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Zombies auf Speed, Rudi ist sauer, Cecilia schenkt ein

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Lorena erwachte zu den Klängen eines Akkordeons. Verwirrt hob sie den Kopf und brauchte erst einmal mehrere Sekunden, bis sie wusste, wo sie war. Erleichterung überkam sie. Spanien, sie war in Spanien! Nicht mehr im tristen Deutschland, wo die vielen Probleme und die Sorgen um Jacqueline sie niederdrückten.

Langsam setzte sie sich auf und stöhnte. Tagsüber schlafen war tödlich. Ihr Kopf schmerzte und ihr Gehirn weigerte sich, sein Betriebssystem hochzufahren.

Lorena tappte zum Balkon herüber und trat vorsichtig nach draußen. Es dämmerte bereits. Hoffentlich hatte sie das Abendbrot nicht verpasst, denn sie verhungerte beinahe. Tief sog sie die frische Luft in ihre Lungen. Hinter den Bahngleisen hörte sie das Meer rauschen. Palmen schaukelten sanft im Wind. Ihre Lebensgeister erwachten.

Schnell huschte sie ins Bad und nahm eine Dusche. Unangenehm berührt stellte sie fest, dass das Wasser stark gechlort war. Der Geruch stieg ihr sofort in die Nase. Hoffentlich griff es ihr Haar nicht an, denn seit sie es wachsen ließ, war es sehr viel anfälliger für Spliss und musste ständig gepflegt werden.

Lorena trocknete sich ab, cremte sich sorgfältig ein, parfümierte sich und zog sich ein kurzes geblümtes Kleid an. Dann noch das Make-up, das so viele kleine Alterungserscheinungen verbarg, Handtasche, Zimmerschlüssel und ab in den Fahrstuhl.

Es gab noch etwas Essbares, wie sie erleichtert feststellte. Am Büfett stellte sie sich einen Salat zusammen und ließ sich vom Kellner ihren Tisch zeigen. Seine braunen Augen glitten anerkennend über ihre Figur. Aber Lorena war auf keinen Flirt aus. Sie brauchte einfach einen Tapetenwechsel.

Ein Getränkekellner schob seinen üppig bestückten Wagen, in denen die kleinen Flaschen und Gläser klirrten, an ihren Tisch, lächelte über das ganze Gesicht und rief fröhlich »Hola!« Dann folgte ein Schwall Spanisch, begleitet von ausladenden Gesten. Der Schwall ergoss sich über Lorena, die hilflos blinzelte.

Der Kellner beendete seine Rede und fügte etwas an, das wie eine Frage klang.

»Äh ... Cola ...?«, stammelte Lorena in der Hoffnung, die Frage habe mit ihren Getränkewünschen zu tun.

Das Lächeln des Kellners schwand etwas. Offensichtlich hatte er Lorena für eine Spanierin gehalten und etwas ganz anderes gefragt.

»Cola«, nickte er resigniert und öffnete eine kleine Flasche, die er vor sie hinstellte.

»Gracias«, lächelte Lorena. So viel Spanisch beherrschte sie gerade noch.

Mit hängenden Ohren zog der Kellner ab. Lorena beobachtet die wenigen anderen Touristen. Der Speisesaal leerte sich bereits. Die meisten schienen mit ihrem Partner hier zu sein, alleine saß eigentlich keiner am Tisch.

Nachsaison, dachte Lorena, wie gut, dass ich nicht zur Ferienzeit hierhergekommen bin. Das wäre wohl eher etwas für Jacqueline. Es gab ihr einen Stich. Erst schob sie Jacky ab, dann fuhr sie einfach für eine Woche weg.

Nein, damit will ich mich jetzt nicht belasten! Entschlossen schob sie alle Schuldgefühle weit von sich.

Nach dem Essen bepackte Lorena eine kleine Handtasche mit Geld und Make-up, Taschentüchern und Kondomen und schlenderte mit den anderen Touristen auf der Promenade entlang. Schon bald steckte man ihr einen Flyer zu und drängte sie doch, in diese Disko oder jene Bar zu kommen.

Lorena zögerte. Sie stand nämlich vor einer dieser Diskos und sah eigentlich nur relativ junge Leute hineingehen. Die waren so um die Zwanzig, hatten noch keine Kinder und mussten daher nicht in den Sommerferien herkommen. Die gingen jetzt unzweifelhaft da rein, um ordentlich abzufeiern und sich eventuell eine schnelle Nummer zu suchen.

Trotzdem ging auch sie hinein. Zwar beäugten die Typen am Eingang sie etwas kritisch, aber sie lächelten auf jene kalte Art, die Lorena schon früher an anderen Urlaubsorten bemerkt hatte. Wahrscheinlich sahen die Nacht für Nacht alberne Angetrunkene, die sich mit Hinz und Kunz am Strand im Sand herumwälzten. Da verlor man wohl jeden Respekt.

Drinnen war es halbdunkel, indirekt beleuchtet und noch nicht allzu laut. Lorena setzte sich an einen Glastisch, der von unten beleuchtet wurde und bestellt sich einen Sex on the Beach. Das passte am besten, jedenfalls vom Namen her.

Es füllte sich langsam und Lorena atmete etwas auf, als sie auch ein paar Leute über dreißig hereinkommen sah. Drei Frauen setzten sich gerade an den Nebentisch und nickten ihr freundlich zu. Lorena lächelte zurück. Schon bald saßen sie alle zusammen.

»Wir müssen doch zusammenhalten«, erklärte die Älteste, die aber zu Lorenas Leidwesen erst einunddreißig war.

»Ich bin Ilona, das Ist Gabi und da drüben an der Bar steht Gitta, auch Gitti genannt.« Lorena nickte allen freundlich zu. Stille trat ein. Es war immer schwer, wenn man neu in eine Gruppe kam, die sich gut kannte.

Lorena drosch freundliche Konversation und gab eine Runde Cocktails aus. Die waren richtig teuer, aber es lohnte sich trotzdem. Denn nach dem Dritten saß sie in einer kichernden Runde, die die hereinkommenden Männer beäugte.

»Der hat ja `n Gesicht zum Draufsetzen«, hickste die schüchterne, bebrillte Gitti lautstark und kniff dem Kellner, der eine vierte Runde brachte, kräftig in den knackigen Po. Er starrte Gitti zwar erschrocken an, nahm die Sache aber mit Humor. Er hob den Zeigefinger und schüttelte ihn mahnend, zwinkerte Gitti zu und verschwand schnell aus ihrer Reichweite.

»Gitti, du bist und bleibst `ne alte Sau«, lachte Ilona. Sie wandte sich schwerfällig Lorena zu und brüllte ihr durch die hämmernden Techno-Beats ins Ohr: »Du würdest der das nie zutrauen, aber die veranstaltet Dildo-Partys!«

Gitti errötete und kicherte, Gabi lachte und Lorena grinste.

»Na und? Was ist schon dabei? Ein Dildo ist der beste Freund der Frau!«

»Also, ich verkaufe aber nicht nur Dildos«, protestierte Gitti hochrot im Gesicht, »auch Dessous und so.«

»Gib’s zu, am meisten werden Dildos bestellt!«, gluckste Gabi.

»Und du, Lorena? Was machst du so?«, lenkte Ilona ab, denn Gitti schämte sich komischerweise ganz furchtbar. Wie machte die das dann auf den Partys? Trugen da alle Papiertüten auf dem Kopf?

»Ich? Ich habe meine siebzehnjährige Tochter zu meinen Eltern abgeschoben, weil ich mit ihr nicht mehr klarkomme, fange in wenigen Wochen einen neuen Job an, den ich mir von meinem früheren Chef erpresst habe, und bin in einen Kerl verknallt, der verheiratet ist und ihn im Swingerclub nicht hochkriegt«, lallte Lorena.

Stille. Alle starrten Lorena offenen Mundes an.

»Also, wir haben ja alle so unsere Problemchen, aber du toppst alles!« Ilona hob ihr Glas.

»Das musst du uns alles doch etwas genauer erklären, Lorena, ich glaube, das habe ich jetzt nicht alles auf Anhieb verstanden«, erklärte Gitti mit schwerer Zunge. Gabi guckte nur ungläubig aus der Wäsche.

Lorena hatte normalerweise nichts dafür übrig, Fremden ihre intimsten Geheimnisse und Probleme anzuvertrauen, aber heute war ihr alles egal. Sie sah die Drei hier sowieso nie wieder. Sie bestellte noch eine Runde und erklärte den verdutzten Frauen alles haarklein.

»... Und jetzt muss ich dauernd an ihn denken«, klagte sie, »das ist mir seit Rüdiger nie mehr passiert! Ich frage mich, was er jetzt gerade macht und ob er sauer auf mich ist ... »

»Der ist bestimmt eher sauer auf sich selbst«, meinte Gabi und rührte mit dem Strohhalm in ihrem Caipirinha herum. »Da hat er die Gelegenheit, mit einer attraktiven Frau zu schlafen, und nimmt sie nicht wahr. Das muss ihn doch ärgern!«

»Und seine Frau hätte nicht mal was dagegen«, fiel Gitti ein. »Davon träumen doch alle Männer!«

»Scheinbar nicht alle. Für einen wie Werner muss das furchtbar sein, in einen Swingerclub geschleift zu werden. Er ist nicht der Typ dafür. Und dann ist er mit einer Frau zusammen, die eine offene Ehe will.« Ilona senkte den Kopf über das Glas, stach sich beinahe das Auge am Schirmchen aus, zog es heraus und warf es auf den Tisch.

»Ich glaube nicht, dass die eine offene Ehe will. Klingt für mich eher so, als ob die Frau die Schnauze voll von ihrem Kerl hat, und sich woanders austoben will. Über kurz oder lang werden die sich auseinanderleben und trennen«, meinte Lorena.

»Das hoffst du. Aber wenn er noch so sehr an ihr hängt ...» Gabi schien skeptisch.

»Irgendwann wird er aufgeben. Und dass seine Frau vor seinen Augen mit anderen Typen vögelt, tut ihm weh. Das hält keine Beziehung auf Dauer aus.« Ilona winkte nach dem Kellner. Der sah auf, erblickte Gitti, schauderte, und stieß seinen Kollegen an, der daraufhin an ihren Tisch kam. Es dauerte eine Weile, die vielen leeren Gläser einzusammeln.

»Ohhh, Safri Duoooo!«, kreischte Ilona. Sie und Gitti sprangen auf und eilten auf unsicheren Füßen auf die Tanzfläche. Lorena und Gabi blieben zurück.

»Weißt du, Lorena ... Ich war mal in deiner Situation.«

»Echt? Und, was ist daraus geworden?«

»Es war natürlich nicht ganz dasselbe. Ich war eine Geliebte. Mein Typ wollte sich nicht von seiner Frau trennen. Fairerweise hat er mir das am Anfang gesagt, nur hatte ich keine Kontrolle über meine Gefühle. Nach einer Weile habe ich mich in ihn verliebt. Er blieb bei seiner Frau, obwohl die beiden kaum noch etwas miteinander hatten. Aber er hatte mir am Anfang gesagt, sie wäre nach wie vor seine Traumfrau. Dass sie sich ihm gegenüber kalt und schroff verhielt, änderte daran nichts. Ich habe fünf Jahre gewartet und gehofft. Ich dachte, wenn er sieht, wie gut es mit mir läuft und dass er zu Hause nichts mehr zu erwarten hat, käme er bestimmt zu mir. Aber das tat er nie. Als ich dann Schluss machte und er mich fragte, warum, sagte ich ihm all das. Er war schockiert. ‚Ich habe dir nie etwas vorgemacht‘, sagte er. Das stimmte ja auch.« Gabi rührte traurig in ihrem Drink herum.

»Deswegen bin ich hier. Ilona und Gitti meinten, ich müsste dringend mal raus aus meiner Bude. Aber man nimmt seinen Kopf ja mit. Und auch sein Herz.« Gabi trank den halben Cocktail mit einem Zug.

Lorena schluckte. »Du meinst also, es hat gar keinen Zweck, sich wegen Werner Hoffnungen zu machen?«

»Das kann ich nicht sagen. Nur ist es kein gutes Zeichen, wenn er mittendrin schlaff wird, weil ihn sein Gewissen drückt.«

»Ich weiß ...«

»Mein Typ, nennen wir ihn Max, hat ihn die ersten drei Mal auch nicht hochgekriegt.«

»Was? Wirklich?«

Gabi nickte düster. »Er liebte seine Frau und hatte ein megaschlechtes Gewissen. Dabei ließ die ihn seit zwei Jahren nicht mehr ran und hat ihm in jeder Beziehung die kalte Schulter gezeigt. Der hat sich so um sie bemüht, das kannst du dir nicht vorstellen. Keine Ahnung, warum die so war und wieso er sich das gefallen ließ. Sie sind immer noch zusammen. Nur, dass er sich jetzt wieder was Neues fürs Bett sucht ... ich habe die Anzeige selbst gesehen. Auf genau dem Internet-Portal für Seitensprünge, wo er mich gefunden hatte.«

»Du warst bei so einem Portal? Und hast trotzdem gehofft ...«

»Ich war damals frisch geschieden und wollte nur Sex. Dass mir da Gefühle quer kommen würden, war nicht geplant. Bei dir ja auch nicht. Oder gehst du in den Swingerclub, um da den Mann deines Lebens zu finden?«

»Nee.«

»Siehst du.«

Beide schwiegen eine Weile und sahen Gitti und Ilona beim Tanzen zu. Nach dem ganzen Alkohol war es eher ein jämmerliches Gezappel, aber die beiden hatten ihren Spaß.

»Sieht aus wie zwei Zombies auf Speed«, meinte Gabi respektlos. Lorena unterdrückte ein Kichern. Langsam wurde sie müde.

Ausgerechnet in diesem Augenblick plumpste ein Mann unaufgefordert neben Lorena auf Gittis freien Stuhl.

»Guten Abend, die Damen. Darf ich euch einen Drink spendieren?«

Lorena warf einen vielsagenden Blick auf den goldenen Ring an seiner rechten Hand. In Gabis Augen flackerte es, als auch sie den Ehering bemerkte.

»So, du willst uns also abfüllen. Lass mich raten: Drei Drinks, dann tanzen, dann näherrücken, Arm um die Schulter legen, Konversation dreschen, so tun, als ob man sich für den anderen interessiert, ein bisschen knutschen und ab aufs Zimmer. Hab‘ ich recht?«

Dem Typ fiel die Kinnlade herunter. »Nein! Also ... was denkst denn du ...?«

»Ich denke, dass du verheiratet bist, und meinst, hier im Ausland könntest du unbemerkt einen wegstecken.«

»Bestimmt macht er dir gleich weis, seine Frau versteht ihn nicht mehr«, stichelte nun auch noch Gabi.

»Meine Frau und ich sind seit achtzehn Jahren verheiratet!«, empörte sich der Kerl. Lorena verbarg ein ironisches Lächeln. Normalerweise wäre er ihr Typ gewesen, und da sie ihr Zimmer allein bewohnte ... Aber nach der Sache mit Werner war sie ganz schön angeschlagen. Den konnte sie nicht haben, aber so ein unhöflicher Kerl kam einfach zu ihr und versuchte, sie auf die ganz plumpe Tour abzuschleppen. Ärger wallte in ihr auf.

»Ach, und warum betrügst du sie dann?«, verlangte sie zu wissen.

»Na, nach achtzehn Jahren ist die Luft eben raus, na und? Darf man im Urlaub nicht etwas harmlosen Spaß haben?«

»So. Da will ich dich mal was fragen: Wieso versuchst du nicht einfach, wieder Schwung in deine Ehe zu bringen?« Lorena griff dem Kerl ans Kinn und drehte es prüfend hin und her.

»Seidig glattrasiert. Wie ein Babypo. Wann hast du das das letzte Mal für deine Frau gemacht? Und die Klamotten sehen auch nagelneu aus. Wann hast du dich das letzte Mal für deine Frau so angezogen? Wann hast du aufgehört, sie zu umwerben? Bestimmt nimmst du sie schon seit mindestens zehn Jahren für ganz selbstverständlich hin, gib es zu.«

»Nein ... sie hat angefangen, sich gehenzulassen«, protestierte der Typ, aber Lorena schüttelte den Kopf.

»Ich habe das schon so oft bei meinen Freundinnen erlebt ... irgendwann war die Verliebtheit vorbei, und die Kerle haben sich keinerlei Mühe mehr gegeben. Anfangs ja, aber sobald ihr eure Weibchen mit der Keule niedergeschlagen und in eure Höhle geschleift habt, ist das vorbei. Dann werden die Frauen immer unzufriedener, ziehen sich nicht mehr schick an, benutzen kein Make-up mehr und lassen die sexy Dessous im Schrank hängen. Das findet ihr dann wieder doof und sucht euch einfach was anderes, statt mal darüber nachzudenken, warum das so sein könnte.«

»Ach, Blödsinn. Wünsche noch einen schönen Abend.« Mit einem bösen Blick stand er auf und suchte sich einen anderen Tisch, wo er gewogenere Gesellschaft fand. Vorher nahm er aber rasch seinen Ring ab und versenkte ihn in seine Hosentasche.

»Dem hast du’s aber gegeben.« Gabi steckte ihr Gesicht wieder in ihr Cocktailglas.

»Ist doch wahr.«

»Ja, bei Max war es aber nicht so. Da liegt eher sie im Trainingsanzug auf der Couch, er ist immer wie aus dem Ei gepellt. Wie der gerochen hat, das allein hat schon immer ausgereicht, um mich schwach zu machen.«

»Tja, dann ist sie wohl diejenige, die sich in Diskos an Kerle ranmacht und behauptet, ihr Mann verstünde sie nicht.«

»Die? Niemals. Dafür ist sie viel zu kalt. Die bräuchte nie zu Gittis Partys zu kommen, die masturbiert bestimmt immer mit Eiszapfen.«

»Hat sie dann ja nur im Winter.«

»Würde passen, öfter hat die bestimmt keine Lust.«

»Komische Frau.«

»Ja ... seit dem Tod ihres Vaters ist wohl so geworden. Keine Ahnung. Max rätselt da seit Jahren dran rum.«

Gitti und Ilona kamen schwankend von der Tanzfläche. Sie strahlten über das ganze Gesicht.

»Wie ist das eigentlich bei den beiden mit Männern?«, brüllte Lorena noch schnell in Gabis Ohr.

»Beide Singles, die machen alles richtig«, brüllte Gabi zurück. »Aber hatten auch harte Zeiten. Gitti hatte sich dummerweise von ihrem Kerl getrennt, weil sie was mit einem Arbeitskollegen angefangen hatte. Das ging nach einem Jahr schief. Seitdem trauert die ihrem Bernd hinterher. Und Ilona war mal mit einem verheiratet, der nur hinter einer Aufenthaltsgenehmigung her war. Der hat sie behandelt, das würdest du nicht glauben. Als er seine unbefristete Erlaubnis hatte, hat er sie verlassen. Ilona sitzt wegen diesem Arsch auf einem Berg Schulden. Sie stottert fast siebzehntausend Euro ab.«

»Ach herrje!«

Gitti und Ilona ließen sich so schwer auf ihre Stühle fallen, dass die Gläser klirrten.

»Na, wieso tanzt ihr denn nicht?«, schrie Gitti.

»Ja, wieso sitzt ihr hier nur rum?«

»Wir unterhalten uns!«

»Ihr seid ja voll langweilig«, hickste Ilona. »Hey, Knackpo! Noch einen Mojito, bitte!« Heftig wedelte sie mit den Armen, um einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen.

Lorena tanzte an dem Abend doch noch. Als ein Mann Mitte zwanzig namens Jens sie dazu aufforderte, schubsten sie die anderen regelrecht auf die Tanzfläche und machten zu Lorenas Leidwesen obszöne Gesten mit den Händen. Sie beschloss, besser bald den Heimweg anzutreten. Die Mädels waren ja recht nett, aber betrunken nicht zu ertragen.

»Ich bringe dich nach Hause«, versprach Jens eifrig und holte Lorena ihre Jacke von der Garderobe.

Unterwegs griff er nach ihrer Hand und zog sie zum Strand, wo er sie küsste. Als er sie herunterziehen wollte, lehnte Lorena ab.

»Aus dem Alter, im Sand herumzuknutschen, bin ich heraus. Außerdem ist es dafür zu kalt. Der Sommer ist ja vorbei.«

»Ja, aber ich wohne mit zwei Kumpels in einem Zimmer ...«

»Ich habe ein eigenes Zimmer.« Lorena stieß ihn zurück auf die Promenade und bugsierte Jens in ihr Hotel. Oben im Zimmer ging es schnell zur Sache. Zwar hatte Lorena überhaupt keine Lust auf Sex, aber es gab nicht immer die Gelegenheit, mit einem jungen Mann zu schlafen. Sie wurde ja nicht jünger, und bald würde sie keiner unter vierzig mehr anfasen, befürchtete sie. Außerdem musste sie sich beweisen, dass sie es noch draufhatte. Wenn diesem hier auch mittendrin die Nudel schlaff wurde, dann hatte sie ein Problem.

Jens‘ Nudel wurde aber nicht schlaff. Im Gegenteil, egal, welche Stellung Lorena auch vorschlug, Jens kam nicht, sondern machte immer weiter. Erst nach drei Stunden zuckte er heftig zusammen, krümmte sich, und fiel heftig atmend aufs Bett. Lorena, die vor ihm gekniet und gehofft hatte, es möge irgendwann endlich mal vorbei sein, ließ sich neben ihn fallen. Sie döste nach einer Weile ein, als sie plötzlich wieder seine Hände auf ihren Brüsten spürte.

»Was machst du denn da?«

»Na, nächste Runde!«

»Hä? Quatsch!«

»Wieso denn nicht?«

»Ich will jetzt endlich mal schlafen. Es wird schon hell draußen.«

»Na und? Ist doch Urlaub!«

»Lass mich in Ruhe!«

Beleidigt stand er auf, zog sich an, und verschwand aus ihrem Zimmer. Lorena atmete auf, hängte das »Bitte nicht stören« Schild außen an die Klinke, schloss ab, und legte sich ins Bett.

Maja starrte aus dem Fenster. Wäre es nicht im Erdgeschoss gewesen, sie hätte herausspringen mögen.

Auch wenn alle es für eine gute Idee hielten, sie wollte nicht in diese Psycho-Klinik. Den ganzen Tag mit Leuten zusammen sein, die irgendwelche Probleme hatten, Tabletten schluckten und vor sich hinstarrten, so wie in der Klinik, in der Oliver damals gewesen war? Mit irgendeiner Frau das Zimmer teilen? Olivers Zimmergenosse hatte unter Schlaflosigkeit gelitten und die ganze Nacht in seinem Schrank herumgekramt. Was, wenn ihre Zimmergenossin genauso drauf war? Und manche von denen waren ziemlich aggressiv gewesen und hatten die anderen dauernd angemault. Schöne Aussichten.

Und wo sollte sie nach der Kur hin? In eine eigene winzige Wohnung, die bestimmt nicht im besten Viertel lag? Ganz alleine sein? Lorena und Cecilia hatten schließlich zu tun und konnten ihr keine Gesellschaft leisten.

Und dann kamen wieder die bösen Briefe vom Amt, die ihr Angst machten. Erst zwangen die sie, eine Rente zu beantragen, die sie gar nicht wollte, dann zwang die Rentenversicherung sie, eine Reha-Maßnahme anzutreten, die sie auch nicht wollte, und am Ende bekam sie wahrscheinlich gar nichts, außer wieder Post vom Jobcenter, die sie kaum verstand und deren harsch formulierter Inhalt ihr die Knie weichmachte.

Vielleicht fand sie irgendwann wieder einen mies bezahlten Job, der sie gerade so über die Runden kommen ließ, keinen Spaß machte und sie körperlich über kurz oder lang überforderte.

Wieder kamen Maja die Tränen. In ihr hatte sich eine Schwärze ausgebreitet, die so furchtbar war, dass ihr jeglicher Lebensmut abhandengekommen war. Außerdem hatte sie - nach nur zwei Wochen - schon wieder ihre Tage. Der Bauchschmerz half ihr nicht wirklich über ihre Depri-Phase hinweg.

Sie ließ den Tränen freien Lauf und fächelte sich mit einer Zeitschrift frische Luft zu. Es war so heiß hier drinnen, hatte Cecilia etwas schon die Heizung angestellt? Dafür war es ja wirklich noch zu früh! Aber bestimmt wollte es die Oma warm haben im Keller.

»Was heulste denn schon wieder?« Ausgerechnet die Oma, die Schwäche sofort wahrnahm wie ein Raubtier, kam ins Zimmer gerollert. Sie war so schlecht zu Fuß, dass sie den Rollator auch im Haus benutzen musste. Ständig schleppte Cecilia das Ding die kleine Treppe herunter, damit die Oma zur Hintertür heraus in den Garten gehen konnte. Und dann, wenn die Oma wieder reinwollte, schleppte Cecilia ihn wieder das Treppchen herauf.

Maja fühlte sich in die Ecke gedrängt. Nirgendwo hatte man hier Privatsphäre! Nur die Oma hatte ihr eigenes Zimmer, aber das benutzte die nur zum Schlafen.

»Mir geht’s halt nicht so gut«, schniefte Maja.

»Ach, papperlapapp! Man muss sich auch mal etwas zusammenreißen! Wir haben damals viel Schlimmeres erlebt im Krieg. Und nach dem Krieg war es auch nicht zum Lachen, das kann ich dir sagen!«

Maja schniefte vor sich hin. Was hätte sie auch sagen sollen?

Die Oma schüttelte verächtlich den Kopf und rollerte zurück in die Küche.

Cecilia fegte zur Tür herein, warf die Tüten mit dem Soßenbinder in die Küche und floh wieder in ihr Arbeitszimmer.

»Das lohnt sich nicht, in einer Viertelstunde gibt’s Essen!«, drang die Stimme der Oma hinter der geschlossenen Tür hervor. Von oben erklang ein tiefer Seufzer.

Majas Herz machte einen unglücklichen Hopser, als sie aus dem Fenster den Briefträger angeradelt kommen sah. Hoffentlich war nicht schon wieder Post für sie dabei!

Sie zog sich schnell ihr T-Shirt wieder an und eilte nach draußen, nachdem der Briefträger fort war. Gehalten hatte er hier, und am Briefkasten war er auch gewesen. Hoffentlich war alles für Cecilia.

Mit zitternden Händen öffnete Maja den Briefkasten und holte einen Katalog, Werbung und - Scheiße! - einen Brief der Rentenversicherung hervor. Da war noch ein anderer an sie adressierter Brief, den sie erst einmal mit der restlichen Post beiseitelegte.

Maja las den Brief und brach wieder mal in Tränen aus.

Eine Viertelstunde später saß sie mit Cecilia und Oma Heidi am Küchentisch und befüllte ihren Teller. Die beiden musterten sie unbehaglich. Scheinbar dachten sie, Maja hätte wieder einen ihrer Anfälle von grundloser Traurigkeit.

»Cecilia, kannst du mich in zwei Wochen bitte nach Bad Oeynhausen fahren?«

»Ja, klar. Wieso? Sag bloß ...«

»Ja. Heute kam der Brief.«

»Das ging aber flott«, mischte sich die Oma ein.

»Ja. Die haben die Klinik gebeten, mich vorzuziehen. In zwei Wochen ist ein Bett frei.«

»Und dein Rücken?«, fragte Cecilia besorgt, »mit einem akuten Bandscheibenvorfall kannst du doch nicht da hin?«

»Doch, die haben ja spezielle Betten, weil die auch orthopädische Probleme behandeln. Hat die Rentenversicherung extra für mich rausgesucht.«

»Aber in zwei Wochen hast du doch auch den Termin für die nächste PRT-Spritze«, gab Cecilia zu bedenken, »lassen die dich für den Termin raus? Kannst du die dann in Bad Oeynhausen kriegen? Oder muss ich dich da abholen, hier zur Spritze bringen und dann wieder hinfahren?«

»Ach, ich weiß es doch auch nicht«, schluchzte Maja plötzlich, ließ die Schöpfkelle in die Soße fallen, und stürzte aus der Küche.

»Die wird ja immer schlimmer«, schimpfte die Oma und wischte sich Soßenspritzer aus dem Gesicht, »da stimmt doch etwas nicht!«

»Ja, da kannst du recht haben. Das wird immer merkwürdiger.« Cecilia beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Nach dem Essen belud sie den Geschirrspüler und freute sich, als die Oma verkündete, sie sei recht müde. Cecilia half ihr in den Keller und ins Bett. Der Nachmittag gehörte ihr! Sie konnte es noch gar nicht glauben.

Im Wohnzimmer flackerte der Fernseher. Also war auch Maja erst mal beschäftigt. Schön.

In ihrem Arbeitszimmer machte Cecilia die Tür aufatmend hinter sich zu und setzte sich an ihren PC. Bevor sie jedoch zu schreiben begann, googelte sie einer Eingebung folgend nach den Nebenwirkungen von PRT-Spritzen. Sie hielt den Atem an, als sie Erfahrungsberichte und Forenbeiträge dazu entdeckte, die sie so nicht erwartet hätte.

»In der Nacht nach der Spritze hatte ich schon einmal zwei Alpträume. Am nächsten Tag war ich schlecht drauf. Das wurde immer schlimmer, Heulattacken, schwere depressive Schübe, und am Tag darauf bekam ich abends dann noch die ersten Hitzewallungen.

Erst dann fiel mir ein, mal nach den Nebenwirkungen zu googlen. Man wird sofort fündig.

Zwar ist die Dosis Kortison wohl niedrig und soll vor allem an der Stelle verbleiben, an die sie gespritzt wurde (Nervenwurzel), was Nebenwirkungen beinahe ausschließt, aber all das haben weder ich noch die anderen Betroffenen sich ausgedacht, um sich wichtig zu tun.

Morgen ist die erste Spritze eine Woche her, und es haben sich noch Hautjucken, Muskelschmerzen und Stimmungsschwankungen dazugesellt. Es ist kaum zum Aushalten in meiner Haut und ich bin froh, dass hier keine Knarre herumliegt.

Jetzt überlege ich, ob ich die zweite Spritze überhaupt noch mitnehmen soll. Allerdings hat man mit einem Bandscheibenvorfall kaum eine Wahl, der muss ja auch behandelt werden.«

Cecilia war so versunken in den Schilderungen, dass sie heftig zusammenzuckte, als das Telefon klingelte.

»Oh, hallo Rudi.« Sie hatte es ja gewusst. Nun ging es rund.

»Hi, Cecilia. Sag mal, was ist denn los? Wieso liegt das neue Manuskript noch nicht vor? Ich habe keins, der Verlag hat keins ...«

»Tja, also, Rudi ... ich bin noch gar nicht fertig. Nicht mal zur Hälfte, wenn ich ehrlich sein muss.«

»Was?! Nicht mal zur Hälfte? Sag mal, das kann doch nicht wahr sein?«

»Leider doch, Rudi. Ich habe hier ziemlich viel um die Ohren, und ...«

»Das mag ja sein, aber das Schreiben hat Priorität! Du musst den Vertrag erfüllen! So kenne ich dich ja gar nicht, normalerweise bist du doch immer mindestens zwei Monate vor dem Abgabetermin fertig!«

»Ja, ich weiß. Mich lässt hier keiner schreiben.« Sie erzählte kurz von ihrer Situation.

»Das ist ja alles schön und gut, oder vielmehr weder schön noch gut, aber wenn du einen normalen Beruf hättest, müsstest du trotzdem morgens um sieben aus dem Haus gehen, Oma hin, kranke Freundin her. Und in deinem Fall heißt das, dass du trotz allem mehrere Stunden täglich schreiben musst.«

»Es tut mir ja auch leid, Rudi. Ehrlich. Meinen neuen Freund habe ich auch schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.« Wenn sie ehrlich war, wollte Cecilia aber Florian nicht unbedingt ihrer resoluten Oma vorstellen.

»Cecilia, mach hinne. Ich hole dir noch einen Monat raus, aber mehr geht nicht. Die reißen mir so schon den Kopf ab, das weiß ich. Mach dich auch auf einen wütenden Anruf von denen gefasst. Am besten, du gehst gar nicht ans Telefon. Bist zu beschäftigt mit Schreiben. Ich halte für dich den Kopf hin, aber das ist das einzige Mal, okay?«

»Danke, Rudi. Ein Monat ist allerdings nicht besonders lang ...«

»Das ist das Maximum!«, donnerte er und legte auf.

Cecilia holte tief Luft, stand auf, und ging ins Wohnzimmer runter. Maja lag auf der Couch, heulte, aß Pralinen und sah eine von diesen Scripted Reality Sendungen.

»So.« Cecilia schaltete den Fernseher aus und setzte sich in ihren Sessel. Maja sah sie mit bösen Ahnungen an.

»Ich habe gerade einen wütenden Anruf von Rudi gehabt, meinem Agenten. Ich habe noch einen Monat, um das Manuskript abzugeben, sonst knallt’s, und zwar richtig. Ich werde dich nach Bad Oeynhausen fahren, aber ansonsten muss ich von morgens bis abends schreiben, okay?«

»Okay, tut mir leid, dass ich dir so viel Ärger mache«, schluchzte Maja und griff tränenblind nach einem Taschentuch.

»Du bist es nicht allein, im Moment macht mir meine Oma viel mehr Ärger. Die muss ich mir mal zur Brust nehmen. Aber das ist nicht alles. Ich möchte, dass du den Termin zur nächsten PRT-Spritze absagst.«

»Hä? Wieso? Es hilft doch!«

»Ja, schon. Aber die Nebenwirkungen sind bei manchen Menschen sehr heftig. Du bist einer dieser Menschen. Ich habe eben mal nachgesehen. Es gibt andere wie dich. Die haben auch schwere Depressionen bekommen, Akne, Hitzewallungen, geschwollenes Gesicht und Frauen bekamen öfter ihre Tage oder hatten sie sogar über Monate nonstop.«

»Was? Wirklich? Daran liegt das?«

»Ja, sieht so aus. Du musst deinen Rücken anders in den Griff bekommen. Mit Sport und Gewichtsreduktion.« Cecilia warf einen vielsagenden Blick auf den Karton mit den Pralinen. Der war recht teuer gewesen. Bisher hatte sie für Maja ungefähr vierhundert Euro ausgegeben für neue Kleidung, Lebensmittel und Kosmetik. Sie verbrauchte auch Wasser, was natürlich Cecilias Nebenkosten auch noch in die Höhe trieb. Und da Cecilia den Fernseher nur abends einschaltete, er jetzt aber den ganzen Tag lief, war auch der Stromverbrauch gestiegen. Vierhundert Euro war da noch heruntergerechnet. Freundschaft hin, Freundschaft her, das war kein Pappenstiel.

»Ja, ach so, okay. Dann sage ich den Termin ab. Kann ich mir das auch mal durchlesen?«

»Ja, aber ich drucke dir das aus. Der PC ist in den nächsten Wochen dauerhaft besetzt. Einkaufen wirst du, du musst mein Auto nehmen, okay? Ich kann hier nicht weg. Ich muss quasi durcharbeiten. Ich habe nur einen Monat Verlängerung bekommen, obwohl ich mindestens zwei bräuchte, eher drei. Und dann noch Kreativität auf Knopfdruck, das wird nicht leicht. Ich stelle dir Schecks aus, und dann musst du zur Bank fahren und das Geld abholen zum Einkaufen. Ihr dürft mich nicht stören!«

»Okay, na klar«, stammelte Maja unglücklich.

»Gut. Dann fange ich jetzt an. Wenn meine Oma nachher aufwacht, musst du dich erst mal um sie kümmern. Falls Sie spezielle Wünsche hat fürs Abendessen, musst du mit ihr fahren oder das Zeugs grade selbst holen.«

»Ja. Gut.«

»Prima.« Cecilia stieg die Treppe herauf und machte die Tür hinter sich zu. Sie druckte schnell ein paar Seiten mit den Infos zur PRT-Spritze aus und schrieb nach kurzem Zögern eine E-Mail an Florian.

»Ich hätte dir das lieber am Telefon mitgeteilt, aber zum Telefonieren abends habe ich auch keine Zeit mehr, weil ...« Es wurde eine lange E-Mail, in der sich Cecilia von ganzem Herzen entschuldigte. Sie konnte Florian an den Wochenenden nicht sehen, sie musste schreiben, schreiben, schreiben.

»Ich vermisse dich sehr und würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Ich hatte gedacht, wenn Maja zur Kur ist, könnte ich für eine Woche nach Hamburg kommen, und dich länger sehen, aber da ist ja noch meine Oma, um die ich mich kümmern muss. Bis das Manuskript fertig ist, habe ich für nichts mehr Zeit, nicht mal für dich, und das belastet mich sehr.«

Sie schickte die E-Mail mit einem Stoßseufzer ab und widmete sich dem Schreiben. Zum Glück ging es gut voran. Nach zwei Stunden rieb sie sich die müden Augen und streckte sich, dass die Knochen knackten. Normalerweise machte sie dann eine längere Pause, aber mehr als zehn Minuten gönnte sie sich nicht.

Nach einer weiteren Stunde breitete sich ein dumpfer Kopfschmerz von einer Schläfe zur nächsten aus. Es ging schon auf fünf Uhr zu. Zwar hätte sie am liebsten bis sechs weitergeschrieben, aber sie hatte einfach keine Energie mehr.

Cecilia stand auf, streckte sich nochmal, öffnete die Tür, und stieg langsam die Stufen hinunter. Unten saßen Maja und die Oma in der Küche und brüteten über einem Einkaufszettel.

»Ich will nicht so oft fahren, deshalb machen wir morgen einen Großeinkauf«, erklärte Maja auf den fragenden Blick ihrer Freundin.

»Und wer holt meiner Oma den Rollator aus dem Kofferraum? Du kannst das nicht.«

»Ach so. Ja, das stimmt natürlich.«

»Ich fahre auf jeden Fall mit«, protestierte die Oma, »zur Not muss mir ein Verkäufer das Ding eben rausholen!«

»Oder du schiebst den Einkaufswagen und lässt den Rollator hier. Das ist doch fast genauso, als wenn du einen Rollator hättest«, meinte Cecilia. Die Oma nickte langsam.

»Das stimmt, das würde schon helfen!«

»Schreib bitte Traubenzucker mit auf. Den brauche ich auf jeden Fall. Und stilles Mineralwasser ist auch fast alle.« Müde schenkte sich Cecilia ein Glas Cola ein und trank.

»Du kommst gerade richtig zum Kartoffelschälen«, sagte die Oma und legte ihr ein Schälmesser hin. Cecilia schüttelte den Kopf.

»Ich muss gleich noch weitermachen.«

»Du bist aber ganz blass und siehst völlig kaputt aus«, gab Oma Heidi zu bedenken.

»Egal. Ich muss heute noch ungefähr zehn Seiten hinkriegen. Nach meiner Rechnung komme ich dann so ungefähr hin bis zum Ende der vier Wochen.«

»Wie viele Seiten brauchst du denn noch?«, fragte Maja mitfühlend.

»Das kann man so genau nicht sagen. Aber da ich in einem Monat das schaffen muss, wofür ich mindestens drei bräuchte, muss ich die dreifache Arbeit leisten. Also statt zwei Stunden jeden Tag sechs.«

»Du hast früher nur zwei Stunden pro Tag gearbeitet?«, fragte die Oma herablassend. Cecilia schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist schon mehr. Schreiben, das vom Vortag korrekturlesen, recherchieren. Meistens schreibe ich auch mehr als zwei Stunden. Das ist ein Richtwert. Ich muss einfach zusehen, dass ich meinen Vertrag erfülle. Ich möchte gar nicht wissen, was sonst passiert.«

»Und was machst du am Wochenende? Mit Florian?«, fragte Maja.

»Dem habe ich erst einmal absagen müssen.«

»Was, für dieses Geschreibsel lässt du einen Mann sausen? Das würde ich mir überlegen, du kommst auch langsam in die Jahre. Sind nicht mehr allzu viele Fische im Teich«, sagte die Oma trocken.

Cecilias Stirn legte sich in Zornesfalten.

»So, Oma, jetzt hör mir mal gut zu, okay? Es ist mein ‚Geschreibsel‘, das dir zurzeit Obdach bietet. Dieses Haus hier habe ich nur von dem Vorschuss bezahlen können, den mir ein amerikanischer Verlag für mein vorletztes Buch gezahlt hat. Mein letztes Buch hat das Geld eingebracht, mit dem ich dir da unten dein Zimmer eingerichtet habe, mit dem ich das Wasser bezahle, mit dem du dich duschst, die Toilette spülst und die Kartoffeln kochst. Der Garten, den du ständig bemängelst, weil er nicht ordentlich genug ist, dir ansonsten aber sehr gut gefällt und in dem du sitzt und die Sonne genießt, gehört zu diesem Grundstück, das ich mit dem Geld gekauft habe. Genauso wie das Essen, das du jeden Tag kochst - zweimal, obwohl ich nur einmal am Tag warm esse, aber das ist dir ja egal. Das Essen wurde im Supermarkt von diesem Geld gekauft, das ich mit meinem ‚Geschreibsel‘ verdiene. Dass ich im Moment diesen Stress und diesen Ärger mit Rudi habe, verdanke ich der Tatsache, dass du mir schon seit Wochen keine Zeit mehr zum Schreiben lässt, weil ich ständig putzen, im Garten schuften, mit dir zum Arzt oder Sanitätshaus oder einkaufen fahren muss. Wenn ich dann was sage, winkst du ab und tust so, als ob das nur ein lächerliches kleines Hobby wäre. Ist es aber nicht. Das ist mein Beruf, so verdiene ich mein Geld. Wenn ich als Sekretärin irgendwo arbeiten würde, gäbe es niemanden, der sich hier tagsüber um dich kümmern könnte. Das würdest du als Job akzeptieren, aber mein ‚Geschreibsel‘, das wirklich viel Geld bringt, das nimmst du komischerweise nicht für voll.«

Die Oma klimperte verwirrt mit den Augenlidern.

»Na, jetzt haste mir aber einen einjeschenkt.« Dass sie früher einmal in Berlin gelebt hatte, konnte sie nicht leugnen.

»Tut mir leid, das musste sein. Ab heute ist das Zimmer oben Sperrgebiet, okay? Ich will nicht gestört werden, wenn ich da drin bin. Keine Anrufe, kein Gebrüll, dass kein Soßenbinder da ist, nichts in der Art. Maja ist dein Ansprechpartner. Wenn die auch nicht weiter weiß, dann wartet eben, bis ich eine Pause mache. Aber da oben kommt mir keiner rauf, verstanden?«

»Ja, ist ja gut!«

»Schön.«

Cecilia stand auf, verließ die Küche, und stieg wieder die Treppe herauf. Oben war sie froh, die Tür hinter sich zumachen zu können. Eine Stunde würde es sicher noch dauern, bis das Abendessen auf dem Tisch stand, in der Zeit konnte sie ja noch etwas schreiben. Als sie sich in ihren Chefsessel fallen ließ, sah sie erfreut, dass Florian ihr geantwortet hatte.

»Liebe Cecilia, mach dir keine Sorgen, ich habe dafür Verständnis. Es ist bei mir auch gerade eng, ich muss ganz viel Pauken. Dafür werde ich die freie Zeit an den Wochenenden nutzen, obwohl ich dich natürlich sehr vermissen werde. Aber dieses Wochenende komme ich trotzdem. Es macht nichts, dass du dann keine Zeit für mich hast. Ich werde die Lampe im Zimmer deiner Oma anbringen, deinen Rasen mähen und auch sonst bestimmt etwas zu tun finden. Abends musst du ja auch mal Feierabend machen, dann gehen wir schick essen. Was meinst du?«

Cecilias Wangen glühten. Florian wusste doch, dass sie zwar noch oben in ihrem Kino eine Übernachtungsmöglichkeit hatte, aber nur ein einziges Klappbett besaß. Denn das Bett für die Oma wurde erst in einer Woche geliefert. Was nun? Sollte sie noch ein Klappbett kaufen? Oder ... es drauf ankommen lassen?

»Lust hätte ich ja schon«, murmelte sie, »aber mit Maja und Oma im Haus ...?« Wenn es etwas gab, das sie wirklich total abtörnte, dann das Gefühl, keine echte Privatsphäre zu haben.

»Ich lasse es drauf ankommen.« Cecilias Herz klopfte heftig. Seit sie mit Hagen Schluss gemacht hatte, hatte sie keinen Sex mehr gehabt und vermisste ihn auch sehr.

Ja, ich lasse es drauf ankommen, dachte sie und kicherte nervös. Jetzt konnte sie sich aufs Schreiben natürlich gar nicht mehr konzentrieren!

Wie soll ich bloß in einem Monat etwas fertigbekommen, wofür ich sonst mindestens drei bräuchte? Grübelnd sah Cecilia auf ihr Manuskript. Zweihundertsieben Normseiten, das war mit dem dicken Rand und dem doppelten Zeilenabstand wahrlich nicht viel. Sie würde mindestens noch doppelt so viele Seiten schreiben müssen. Und die mussten auch noch gut sein!

Das, was sie bisher geschrieben hatte, gefiel ihr sehr. Es war leidenschaftlich, düster und blutig. Aber wenn sie jetzt hastig drauflostippte, litt die Qualität. Was sie dann hatte, war ein Buch, das sehr gut anfing, immer lahmer wurde und von wütenden Lesern am Ende kopfschüttelnd zugeklappt und an die Wand geworfen wurde. Die Rezensionen konnte sich Cecilia gut vorstellen. Und wenn man seine Leser einmal so richtig vergraulte - die kamen nie wieder.

»Wenn die nur die erste Hälfte nehmen würden ... die wäre gut«, murmelte sie. Sie blinzelte. Lächelte. Öffnete ihr E-Mail-Programm und schrieb Rudi. Ihn anzurufen wagte sie nach dem letzten Telefongespräch einfach nicht.

»Rudi, ich habe da eine Idee, die uns beiden den Hals retten könnte. Ich schicke dir mal die ersten hundert Seiten. Die sind gut, das sage ich ohne Eitelkeit. Damit die Qualität nicht leidet, wenn ich hier die nächsten vier Wochen wie bekloppt auf meiner Tastatur herumhacke, könnten wir Folgendes machen: Der Verlag bringt das Buch zunächst mal als E-Book heraus, und zwar in zwei Teilen. Bis die den ersten Teil lektoriert, formatiert und ein ansprechendes Cover in Auftrag gegeben haben, bin ich mit dem zweiten Teil locker fertig. E-Books haben nämlich ein Problem: Die gibt es in sehr verschiedenen Preisklassen. Von neunundneunzig Cent bis über zwölf Euro habe ich da alles gesehen. Wenn der Verlag das Buch in zwei Teilen herausgibt, kann er im Grunde mehr Geld damit machen, weil er dann pro Teil um die fünf bis sechs Euro verlangen kann. Und der Leser kann selbst entscheiden, ob er den zweiten Teil überhaupt noch lesen will. Denn wenn man viel Geld für ein Buch ausgibt, und es gefällt einem nicht, dann ist man sauer. Gibt man aber wenig aus und hat dann die Option, noch einmal nur eine kleine Summe für den nächsten Teil auszugeben, hat man die Wahl und fühlt sich nicht über den Tisch gezogen. Was meinst du, lassen die sich darauf ein?«

Zum Glück schien Rudi gerade online zu sein, denn nur nach zehn Minuten, in denen Cecilia nervös die Finger ineinander wand, kam eine Antwort:

»Das ist eine interessante Idee, Cecilia. Ich drucke die hundert Seiten gleich aus und schicke die mit deinem Vorschlag rüber.Es wäre natürlich ungewöhnlich, wenn ein Buch zuerst als E-Book herauskäme und dann erst als gedruckte Version, aber - warum nicht? Wir leben ja im elektronischen Zeitalter. Vielleicht ist das sogar ein guter Werbegag. Mach dich aber auf harsche Kritik von Seiten deiner ergebenen Fans gefasst. Das sind überwiegend Papierleser.«

Cecilia atmete auf. Zwar war sie, wenn der Verlag darauf einging, nicht vollständig vom Haken, hatte aber sicher mindestens einen zweiten Monat. So schnell ging das mit dem Lektorat auch nicht, und dann noch die Marketingstrategie, das Cover ... ja, einen zweiten Monat würde das bestimmt bringen!

Schon etwas entspannter begann Cecilia, wieder zu tippen. Nach einer halben Stunde zuckte sie zusammen und wurde aus der blutigen, melancholischen Welt ihrer Vampire gerissen, als die Oma »Esseeeeen!«, brüllte.

Cecilia tippte noch in aller Ruhe den Satz ab, den sie im Hirn schon vorformuliert hatte. Das schien der Oma zu lange zu dauern.

»Cecilia! Hast du nicht gehört? Ess...«

»Sssscht! Sie hat doch gesagt, nicht stören!«, zischte Maja.

»Ja, aber das Essen wird doch kalt«, grummelte die Oma. Cecilia schüttelte kurz den Kopf und tippte weiter. Sie war gerade so gut drin.

Nach weiteren fünfzehn Minuten ging sie in die Küche herunter, ließ den Computer aber an. Sie hatte da eine neue Idee, die sie heute noch einbauen würde. Ein Vampir, der in seiner ewigen Verzweiflung über sein unwürdiges Dasein versuchte, sich selbst auf einem Jägerzaun aufzuspießen, war doch gewiss etwas ganz Neues!

Vorwurfsvoll sah die Oma auf, als Cecilia in die Küche kam. Es gab Wiener Schnitzel mit selbst gemachten Pommes frites. So viel Fettes und das auch noch abends!

»Es ist ja schön, dass du kochst, Oma. Es ist auch super, dass du mir das dann warmhältst, aber eins muss ich noch klarstellen: Es wird zukünftig nicht mehr so fett und schwer gekocht, schon gar nicht abends. Ich kann dann nachts nicht schlafen, und dick macht das Zeug auch. Außerdem ist es ungesund.«

»Aber ab und zu ...«

»Ab und zu ist das okay, aber du kochst fast jeden Tag so. Und bitte dann ausschließlich mittags. Abends möchte ich lieber nur ein Brot oder meinetwegen Salat. Oder eine leichte Gemüsepfanne.«

Die Oma presste die Lippen zusammen. Auf einmal mischte sich Maja ein.

»Wie wäre es denn, wenn es das fette Zeugs nur sonntags zum Mittag geben würde? Das wäre doch ein Kompromiss! Vor allem, weil Cecilia jetzt sowieso keine Zeit mehr zum Kartoffelschälen oder Einkaufen mehr hat. Und unter der Woche essen wir mittags nur eine Kleinigkeit.«

Die Oma sah Cecilia und Maja mürrisch an.

»Ich koche eben gern ...«

»Und auch sehr gut Oma, wirklich. Es geht nur nicht auf Dauer so weiter. Du bist doch auch nicht die Schlankste. Deinem Rücken würde es viel besser gehen, wenn er nicht so viel Gewicht mit sich rumschleppen müsste.«

»Und meinem auch«, murmelte Maja.

»Wenn ihr wüsstet, wie es ist, zu hungern! Wenn ihr den Krieg mitgemacht hättet, würdet ihr auch froh sein über jede schön gekochte Mahlzeit!«

»Von Hungern redet ja keiner. Es gibt auch sehr leckere fettarme Mahlzeiten. Und es muss auch nicht jeden Tag Fleisch geben. Das ist nun wirklich nicht gesund!«, erklärte Cecilia sanft. Innerlich begann sie zu brodeln. Das hier war ihr Haus, musste sie denn jede ihrer Regeln rechtfertigen? Musste es nicht reichen, wenn sie sagte: nein, so nicht?

»Also ist von nun an Schmalhans Küchenmeister«, grollte Oma Heidi wenig begeistert.

»Wenn du es so ausdrücken willst. Aber denk mal an deine Gesundheit. Hat der Arzt nicht gesagt, du hättest zu hohen Blutdruck?«

»Ach, die haben doch immer was zu meckern! Sonst könnten die ja auch keine Rechnungen schreiben!«

»Nimmst du gar nichts dagegen?«

»Doch, schon.«

»Tja, wenn du etwas abnehmen würdest, bräuchtest du vielleicht keine Blutdrucksenker mehr zu nehmen, meinst du nicht?« Cecilia kam schon wieder eine Idee: ein Vampiropfer, das seine Blutdrucksenker absetzen konnte, weil es jede Nacht ausgesaugt wurde. Das gab der Geschichte Würze.

»In meinem Alter braucht man sich da nun wirklich keine Gedanken mehr drüber zu machen. Meinst du im Ernst, ich fange mit über achtzig noch eine Diät an?«, fragte die Oma geringschätzig.

»Diät vielleicht nicht, aber deine Ernährung könntest du ruhig noch umstellen. Wer weiß, vielleicht lebst du dann länger und wirst hundertzwanzig«, grinste Cecilia.

»Das will ich gar nicht. Lieber früher abtreten und vorher richtig gelebt haben. Willst du mir die letzten paar Jahre tatsächlich noch mit Salatblättern vermiesen?«

»Mach, was du willst, aber dann koch nur für dich. Maja und ich wollen noch eine Weile leben, und das, ohne dass man uns irgendwann aus dem Haus hier rausschneiden muss, weil wir nicht mehr durch die Tür passen«, knurrte Cecilia.

»Nur für mich kochen?«, protestierte Oma Heidi, aber Cecilia winkte ab. Das Thema war für sie erledigt.


Kurschatten und Gänseblümchen

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