das geht zwar, aber es sieht schrecklich aus. Wie groß ist denn der Raum?“ Den hatte Cecilia noch schnell vermessen.

„Da haben Sie Glück. Kommen Sie doch mal mit und sehen sich schon einmal Teppichböden an. In der Zwischenzeit suche ich Ihnen ein paar Sachen zusammen.“ Der Verkäufer eilte davon.

Cecilia stellte sich vor die großen Teppichrollen. Eine Weile brütete sie vor sich hin, da kam schon der Verkäufer zurück. Er schob einen Wagen vor sich her, auf dem ein Stück hellgrüner, fest verschnürter Teppich lag.

„Also, eigentlich hatte ich an den Grauen da gedacht“, erklärte Cecilia und wies auf die Rolle mit dem hellgrauen und unempfindlich aussehenden Bodenbelag.

„Den können Sie auch gern haben. Den hier hatte ich auch nicht für den Boden gedacht, sondern um die Fliesen abzudecken.“ Er legte mehrere Rollen doppelseitiges Klebeband in den Wagen.

„An die Wände?“, fragte Cecilia verdattert.

„Ist eine perfekte Lösung. Es sei denn, Sie wollen den Raum doch auf Dauer als Wohnraum nutzen. Dann müssten Sie entweder die Fliesen abschlagen oder mit Paneel abdecken.“

„Nein, das möchte ich nicht. Da haben Sie schon recht. Aber wieso hellgrün?“

„Das ist ein Restposten, den ich Ihnen zu einem Sonderpreis überlassen kann. Außerdem ist dieses Grün freundlich und verdunkelt den Raum nicht zu sehr. Ein Kellerfenster ist ja auch nicht gerade sehr groß und lässt nur wenig Licht herein.“

„Und mit dem Klebeband hält das auch?“

„Wenn Sie genug davon nehmen, ja. Lässt sich dann auch wieder entfernen. Wenn Sie ihn ankleben ...“

„Nein, nur das nicht.“

„Dann fahren Sie mit dem Klebeband am besten.“

„Na gut. Wenn Sie mir dann noch von dem Grauen was abschneiden würden ...“

„Natürlich, gerne. Was brauchen Sie sonst noch?“

„Tja, ein Bett. Aber da muss ich wohl in ein Möbelhaus.“

„Ja. Aber ich kenne mich auch etwas aus. Meine Frau hat ihre Mutter bei uns zu Hause gepflegt. Das Bett darf nicht zu niedrig sein. Am besten wäre ein elektronisch verstellbares Pflegebett. Die haben heutzutage auch nicht mehr diesen Krankenhaus-Charakter. Meistens sehen sie sehr heimelig aus. Wenn Sie aber so lange nicht warten können, würde ich Ihnen raten, ein normales Bett auf ein paar robuste Holzblöcke zu stellen. Ihre Großmutter müsste dann nur beim Aufbau dabei sein und die richtige Höhe bestimmen.“

„Ah, das ist eine gute Idee!“

„Sie brauchen bestimmt auch noch eine Lampe.“

„Nein, an der Decke hängt eine.“

„Ja, aber der Schalter ist wahrscheinlich neben der Tür? Und wenn Ihre Oma nachts aufstehen muss, dann tappt sie erst buchstäblich im Dunkeln.“

„Ach so! Ja, das stimmt natürlich!“

„Es gibt jetzt Deckenleuchten mit Fernbedienung.“

„Oh, dann bringen Sie mich da bitte mal hin!“

Florian würde ihr die sicher anschließen!

Cecilia kaufte und kaufte. Der Wagen wurde immer voller, ihre Augen immer größer und ihr Bankkonto immer schmaler. Sogar ein kleiner Kellerraum verschlang Unsummen, wenn man ihn behaglich machen wollte.

Sie kaufte noch einen kleinen Tisch mit einem Stuhl und einen Flachbildfernseher, den sie an die Wand hängen wollte. Zum Glück lief der Versorgungsschacht durch diesen Raum, es war also kein Problem, dort eine Antennenbuchse anzubringen.

Den Fernseher erstand sie im Supermarkt um die Ecke und kaufte dort noch den verlangten Braten für den nächsten Sonntag, Gebissreiniger und Kartoffeln.

Abgehetzt und müde steuerte Cecilia ihren Wagen zurück zu ihrem Haus. Sie hasste es, mit offenem Kofferraum fahren zu müssen. Aber wegen der hohen Benzinpreise hatte sie ihren Jeep nach einer Weile wieder verkauft und sich einen Kleinwagen zugelegt. Dafür ragten die beiden Teppichrollen jetzt weit nach hinten heraus. Den Kofferraumdeckel hatte sie, so gut es ging, festgebunden und zwei rote Fähnchen an die Teppiche gehängt.

Es kostete sie einige Mühe, die Dinger in den Keller zu bugsieren. Die Oma und auch Maja konnten ihr ja nicht helfen, also blieb alles an ihr hängen. Den Teppich an den Wänden anzubringen, war ebenfalls nicht leicht. Auf dem Boden lag er schon. Hier und da war er zwar etwas unregelmäßig geraten, aber es würde schon gehen. Aber an den Wänden Teppich anzukleben, war eine mörderische Strapaze. Die beiden Teppichmesser, die ihr der Verkäufer noch aufgeschwatzt hatte, waren eine große Hilfe, trotzdem schwitzte Cecilia und brauchte mehrere Stunden dafür, die Wände mit dem Teppich zu verkleiden. Am Ende sah es doch recht hübsch aus, auch wenn der Ausschnitt um das Fenster herum alles andere als gerade ausgefallen war. Aber da konnte man mit einer starken Schere noch etwas ausbessern. So, fand Cecilia, ging es schon ganz gut. Das Zimmer sah jetzt nicht mehr wie ein kahler, kalter Kellerraum aus. Auch die Wärme hielt sich durch die Teppiche besser. Ein Heizstrahler würde gar nicht nötig sein.

Ein kleines Bücherregal für Krimskrams hatte sie auch noch gekauft, war aber zum Aufbauen zu müde. Das hatte morgen noch Zeit. Das bestellte Bett würde in den nächsten Tagen kommen, bis dahin musste es das Klappbett tun. Das schleppte Cecilia noch runter und richtete es mit Decke und Kissen her. Den ganzen Tag hatte diese Aktion gedauert. Und Cecilia hatte nicht ein einziges Wort getippt. Nun, dann eben morgen. Sie stellte noch einen Radiowecker mit Leuchtziffern auf den Stuhl, in Sichtweite des Bettes. Dann durfte die Oma schauen kommen.

„Das ist aber wirklich hübsch geworden, für so wenig Zeit“, lobte die. „Der Fernseher ist auch für mich?“ Cecilia nickte.

„Kommt an die Wand, Oma.“

„Schön, sehr schön. Was ist mit Licht?“

„Bis nächsten Samstag musst du dir mit einer Taschenlampe behelfen. Florian wird dir die Deckenlampe mit Fernbedienung anbringen, die ich gekauft habe.“

„Schön, sehr schön. Dann komm mal zum Essen. Ich habe aus den Kartoffeln Bratkartoffeln gemacht, das passt gut zum Rührei.“

„So was Schweres“, seufzte Cecilia entsetzt. Sie aß abends nur wenig.

„Schwer, papperlapapp. Das ist eine richtige Mahlzeit.“ Die Oma wies sie an, den Tisch zu decken. Dann lud sie ihrer Enkelin eine Riesenportion Bratkartoffeln und Eier auf den Teller, gab der dicklichen Maja nach einem kritischen Blick nur die Hälfte, und nahm sich dann selbst.

Cecilia aß, bis sie fast platzte, nahm eine Dusche und baute dann doch noch mit ihrem Akkuschrauber bewaffnet das Bücherregal auf, das sie in die Ecke neben das Bett schob. Dann half sie ihrer Oma, sich bettfertig zu machen.

„Gebissreiniger hättest du nicht kaufen müssen, so einen Mist brauche ich nicht“, erklärte die. Dann musste Cecilia ihr die Stützstrümpfe von den Beinen zerren und helfen, das Korsett abzulegen, das der Oma den Rücken stützte.

In ein langes Nachthemd gehüllt, lag sie endlich im Klappbett und Cecilia konnte Feierabend machen. Sie wünschte der Oma eine gute Nacht und stellte ihr noch die Taschenlampe in das Bücherregal.

Sabines Nacht war ziemlich hart gewesen. Immer wieder war sie wach geworden. Mal hatte sie grübelnd im Bett gelegen wegen der Dinge, die Anders ihr knallhart gesagt hatte, mal war sie vom Grollen ihres verärgerten Magens geweckt worden.

Froh, dass sie ihren ersten Drink zu sich nehmen konnte, wälzte sie sich aus dem Bett und rannte förmlich die Treppen herunter. Wulfi sah neugierig zu, wie sie das Zeug in sich hineinschüttete.

„Du solltest mir in den nächsten Tagen nicht zu nahe kommen, mein Kleiner. Sonst übergieße ich dich mit Ketchup und fresse dich auf“, seufzte Sabine. War wirklich erst der zweite Tag?

„Komm, wir gehen Gassi.“ Wenigstens fühlte sich ihr Kreislauf heute stabiler an als gestern. Es lag wohl doch am Flüssigkeitsmangel, dass er gestern abgestürzt war. Der Körper musste sich erst an die Nahrungsumstellung gewöhnen. Bestimmt ging ihr heute alles leichter von der Hand. Bald würde auch der Magen nicht mehr knurren!

Sabine ging mit Wulfi in das Naturschutzgebiet und nahm danach eine heiße Dusche. Lange fuhrwerkte sie mit einer Bürste und dem Föhn herum und zerrte an ihren Haaren, um sie möglichst vorteilhaft hinzubekommen. Leider war ihr Gesicht noch ebenso dick wie gestern. Sie fand, dass die Kurzhaarfrisur, die sie noch vor einem Jahr getragen hatte, ihr Gesicht noch runder hatte wirken lassen. Damals war es ihr egal gewesen, aber nun war Sascha ja wieder da.

Wieder benutzte Sabine Make-up und fühlte sich albern damit. Den Lippenstift wischte sie gleich wieder ab. Es sah einfach verkehrt aus. So wurde aus ihr natürlich keine zweite Britt, aber bei ihr, Sabine, sah es irgendwie aus wie bei einem Clown. Bei Britt hingegen hatte es - natürlich - deren Perfektion betont.

„Vielleicht muss ich einfach mal einen Stylisten oder Typberater aufsuchen, wenn ich abgenommen habe“, meinte sie zu Wulfi gewandt, der die Tür aufgestupst hatte und ihr gefolgt war. Er genoss es, dass sein Frauchen jetzt so viel Zeit mit ihm verbrachte. Sonst war Sabine ja jeden Tag im Laden.

„Zu einer Kosmetikerin muss ich dann auch“, seufzte Sabine und rieb an ihren Fältchen herum. Bestimmt gab es da jetzt neue Techniken und Tinkturen, die sie noch gar nicht kannte.

Gegen elf bereitete Sabine sich den nächsten Drink zu. Zwar schmeckte das Zeug ja nicht direkt schlecht, aber es wurde ihr langsam zuwider. Ihr Magen verlangte nach echtem Essen, und beim Gedanken an ein richtiges Frühstück mit Toast, Marmelade, Weißbrot, Kaffee und einem gekochten Ei lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

„Jetzt habe ich den schönen Wintergarten mit dem Esstisch darin, und ich esse nichts mehr.“ Wulfi kam in die Küche getappt und schob seinen leeren Napf durch die Gegend. Als Sabine nicht sofort reagierte, sondern weiter so langsam wie möglich ihren Drink schlürfte, warf er ihn in seiner Ungeduld um.

„Schon gut! Du kriegst ja was! Meine Güte!“ Sabine nahm den Napf und füllte Trockenfutter aus der fest verschlossenen Plastiktonne herein. Der Versuchung, ein paar Brocken zu probieren, widerstand sie nur mit Mühe. So weit war es also schon mit ihr gekommen ...!

Sie war froh, als es endlich zehn vor eins war und sie zu Jasper herübergehen konnte.

„Nein, du bleibst hier!“ Wulfi mitzunehmen auf einen Hühnerhof, würde bestimmt die freundschaftliche Beziehung zwischen Sabine und Jasper auf einen Schlag zerstören. Ein Hühnerhof ohne Hühner war ja auch keiner mehr.

Gehorsam trottete Wulfi zu seinem Kissen und ließ sich beleidigt darauf nieder.

Sabines Laune besserte sich mit jedem Meter, den sie sich Jaspers Hof näherte. Als sie in die Einfahrt trat, staunte sie nicht schlecht. Das Dach war neu gedeckt, das sah man an den frischen Büscheln Reet. Das war noch ganz hell. Die Fassade brauchte einen neuen Anstrich und sah, verglichen mit dem neuen Dach, noch dunkler und verwitterter aus. Aber trotzdem machte der Hof einen freundlichen und ordentlichen Eindruck. Das Pflaster war gefegt und Gerätschaften beiseite geräumt. Und der Stall sah wirklich ganz neu aus.

Direkt neben dem Stall hatte Jasper hohe Drahtzäune aufgestellt. Das war wohl der Auslauf, der von den Hühnern gern angenommen wurde. Groß war er, fast wie ein Fußballfeld. Die Hühner hatten viel Platz, scharrten und gackerten zufrieden vor sich hin.

Weiter hinten parkte ein Fahrzeug. Nicht das von Jasper, es schien sich um den Wagen des Fotografen zu handeln. Scheinbar war Sabine etwas spät dran.

Sie klingelte an der Haustür, aber es machte niemand auf. Ratlos sah sie sich um. Da öffnete sich die Stalltür, und Jasper kam mit dem Fotografen, einem drahtigen Mann Mitte dreißig, heraus.

„Ach, hej!“, rief Jasper erfreut. Er trug Arbeitskleidung, aber sie war ganz sauber. Wahrscheinlich neu gekauft.

Der Fotograf lächelte und nickte Sabine zu. Die Männer kamen zu ihr herüber.

„Ich habe Lars gerade von deinen Ideen erzählt. Ist dir noch etwas eingefallen?“

„Nein, aber die Kulisse hier ist doch schön! Du und so ein paar Hühner, das macht sich bestimmt gut“, lächelte Sabine und spürte eine Nervosität in sich aufsteigen, die sie bei Jasper noch nie empfunden hatte.

„Hühner? Eigentlich wollten wir mich nur vor dem Stall fotografieren. Mit ein paar Eiern in den Händen. Ohne Hühner“, erwiderte Jasper.

„Ich finde, mit Hühnern würde es sich besser machen“, nickte Lars, der Fotograf.

Sabine lächelte. „Mir ist da gerade eine Idee gekommen. Als besonderen Gag könnte man das Foto später vielleicht so nachbearbeiten, dass deine Hühnchen bewundernd zu dir aufschauen. Oder noch besser: sie glücklich aussehen lassen. Ihnen ein fettes Grinsen ins Gesicht zaubern. Das sieht lustig aus. Wenn man beim Betrachten eines Bildes selbst lächeln muss, ist man eher gewillt, das Produkt, für das es wirbt, zu kaufen“, erklärte Sabine.

Jasper und Lars sahen sich an und nickten.

„Also, das klingt für mich nach einer guten Idee. Zwar nicht direkt realistisch ...“ Jasper strich sich nachdenklich über das Kinn.

„Werbung ist nicht realistisch, und die Kunden wissen das auch“, gab Lars zu bedenken. „Ich finde die Idee sehr gut!“

„Genau“, nickte Sabine. „Den Leuten ist klar, dass sie dazu gebracht werden sollen, etwas zu kaufen. Sie wissen, dass der Aufsteller nur dazu dient, und selbst wenn das Foto gut ist, gehen die meisten trotzdem sofort weiter. Wenn man ihnen etwas Lustiges zeigt, bleiben sie wahrscheinlich erst einmal verdutzt stehen, sehen noch einmal hin, lachen, und lesen dann den Slogan von den Eiern ohne Reue. Wenn Lars das Bild am Computer so bearbeitet, hast du auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Kunden. Und darum geht es ja letztendlich!“

„Die Lacher hast du dann jedenfalls auf deiner Seite, Jasper“, drängte nun auch der Fotograf. Jasper dachte eine Weile nach, dann grinste er.

„Na gut, versuchen wir’s! Ich hole dann mal ein paar von meinen eierlegenden Damen. Einen Augenblick.“ Er öffnete die Stalltür und verschwand. Hysterisches Gegacker ertönte. Die Jagd hatte wohl begonnen.

Lars und Sabine kicherten.

„Du hast von Werbung scheinbar recht viel Ahnung“, sagte Lars und wandte sich zu Sabine um. Die hob verlegen die Schultern.

„Na ja, du hast ja die Fotos von meinem Laden gemacht damals, als ich anfing, Werbung dafür zu machen. Von daher habe ich etwas Erfahrung damit.“

„Wir, also die Ladenbesitzer von Tristø und ich, wollen mehr Werbung für die Insel machen. Da könnten wir noch einen kreativen Kopf wie deinen gebrauchen. Die Ferienhausvermittler wollen auch mit einsteigen. Wenn du da ein paar Ideen hast, nur raus damit“, ermunterte Jasper sie.

„Also, ich habe mir da schon vor einiger Zeit etwas ausgedacht“, sagte Sabine zögernd.

„Ja ...? Na, dann raus damit!“

„Nun, man könnte eine Art Schnitzeljagd veranstalten. Im Internet leichte Fragen veröffentlichen, und die Feriengäste können mit der Antwort in den betreffenden Laden gehen und einen kleinen Preis gewinnen. Oder man könnte wie bei einer richtigen Schnitzeljagd kleine Schatzkisten auf der Insel verstecken. Jedes Geschäft stiftet etwas. Und die Ferienhausanbieter könnten als Gewinn Rabatte auf bestimmte Häuser gewähren.“ Sabine spürte, wie verlegene Röte in ihr Gesicht stieg. Auch wenn ihr Geschäft und der Bildband mit den Gedichten in den letzten Jahren ihr Selbstbewusstsein beträchtlich gestärkt hatten, hatte sie trotzdem noch etwas Probleme in dieser Richtung.

Das Lächeln auf Lars’ Gesicht vertiefte sich.

„Für mich klingt das schon sehr ausbaufähig. Die Grundidee ist super, den Rest kriegen wir alle zusammen sicher auch noch hin.“

Die Stalltür ging auf und Jasper winkte sie heran.

„Die Viecher entwischen mir ständig. Wir müssen die Fotos wohl im Auslauf machen“, rief er entnervt.

Lars eilte zu ihm, und Sabine lief schnell hinterher.

„Ach, das machen wir schon“, beruhigte Lars den schwitzenden Hühnerbauern, „ich mache einfach ein paar Fotos nur von den Hühnern und montiere die später vor deine Füße. Das Foto von dir müssen wir jedenfalls vor deinem Hof machen, der ist als Hintergrund ideal.“

„Die Hühner wären draußen mit Sicherheit sowieso weggelaufen“, stimmte Sabine ihm zu. „die halten doch nicht still!“

„Doch, schon. Wenn ich sie erschrecke, fallen sie bewusstlos um“, grinste Jasper schnaufend. „Aber das wollen wir ja nicht. Mir ist das anfangs mal passiert, ich wäre vor Schreck fast selbst mit umgefallen.“

„Bewusstlose Hühner mit in den Himmel gestreckten Krallen kommen bei den Kunden bestimmt nicht gut an“, lachte Lars und zwängte sich durch die Stalltür. Sabine folgte ihm und stellte erstaunt fest, wie hell es drinnen war. Aber das lag an dem Oberlicht im Dach. Jasper folgte ihrem Blick und erklärte, dass er seine Hühner am liebsten in einer natürlichen Umgebung hielt. Also auch mit Tageslicht.

Dunkle Ecken gab es auch, dort befanden sich die vielen Nester. Lange Stangen waren ebenfalls vorhanden. Auch die Tränken mit frischem Wasser waren groß und sauber. Die Hühner sahen gesund und wohlgenährt aus. Sie pickten auch nicht aneinander herum, denn man sah kein zerfleddertes Federkleid.

„Glückliche Hühnchen“, meinte auch Lars, der zur Freifläche vorgegangen war. Sabine stiefelte hinterher und musste ihm recht geben. Das Areal war sehr groß und noch dreimal unterteilt. Jasper folgte ihrem Blick.

„Die Flächen müssen sich vom Scharren erholen. Deswegen dürfen die Hühner immer nur in ein Areal, und wenn sie das Gras dort gefressen oder weggescharrt haben, kommen sie in das nächste“, erklärte er.

„Sie haben in jedem Areal viel Platz“, lächelte Sabine erfreut.

„Das will ich meinen. Legebatterien finde ich erbärmlich und ganz schrecklich. Hier, im aufgeweichten Boden, picken meine Damen nach Würmern und Larven. Trotzdem muss ich noch zufüttern, natürlich.“

Lars hatte sich schon auf den Boden gelegt und ein paar Hühner abgelichtet. Sogar den Hahn, einen stolzen dreijährigen Gesellen, der seine Hennen gut im Griff hatte, hatte Lars erwischt.

„Der wird sich toll machen auf dem Bild. Den und zwei bis drei Hühner, alle grinsend und lebensfroh. Das müsste reichen.“ Stöhnend erhob sich Lars und wischte sich Hühnerdreck von der Jacke.

„Jetzt hast du es leichter, du musst ja nur noch Jasper fotografieren. Und der rennt dir nicht gackernd davon“, tröstete Sabine. „Oder doch?“

„Heute nicht. In den neuen Gummistiefeln kann ich nicht rennen.“ Jasper führte seine Gäste aus dem Stall. Sabine atmete auf. Da drinnen war es ganz schön laut. Sie bekam schon Kopfschmerzen davon. Auch ihr Magen fühlte sich recht flau an.

Lars machte Fotos von Jasper, der in beiden Händen Eier hielt. „Stell dich mal dort herüber, zwischen Haus und Stall. Damit ich beides aufs Bild kriege“, rief Lars und knipste.

„Augenblick, ich habe da noch eine Idee.“ Sabine bückte sich, hob etwas auf, und ging zu Jasper herüber, der sich nicht mehr rühren durfte, weil er die perfekte Haltung eingenommen hatte.

Sabine trat ganz nah an ihn heran, reckte sich etwas und steckte ihm eine Hühnerfeder ins Haar. Lars lachte zustimmend.

Jasper sah Sabine tief in die Augen. Einen Moment standen sie sich so nah gegenüber, dass ein Schürzen ihrer Lippen ausgereicht hätte, um sich zu küssen.

„Ich ... ich dachte, das macht sich bestimmt gut“, stammelte Sabine und errötete wieder heftigst.

„Bestimmt“, murmelte Jasper und errötete seinerseits, wenn auch nicht ganz so tief.

Sabine trat unsicher einen Schritt zurück, schluckte schwer, und nahm ihren Platz hinter Lars wieder ein. Ihr Herz schlug so sehr, dass sie sicher war, dass die beiden Männer es hören mussten.

„Ich denke, ich habe alles“, erklang die Stimme von Lars durch das Rauschen in Sabines Ohren. Sie bekam kaum mit, was die beiden Männer noch besprachen. Dann schüttelte ihr jemand die Hand. Nur langsam kam sie wieder zu sich. Das Rauschen blieb jedoch. Auch der kalte Schweiß, der ihr ausgebrochen war, strömte weiter. Sabine zitterte wie Espenlaub. Ihre fahle Gesichtsfarbe ließ Jasper alarmiert näher kommen.

„Sabine! Was ist denn?!“, rief er bestürzt.

„Ich weiß nicht ... ich habe so einen Hunger ...“

„Blutzuckersturz. Ich habe es ja befürchtet. Diese blödsinnige Diät!“

Ehe Sabine sich versah, hatte Jasper sie untergefasst und in sein Haus geschleift. Dort schob er ihr ein Stück Traubenzucker in den Mund und schenkte ihr ein Glas Kakao ein.

„Trinken“, befahl er knapp und machte sich an seinem Kühlschrank zu schaffen.

Sabine zerkaute den Traubenzucker und griff nach dem Glas mit dem Kakao. Fast hätte sie es fallenlassen. Sie stürzte den Inhalt schnell herunter. Schade, dachte sie, dass er ihr nicht etwas anderes hingestellt hatte. Der Kakao schmeckte fast wie einer von ihren Drinks. Und die konnten ihr langsam gestohlen bleiben!

Jasper stellte eine Packung Kekse vor sie hin und kochte Kaffee. Dann holte er Tassen, Untertassen, Kuchenteller und zwei Gabeln aus den Schränken. Und dann stellte er ein Tablett auf den Tisch, das Sabines Augen sofort groß und rund werden ließ.

Ein großes Papptablett mit Kuchen, alle möglichen Sorten. Mit Marzipan, Creme, Schokolade, Aprikosen- Himbeer- oder Erdbeerfüllung, mit Sahne, ohne Sahne, Schokoladenstreuseln ...

„Das ist das Schönste, was ich je im Leben gesehen habe“, flüsterte Sabine. Das Zittern verging bereits.

„Dann greif zu!“ Jasper zog sich ein Stück mit Himbeercremefüllung auf den Teller. Sabine zögerte.

„Aber ... aber meine Diät! Ich habe doch so gut durchgehalten ...“

„Durchgehalten? So ein Blutzuckersturz ist keine Bagatelle! Was wäre denn gewesen, wenn dir das alleine in deinem Haus passiert wäre?“

„Es liegt nur daran, dass ich nicht genug getrunken habe. Deshalb ...“

„Quatsch! Dein Körper reagiert auf diese Gewaltkur so. Du kannst nicht gleich vom fünften Gang in den ersten schalten, das macht das Getriebe nicht mit. Du hättest vorher von Woche zu Woche weniger essen müssen. Aber so? Unmöglich. Das hält keiner aus. Und jetzt iss.“

Sabine dachte an Sascha. Sie sah sein kritisches Gesicht vor sich, seinen genervten Blick. Was würde er wohl zu dieser Kuchenplatte sagen? Die Lippen zusammenpressen und sich mit einem eiskalten Gesichtsausdruck von ihr abwenden würde er. Sich Frauen wir Britt zuwenden.

Sabine sah Jasper an. In seinem Gesicht stand nur freundliche Besorgnis. Er hatte gesagt, sie müsse gar nicht abnehmen. Sein Blick war vorsichtig und abschätzend. Was war Sabine wichtiger, fragten Jaspers Augen, die Anerkennung ihres abwesenden Partners oder seine? Der sie so mochte, wie sie war?

Sabine ergriff die Gabel und zerrte sich das Stück mit Marzipan und Schokoladencremefüllung auf den Teller. Jasper lächelte erfreut.

Noch zitterten ihre Hände etwas, aber Sabine schaffte es, die Gabel zum Mund zu führen. Oh, was war das für ein herrliches Gefühl! Die süße Creme verteilte sich in ihrem Mund, und das Marzipan war frisch und weich. So etwas Leckeres hatte sie noch nie gegessen.

Der Kuchen verschwand mit rasender Geschwindigkeit. Schuldbewusst sah Sabine auf ihren Teller. Jasper goss ihr etwas Kaffee ein.

„Na los, nimm dir ruhig noch ein Stück!“

„Noch eins? Das hier war ja schon total verkehrt!“

„Verkehrt ist nur deine Denkweise. Langsames Abnehmen ist ja in Ordnung, aber solche Hungerkuren richten nur Schaden an.“

„Wenn man Kuchen isst, nimm man aber gar nicht ab, weder langsam noch schnell.“ Sabine entmachtete ihr eigenes Argument, indem sie sich das nächste Stück auf den Teller legte. Jasper grinste.

„Hör sofort auf, so zu feixen!“

Jasper grinste von Ohr zu Ohr.

„Hey!“

„Mit vollem Mund spricht man nicht“, gluckste Jasper hämisch.

Sabine hielt sich die Hand vor den vollen Mund und lachte.

Die beiden tranken über eine Stunde Kaffee und leerten das Tablett bis auf ein einsames Stück mit Quark und Aprikosen. Pappsatt lehnte Sabine sich zurück. Auch Jasper schnaufte.

„Das arbeite ich alles beim Parkettverlegen wieder ab“, stöhnte er.

„Und ich? Mein Laden ist so weit fertig, bis auf das mit den Figuren. Wie soll ich das abarbeiten?“

„Du kannst mir ja helfen. Nicht unbedingt beim Parkettverlegen, aber beim Tapezieren. Und ich helfe dir beim Umstellen der Figuren.“

„Das klingt gut! Wo willst du denn tapezieren?“

Er grinste wieder. „Überall. Jetzt hast du dich bereiterklärt, mir zu helfen, ohne zu wissen, wie viel Arbeit ich dir abverlangen werde. Hähä.“

„Bist du gemein! Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich dich in deinen Hühnerstall jagen!“

„Damit die vor Schreck wieder umfallen?“

„Ja, und du gleich mit ihnen! Und dann rufe ich Lars an, damit er das fotografiert. Dann steht im Supermarkt ein Aufsteller mit dir und deinen Hühnern, wie ihr alle die Füße in die Höhe streckt und der Aufschrift: ‚Auf Madsens Hühnerfarm sind wir alle ganz entspannt.’“

Jasper lachte. „Deinen Humor mag ich ganz besonders! Kannst du aufstehen? Dann zeige ich dir die Räume, die ich noch renovieren muss.“

„Hoffentlich reicht da die Zeit, in der mein Laden geschlossen ist. Wenn er wieder offen ist, stehe ich von morgens bis abends hinter der Ladentheke“, sorgte sich Sabine.

„Tapezieren geht schnell, da kommt überall nur Raufaser dran. Außerdem würde ich nicht wollen, dass du deine ganze Zeit damit vertust. Ich weiß ja, dass du noch Kleider nähen, basteln und neue Figuren entwerfen willst“, erklärte er ernst.

„Aber helfen will ich dir trotzdem, darauf bestehe ich. Du hilfst mir ja auch so viel. Ich weiß kaum, wie ich dir danken soll“, erwiderte Sabine.

„Ich wüsste da was. Du kochst uns abends was Schönes. Dann habe ich wenigstens die Gewissheit, dass du etwas isst.“

„Das mache ich sehr gern, aber da muss ich vorher noch einmal einkaufen“, gestand Sabine errötend.

„Das machen wir gleich. Jetzt zeige ich dir erst einmal das Haus, dann füttere ich meine Ladys, und danach fahren wir schnell zum Supermarkt. Einverstanden?“

„Ja, aber ... dann musst du mir ja schon wieder aushelfen.“ Sabine errötete.

„Ach, das macht doch nichts! Ich ... ich bin gern mit dir zusammen.“ Als hätte er schon zu viel gesagt, sprang er auf und öffnete eine Tür.

„Das ist mein Lieblingsraum“, erklärte er hastig. Sabine, die wieder einmal errötet war, stand auf und schnaufte zu ihm herüber. Der Kuchen lag ihr schwer im Magen.

„Oh ...“ Sabine blieb der Mund offen stehen. Jaspers Haus war recht altmodisch eingerichtet, vor allem die Küche. Da fehlte die weibliche Hand. Zwar war alles sauber, aber vor allem provisorisch. Das hatte sie auf den ersten Blick gesehen. Dieser Raum aber war mit viel Liebe eingerichtet worden.

Es war eine Bibliothek. Ein langer, nicht allzu breiter Raum, der zur Hofeinfahrt herausging. Bücherregale reichten bis an die Decke. Der ganze Raum war weiß gestrichen, die Regale bestanden jedoch aus altem, dunklem Holz. Sie standen voll mit Büchern. Es mussten Hunderte sein.

Am Fenster stand eine urgemütlich aussehende Couch, daneben ein Beistelltisch in Buchform, den sich Sabine sofort selbst für ihr Haus wünschte. Eine Tasse war noch darauf abgestellt. Und, wie sie erfreut feststellte, ihr Gedichtband lag neben der Tasse. Offenbar las Jasper eifrig darin.

Die hohen Fenster ließen sehr viel Licht herein. Die Wand neben der Tür, die einzige, an der kein Bücherregal stand, war mit einander überlappenden Buchseiten tapeziert.

„Der Raum ist ja wunderschön!“, rief Sabine aus. Jasper lächelte.

„Danke. Hier fühle ich mich auch sehr wohl.“

„Ja, das sieht man. Wie liebevoll du das gestaltet hast, unglaublich.“ Sie fuhr mit der Hand vorsichtig über die Buchseiten an der Wand.

„Das ist aus einem Buch, das ich erst reparieren wollte. Aber dann fand ich es günstig und in gutem Zustand auf einem Flohmarkt und dachte, dann nutze ich die zerfledderte Ausgabe eben anders.“

„Eine ganz tolle Idee.“ Sabine hatte dergleichen schon einmal im Internet gesehen, hatte aber nicht das Herz, es ihm zu sagen.

„So, möchtest du die anderen Räume noch sehen?“ Er führte sie durch einen schmalen Gang zu einer weiteren Holztür. Dass die Türen frisch geschliffen und geölt waren, sah man sofort.

Hinter der nächsten lag das mittelgroße Bad mit recht hässlichen bräunlichen Fliesen, wie sie sie selbst einmal in ihrem Haus gehabt hatte. Sie grinste. Aber sauber war das Bad, alles blitzte und blinkte. Eine alte Badewanne stand vor dem kleinen Fenster, daneben die Waschmaschine. Alles sehr junggesellenhaft, fand Sabine. Den Schlauch der Waschmaschine hatte Jasper einfach mit einem Kabelbinder an ein freiliegendes Rohr gebunden. Nicht schön, aber praktisch.

Auch auf das kleine Regal, das neben dem Waschbecken an der Wand hing, traf dies zu. Es war aus weißlackiertem Holz und gerade groß genug für Jaspers Rasierzeug und sein Duschgel.

„Schön“, murmelte Sabine, aber Jasper grinste wieder einmal. Er hatte sie durchschaut.

Der nächste Raum machte Sabine verlegen: Es war das Schlafzimmer. Ein schweres Doppelbett nahm fast den ganzen Raum ein. Beide Matratzen waren mit Laken bedeckt, aber es gab nur ein Kopfkissen und eine Decke. Sabines Laune hob sich. Also schlief hier nur Jasper. Dass seine Frau am Wochenende neben ihm lag, schien nicht der Fall zu sein!

„Hier möchte ich tapezieren und neues Parkett verlegen, oder vielleicht Laminat. Wie du siehst, ist der alte Bodenbelag völlig zerkratzt.“

„Ja“, stimmte Sabine zu, „der hat es wirklich hinter sich. Wann willst du damit denn anfangen?“

„Möglichst bald, dieses Wochenende vielleicht schon. Das Bett und den Kleiderschrank kann ich später noch abbauen und auf der Couch in der Bibliothek schlafen. Laminat verlegen mache ich lieber allein.“

„Und das alte entfernen? Dabei kann ich dir doch helfen.“

Zweifelnd schüttelte Jasper den Kopf.

„Na, ich weiß nicht. Das wollte ich mit einem Bohrhammer mit Meißel erledigen. Das ist für zarte Frauenhände eigentlich nicht so das Richtige. So ein Bohrhammer ist ziemlich schwer.“

„Ich würde es trotzdem gern versuchen. Ich habe ja zuerst auch handwerklich einiges selbst machen müssen.“

„Na gut, dann fahren wir gleich einkaufen, ich schmeiße dich bei deinem Haus aus dem Auto, komme zurück und nehme Bett und Schrank auseinander. Abends schlage ich mir bei dir den Bauch voll. Und morgen früh meißeln wir das Parkett raus. Nachmittags hast du dann wieder frei, das Verlegen mache ich selbst. Aber beim Aussuchen könntest du mir helfen, wenn du magst. Wir könnten gegen Mittag rüberfahren nach Madsenby. Du hilfst mir beim Aussuchen, und dafür lade ich dich dann zum Essen ein. Und zeige dir danach das Antiquariat, das ich zufällig entdeckt habe.«

„Klingt super! “, freute sich Sabine.

Maja starrte ungläubig auf das Schreiben der Rentenversicherung. Ihr Herz hatte schon gehämmert, als sie den Brief aus Cecilias sargförmigem Briefkasten gezerrt hatte. Wie sie es hasste, Post von Ämtern zu bekommen!

Cecilia, die das Laub im Vorgarten zusammenharkte, warf sofort den Rechen beiseite.

»Was ist los, was wollen die denn?«

»Die ... die ... die wollen mich zur Kur schicken!«

Cecilia überflog das Schreiben.

»Ach so ... aber das ist doch nicht schlimm!«

»Doch, ich will aber nicht in so eine Psychoklinik!«

»Was heißt Psychoklinik. Nur, weil die sich auf Depressionen und Burnout spezialisieren, heißt das doch nicht, dass ...«

»Ich war in so einer Klinik. Die haben Oliver doch damals noch in so was gesteckt. Den ganzen Tag saßen die im Aufenthaltsraum und langweilten sich. Ab und zu wurde einer zur Arbeitstherapie abgeholt oder zu einem Gespräch. Dann gab es Essen. Vor Langeweile haben die sich nur angezickt. Ich fand es da ganz furchtbar. Und als Oliver mit mir einen Spaziergang machen wollte, musste er sich abmelden und genau sagen, wann er wiederkam. Das war ein besseres Gefängnis.«

Tränen liefen Maja über das Gesicht.

Ratlos sah Cecilia auf den Schrieb. Die Klinik war in Bad Oeynhausen, das war wenigstens nicht weit weg. Sie kämpfte mit sich. Die Aussicht, wenigstens einen ihrer Dauergäste los zu sein, war ziemlich verlockend. Aber wenn es wirklich so schrecklich war in der Klinik?

Die Oma bog mit ihrem Rollator um die Ecke.

»Was habt ihr denn? Schlechte Nachrichten?«

»Die Rentenversicherung will Maja zur Kur schicken.«

»Ja, Reha vor Rente, heißt es bei denen. War eigentlich klar. Aber wieso weinst du denn? Eine Kur ist doch was Herrliches!«

»Nein!«, rief Maja schluchzend und rannte davon. Laufen konnte sie wieder wie ein junges Rehlein seit der Spritze. Aber es ging ihr nicht gut. Sie regte sich wegen jeder Kleinigkeit auf, weinte viel und gestern hatte sie mit fast nacktem Oberkörper auf der Couch ferngesehen. Es wäre ihr so heiß, erklärte sie der peinlich berührten Cecilia. »Ich habe solche Hitzewallungen«, klagte sie ständig.

Und jetzt wurde sie auch noch zickig.

»Ist die immer so?«, fragte nun auch noch die Oma.

»Nein, eigentlich nicht. Erst seit ein paar Tagen. Nun kann sie wieder laufen, aber dafür ist sie ganz merkwürdig drauf.«

»Seit sie wieder laufen kann, ist sie so? Vielleicht hat sie Angst, dass du sie bald rauswirfst?« Die Oma schien davor jedenfalls keine Angst zu haben. Aber die gehörte ja auch zur Familie. Familie wurde man nur schwer wieder los.

»Sie sucht ja selbst nach einer Wohnung. Aber jetzt wird das Amt wahrscheinlich sagen, dass es keinen Zweck hat, weil sie zur Kur geht. Die wollen sicher keine Miete zahlen, wenn die Wohnung Wochen leersteht. Also wird sie wohl oder übel hierbleiben müssen.« Cecilia unterdrückte einen Seufzer. Bestimmt gab es rechtliche Möglichkeiten, eine neue Wohnung durchzusetzen, aber dafür fehlte ihr die Energie. Sie kam zu nichts mehr.

Sie wusste auch, warum.

»Du musst die Büsche noch schneiden, das macht man jetzt im Herbst.« Die Oma ließ nicht locker. Im Haus war es ihr nicht sauber genug. Und vor zwei Tagen war ein großes Paket mit ihren persönlichen Sachen gekommen. Es war zwar vor allem nur Kleidung, aber wo sollte Cecilia die unterbringen? Nun stand im Heizungskeller ein Kleiderschrank. In Omas »Kellerverlies« war dafür kein Platz mehr gewesen.

Jeden Morgen um sieben musste Cecilia in das »Verlies« hinabsteigen und ihrer Oma beim Anziehen helfen. Die Stützstrümpfe waren dabei das Schlimmste. Die waren so eng, dass Cecilia sie nur Millimeter für Millimeter in die Höhe zerren konnte und ihre Oma des Öfteren versehentlich kniff. Sie war danach immer ganz erschöpft und zittrig von den »Aua!« Rufen. Die Oma konnte dabei nur wenig helfen. Steckte Oma Heidi dann endlich in den Strümpfen, musste noch das Korsett angelegt und festgezurrt werden. Die Oma war kein Leichtgewicht und Cecilia schwor sich, im Alter nicht durch Übergewicht so unbeweglich zu werden und sich einen kaputten Rücken einzuhandeln. Sie sah ja bei Maja, wie das war.

Ohne das Korsett litt Oma Heidi sehr unter Rückenschmerzen, aber sie nahm auch mit Korsett noch ab und zu starke Schmerztabletten ein. Teilweise dieselben, die Maja jetzt schluckte.

Gegen acht gab es dann Frühstück. Normalerweise war das Frühstück für Cecilia die »Belohnung« dafür, dass sie schon zwei bis drei Seiten geschrieben hatte, aber daran war nicht mehr zu denken. Wenn der Garten und das Haus in Ordnung waren, würde Oma Heidi hoffentlich nicht mehr meckern, und Cecilia hatte wieder mehr Zeit.

Sie machte also das Frühstück, kochte ihrer Oma ihren Malzkaffee und hörte sich an, was sie an diesem Tag noch alles zu tun hatte.

»Es liegen Wollmäuse in den Ecken. Du musst auch einkaufen. Du hast ja keine Margarine mehr.«

»Ich bevorzuge Butter, Oma.«

»Viel zu fett! Ich muss auf mein Cholesterin achten!«

»Ja, Oma.«

»Bei deinen Tomaten musst du die Triebe ausgeizen, wenn du da etwas Anständiges ernten willst. Da solltest du nächstes Jahr dran denken. Die kaputten Blumen müssen auch langsam raus. Und dein Rasen ... der viele Löwenzahn! Den musst du rausstechen!«

»Ja, Oma!«

»Stell doch einen Gärtner ein!«

»Gärtner?«

»Ja, du hast doch von solchen Sachen keine Ahnung!«

»Ich habe eben kaum Zeit, um mich hier um alles zu kümmern. Aber gleich einen Gärtner einstellen ...«

»Zeit? Natürlich hast du Zeit!«

»Ich habe noch einiges zu schreiben, Oma!«

»Na und? Da kannst du dir die Zeit doch frei einteilen!«

»Nein, so leicht ist das nicht. Der Verlag hat mit einen Zeitrahmen gegeben.«

»Na, dann sollen die das Buch eben etwas später rausbringen!«

»Das ist alles nicht so einfach! Es gibt ein Verlagsprogramm. Bücher kommen für gewöhnlich im Frühjahr und im Herbst heraus. Wenn ich etwas schreiben soll, dann beantragen die einen Titelschutz, damit sie schon für das Buch werben können, bevor es erschienen ist. Aber der Titelschutz gilt nur für sechs Monate. Wenn in der Zeit nichts veröffentlicht wird, verfällt er wieder, und irgendwer könnte sich dann den Titel einfach schnappen!«

»Na ja. Das kriegst du schon hin.«

Wie Cecilia das hinbekommen sollte, wusste sie nicht. Die liebe Oma ließ ihr keine Zeit zum Schreiben. Cecilia bemühte sich, die vielen bemängelten Dinge zu richten und hoffte dann auf etwas mehr Freizeit. Immerhin war der Kellerraum nun fertig, auch wenn er der Oma nur teilweise gefiel.

»Den hast du ja schön und gemütlich eingerichtet, aber es ist und bleibt ein Kellerverlies.«

Nun, Cecilia konnte es nicht ändern. Wenigstens gab es da unten eine Dusche, gleich neben der Sauna. Der bestellte Duschhocker kam wahrscheinlich schon morgen.

»Ich grabe schon einmal die alten Blumen aus«, unterbrach die Oma Cecilias trübe Gedanken.

»Das kannst du doch nicht, mit deinem Rücken!«, protestierte die.

»Die müssen aber langsam mal raus, die sehen ja furchtbar aus! Was sollen denn die Nachbarn denken!«

»Die sehen durch die Hecke nichts, aber wenn es sie stört, sollen sie halt woandershin gucken!«, Cecilia wurde langsam sauer.

»Man muss sein Haus und seinen Garten ordentlich halten!«

»Du lässt gefälligst die Finger von den Blumen, verstanden?

»Mir wird aber ganz anders, wenn ich mir das angucken muss!«

Die Oma gewann. Nachdem Cecilia das Laub entsorgt hatte, grub sie die verblühten Blumen aus und warf sie auf den Kompost.

Schon war Zeit fürs Mittagessen. Zwar kochte die Oma das meistens für alle, aber sie benötigte Küchenhilfen. Maja und Cecilia schälten Kartoffeln, enthülsten Erbsen und putzten Gemüse. Dann hatte Cecilia endlich eine halbe Stunde frei. Kaum hatte sie in ihrem Arbeitszimmer den Computer hochgefahren und ihr Schreibprogramm geöffnet, kam von unten empörtes Geschrei.

»Du hast ja gar keinen Soßenbinder!«

»Dann mach doch eine Mehlschwitze, wie früher«, brüllte Cecilia entnervt zurück.

»Mehl hast du auch keins!«, konterte die Oma. Schritte kamen die Treppe hoch. Cecilia lehnte sich resigniert in ihrem Schreibtischstuhl zurück, als die Tür geöffnet wurde. Es war aber nicht die zeternde Oma, sondern nur Maja.

»Lass mal, ich hole den Soßenbinder.«

»Aber doch nicht zu Fuß! Sonst bist du erst morgen zum Abendessen wieder da«, protestierte Cecilia.

»Ich soll mit deinem Auto fahren?«, zweifelte Maja. Cecilia hob verwirrt die Schultern.

»Ja, wieso denn nicht? Du hast doch einen Führerschein und bist früher immer mit dem Auto gefahren!«

»Ja, aber das ist schon so lange her ...« Maja wirkte ängstlich.

Cecilia starrte sie einen Moment lang an. Dann fuhr sie den Computer wieder herunter, stand auf, ging an Maja vorbei die Treppe wieder herunter, und zog sich ihre Schuhe an.

Ohne Maja oder die Oma, die aus der Küche gerollert kam, anzusehen, raste Cecilia aus dem Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

Kurschatten und Gänseblümchen

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