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Maja: Der ewige Hunger

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Maja schleppte die Tüten die Straße entlang und wünschte sich, sie hätte noch ihr Auto. Oder zumindest Geld für den Bus. Oder wenigstens ihren Stolz. Denn wenn man zur Bielefelder Tafel musste, um sich Lebensmittel zu holen, war davon nicht mehr viel übrig.

Wenigstens hätte Alex ja mitkommen und ihr Tragen helfen können. Aber der war selbst unterwegs, Pfandflaschen aus Mülleimern klauben und dann wahrscheinlich Bier kaufen, wenn das Geld reichte.

Maja und Alex lebten oder existierten vielmehr von Hartz-Vier. Maja hatte ihre Wohnung nach Olivers Auszug in eine betreute Wohngemeinschaft nicht mehr halten können, und war wegen ihrer Depressionen auch nicht mehr in der Lage gewesen, zu funktionieren. Nach längerer Krankheit verlor sie ihren Job und fand keinen neuen mehr.

Eine neue Wohnung hatte sie jedoch gefunden. Bei Alex. Den hatte sie - wie so viele heutzutage -, über das Internet kennengelernt, und war dann ziemlich schnell in eine eher verhängnisvolle Beziehung geschliddert.

Cecilia hatte es wie immer auf den Punkt gebracht: „Du bist dir selbst überhaupt nichts mehr wert, Maja. Du denkst, du hättest deine Ehe ruiniert und dass dich keiner mehr haben will. Und deswegen lässt du dich jetzt auf jemanden ein, der dich will. Auch wenn er gar nicht gut für dich ist.“

Lorena und Cecilia mochten Alex überhaupt nicht. Er war nicht unbedingt der typische Zahnlose, wie sie so gerne in Talkshows und dergleichen auftraten, aber etwas „in seinen Augen“ wie Cecilia es nannte, gefiel ihnen nicht. Und auch, dass er heftigst wegen Diebstahl, Hehlerei und Alkohol am Steuer vorbestraft war, weshalb er auch keinen Führerschein mehr besaß. Das kümmerte ihn aber herzlich wenig, und wenn ihm einer seiner Kumpel einen Wagen lieh, fuhr er trotzdem.

„Warum auch nicht? Mich hat noch nie wer kontrolliert. Dich etwa?“ Maja schüttelte den Kopf.

„Na siehste. Du bist viel zu vorsichtig, trau dich mal was!“ Aber Maja wäre es im Traum nicht eingefallen, ohne Führerschein Auto zu fahren. Ohne fahrbaren Untersatz stellte sich diese Frage allerdings sowieso nicht.

Schwitzend keuchte sie jetzt durch das schmutzige Treppenhaus ihres hässlichen Mietshauses. Putzen tat hier niemand, da mochte die Hausverwaltung drohen, soviel sie wollte. Die altmodischen Türen mit den Milchglasscheiben, die die meisten innen mit Vorhängen versahen, damit sie von außen ungesehen blieben, hatten meist keine Klingelschilder mehr, und dahinter ging es hoch her. Hellhörig war das Haus nämlich auch noch.

Maja kannte keinen der Nachbarn und wusste doch fast alles über sie. Nur die Familie ganz oben war bemerkenswert still. Alle anderen fochten ihre Streitigkeiten ebenso unbekümmert wie lautstark aus und schämten sich nicht für die peinlichen Einsichten in ihr intimstes Privatleben.

Maja schämte sich schon eher. Ihre Beziehung zu Alex gestaltete sich schwierig. Er war ein gut aussehender Mann mit einem kleinen, feinen Bärtchen und hübschen Augen, die er meistens halb geschlossen hielt. Etwas in diesem Blick ließ Cecilia frösteln und Maja wusste inzwischen, was sich dahinter verbarg. Aber da sie ihn nun einmal liebte, blieb sie und verschloss ihre Augen vor dem, was hinter seinen vorging.

Maja wühlte ihren Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. Natürlich hätte sie klingeln können, aber sie wollte sich Alex‘ muffigen Kommentar lieber ersparen.

Die kleine Altbauwohnung mit der hohen Decke sah in dem einfallenden Sonnenlicht auf den ersten Blick warm und freundlich aus. Erst auf den Zweiten sah man den vielen Staub und die Spinnweben an den Decken, die vergilbten Bilder an den Wänden und wie sehr das Nikotin die Tapeten verdunkelt hatte.

Im Wohnzimmer stand der gute Tisch mit der Glaseinlage, den Maja aus ihrer alten Wohnung mitgebracht hatte, voll mit leeren Bierflaschen und Gläsern. Die Fernbedienungen vom Fernseher, der Stereoanlage, dem DVD-Player und dem Satelliten Receiver gesellten sich dazu. Die waren noch dazu schmierig von getrocknetem Bier und Zigarettenasche. Auch die Fenster hatte Maja ewig nicht mehr geputzt. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr. Im Kühlschrank fanden sich Lebensmittel, die seit ewigen Zeiten abgelaufen waren. Auf manchen wuchs schon grüner Flaum. Aber Maja füllte einfach nur die Spenden der Tafel ein und schlug die Tür wieder zu.

Sie zuckte erschrocken zusammen, als Alex hereinkam. Sein dunkler Blick ließ sie kurz schaudern. Er trug ein schönes Sweatshirt und tadellos saubere Jeans. Sein Haar war blond und ebenso tadellos sauber und modern geschnitten. Nein, wie ein typischer Hartz-Vier Empfänger sah er nicht aus, aber das taten ja auch nicht alle. Nur Maja kam sich meistens vor wie ein wandelndes Vorurteil.

Alex pflegte sich. Nicht nur gewissenhaft, sondern schon fast fanatisch. Jeden Morgen wurde geduscht, das Bärtchen getrimmt, frische Kleidung angezogen, und wehe, wenn Maja die Wäsche nicht gemacht hatte und nichts da war. Dann konnte Alex zur Furie werden.

Schlank war er, und gut gebaut. Immer saubere Fingernägel. Er roch auch immer toll. Auch jetzt umwehte ihn ein Hauch von einem teuren Rasierwasser. Da sparte er an nichts. Alles andere mochte billig sein, auch aus der Mülltonne, aber nichts, was mit seinem Luxuskörper in Berührung kam, war billig oder zerrissen oder sonst wie kaputt.

Jetzt schaltete er den Wasserkocher an und nahm eine benutzte Tasse, die er mit löslichem Kaffee befüllte. Dabei musterte er sie von oben bis unten.

Maja fühlte sich sofort unwohl unter diesem abschätzigen Blick. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich an Pelle erinnert, der auch ein Schönling gewesen war und sie kräftig verarscht hatte. Alex hingegen lebte sogar mit ihr zusammen, und das erfüllte Maja mit einer gewissen Befriedigung. Sie hatte einen Freund, nach dem sich die Frauen umdrehten. Nur leider passte sie so gar nicht zu ihm. Aber was sollte sie tun? Neue Klamotten kaufen war finanziell nicht drin. Sie lebte von wenigen Euro im Monat, da man in einer Beziehung ja nicht einmal den vollen Satz bekam. Maja war das ein Rätsel. Dachte sich Vater Staat etwa, dass die Liebe den Magen ausreichend füllte? Oder warum bekamen Paare weniger als Einzelne? Maja fand das noch dazu widersinnig, denn wegen dieser paar Euro mehr, die für einen Hartz-Vier-Empfänger aber eine Menge ausmachten, trennten sich viele Paare und bezogen eigene Wohnungen, die den Staat noch teurer kamen.

Viele aus Alex’ Bekanntenkreis machten es so. Dass Alex mit ihr zusammenwohnte, fand sie nach wie vor merkwürdig. So verzichtete er auf Geld, was er nie freiwillig tat, und auch auf weibliche Gesellschaft. Denn flirten tat er oft und gerne, was Majas Herzen jedes Mal einen kräftigen Tritt versetzte.

„Haste Joghurts gekriegt?“, fragte er jetzt mit diesem Unterton, der in Maja Alarmglocken losschrillen ließ. Schnell riss sie den Kühlschrank wieder auf und wies auf die Reihe mit den Joghurts. Er nickte kurz und holte sich einen Löffel aus der vollgekrümelten Schublade. Maja machte, dass sie davonkam. Im Schlafzimmer zog sie sich wieder Leggins und ein T-Shirt an, in der Küche klingelte Alex’ Handy. Sie hörte ihn leise reden und wieder erstarrte ihr Herz, denn dieser leise, säuselnde Tonfall war ihr vertraut. Er sprach mit einer Frau. Schnurrte wie ein Kater.

Maja presste die Lippen zusammen und setzte sich aufs Bett. Es gab so vieles, wovor sie die Augen verschließen musste. Zwar hatte sie noch nie erlebt, dass Alex eine Frau anrief, aber er war ja nicht immer zu Hause. Wenn er Flaschen sammelte, wer konnte schon sagen, wo er noch hinging? Und wenn er nicht mit anderen Frauen herummachte, wieso riefen ihn dann ständig welche an? Seine Telefonnummer musste er ja erstmal herausgeben, oder hatte er die in jeden Baum im Park geschnitzt?

Sie hasste die Situation, in der sie steckte. Alleine wollte sie nicht sein, nie mehr, und jemand anderen finden gestaltete sich auch schwierig. Maja war nach wie vor dick, hatte sogar noch zugenommen und Geld für den Friseur war auch nicht mehr übrig. Lang und platt hing ihr das dunkle Haar am Rücken herunter. Die ersten Falten tauchten auch langsam auf. Und weil Alex die halbe Nacht am Computer saß, der im Schlafzimmer stand, bekam sie nur sehr wenig Schlaf.

Nein, das Leben verlief für Maja nach wie vor nicht sehr rosig.

Etwas neidvoll dachte sie an Lorena und Cecilia. Lorena suchte sich nach wie vor die Männer aus, schlief mit ihnen, und zog dann ihrer Wege. Cecilia war schon beinahe reich, zumindest aber sehr wohlhabend und schrieb ihre Bücher, was ihr viel Spaß machte. Beide Freundinnen sahen gut aus und Geld spielte für sie keine Rolle.

Nur sie, Maja, war arbeitslos und noch dazu unattraktiv. Nur selten fühlte sie sich in der Gesellschaft der beiden wohl und wäre am liebsten aus dem Zickenzirkel ausgetreten. Aber dann saß sie jeden Abend hier herum und fragte sich, wo Alex tatsächlich war, wenn er angeblich bei seinem Freund Bernd abhing, Bier trank und auf der Spielkonsole daddelte. Im Zirkel hatte sie wenigstens etwas zu lachen.

Dabei hatte das letzte Treffen ihr Unbehagen noch verstärkt, denn danach hatte sie fünfzig Euro in ihrer Jackentasche entdeckt, und noch immer fragte sie sich, wer von den beiden ihr das Geld zugesteckt haben mochte. Lorena vielleicht? Die hatte so abschätzend auf Majas lieblos herunterhängendes Haar geguckt und sich vielleicht erhofft, Maja möge davon zum Frisör gehen. Andererseits war Cecilia eher die, die unauffällig half und das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

Am liebsten wäre Maja von dem Geld tatsächlich zum Frisör gegangen, aber diesen Monat waren Alex und sie so extrem knapp gewesen, dass alles in Lebensmittel und eine neue Jeans für den schönen Alex geflossen war, denn seine Lieblingshose war am Po etwas durchgescheuert, ein Zustand, den er auf keinen Fall hinnehmen konnte.

Das Einzige, was sich Maja von dem Geld für ihr Haar geleistet hatte, war eine billige Plastikklammer gewesen, mit der sie ihre Zotteln jeden Morgen möglichst vorteilhaft hochsteckte. Im Fernsehen sah das immer richtig schick aus, bei ihr betonte es bloß, wie rund ihr Gesicht geworden war. Die langen Strähnen hingen nach längstens zehn Minuten wieder struppig wie bei einem Ackergaul heraus.

Auch die weiten T-Shirts, die sie tragen musste, um ihren dicken Hintern und den vorstehenden Bauch zu verdecken, waren alles andere als schön. Neben Cecilia und Lorena sah sie aus wie ein Walross. Kein Mann sah sie auch nur ein zweites Mal an, so schon nicht, aber wenn sie mit den beiden unterwegs war, erst recht nicht. Oft hatte Maja versucht, eine Diät durchzuhalten, aber wenn Alex abends weg war und Maja sich vorstellte, wie er auf irgendeiner anderen lag, verkrampften sich Herz und Magen und sie brauchte Schokolade und eine Tiefkühlpizza.

Ihr Leben, das war ihr klar, konnte so nicht weitergehen. Sie wollte es ja auch ändern, sich anders ernähren, mehr bewegen, abnehmen, hübscher werden … aber andererseits erschien ihr der nächste Tag passender, damit anzufangen. Sie hatte doch noch diese leckeren Kekse im Schrank, die erst weg mussten … oder die Eiscreme im Tiefkühler … die Pralinen in der Schublade … schon ewig ging das so.

War nichts da, womit Maja sich trösten konnte, wurde sie unruhig. Dann ging sie in der Wohnung hin und her und suchte nach Süßkram. Manchmal machte sie sich Schokoladenpudding, wenn nichts anderes da war, und wenn alle Stricke rissen, ging sie den langen Weg zur Tankstelle. Sonst überkam sie eine Art Zittern, wie einen Alkoholiker auf Entzug. Dass ihre Essanfälle eine Sucht waren, war ihr unbewusst klar, aber sie ließ dieses Wissen nicht in ihr Bewusstsein vordringen. Stattdessen spülte sie alle Ängste, Sorgen und Nöte wieder mit einer tüchtigen Dosis Essen herunter.

Sodbrennen und Magendrücken drängte sie mit Medikamenten zurück. Irgendwann gegen Mitternacht legte sie sich in ihr einsames Bett und wurde meistens vom Quietschen des Bürostuhls und dem Flimmern des Computermonitors geweckt. Nur unruhig fand sie danach wieder Schlaf und wachte erst am nächsten Vormittag wieder auf, manchmal sogar erst gegen Mittag, und fühlte sich völlig zerschlagen.

Zu dieser Zeit arbeitete Lorena schon lange, hatte ihre Frühstückspause hinter sich und freute sich schon auf einen Salat oder fettarme Kost in ihrer Firmenkantine. Und Cecilia hatte bereits zwei bis drei Stunden geschrieben und säuberte eines der Zimmer in ihrem Riesenhaus. Oder sie war unterwegs nach Frankfurt, zu ihrem Agenten, zu einer Lesung oder einer Autogrammstunde. Seit sie eines ihrer Horrorbücher mit ihrem eigenen Blut unterzeichnet und bei eBay versteigert hatte, klebten ihr die Reporter an den Hacken. Ja, Lorena und Cecilia machten etwas aus ihrem Leben. Maja hingegen nicht.

Der Gedanke daran nagte in ihren Eingeweiden. Es fühlte sich an wie Hunger. Maja öffnete den Kühlschrank und nahm sich einen großen Schokoladenpudding heraus. Und die Flasche mit der Sprühsahne.

Hungerkur und Gänseblümchen

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