Читать книгу Für immer und ein Vierteljahr - Sonja Roos - Страница 7

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Kapitel 3

Jana von Gödlitz stand in der großen Küche ihres Hauses und goss Weißwein in zwei entsprechende Gläser. »Und ihr wollt es echt nochmal miteinander versuchen? Warum?«, rief ihre älteste Freundin Sandra aus dem Wohnzimmer. Jana drückte den Rücken durch. Eine blöde Angewohnheit, doch das tat sie immer, wenn sie sich für irgendetwas wappnen musste. Mit einem nonchalanten Lächeln bog sie um die Ecke, die beiden Weingläser und eine Schale Nüsse auf einem Tablett balancierend. Sie stellte alles auf den kleinen Glastisch und nahm Sandra gegenüber auf dem Zweiersofa Platz. Geschäftig ließ sie den Wein in ihrem Glas rotieren. »Weichst du mir aus oder hast du mich nicht gehört?«, bohrte Sandra nach.

»Ich weiche dir nicht aus«, antwortete Jana und nippte an ihrem Getränk.

»Warum in Gottes Namen willst du es mit diesem Idioten noch mal probieren? Ich könnte jetzt noch kotzen, wenn ich an die Nacht denke, als ich dich ins Krankenhaus gefahren hab, während er sich durch die Niederlande vögelte.«

Jana verschluckte sich fast an ihrem Wein. Sandra hatte schon immer eine drastische Art gehabt, die Dinge auszudrücken, die so ganz anders war als die höfliche Zurückhaltung, zu der man sie erzogen hatte. Ihr erster Impuls war es einmal mehr, Marc zu verteidigen. »Ich glaube nicht, dass er mich damals betrogen hat«, sagte sie bestimmt, doch Sandra schnaubte nur humorlos.

»Selbst, wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, heute tut er es. Seine Affäre mit dieser Lydia ist ja kein großes Geheimnis mehr. Davon abgesehen, habt ihr die vergangenen Jahre aneinander vorbei gelebt, euch mit Missachtung gestraft, euch nicht mal mehr die Tageszeit gegeben. Du hast selbst gesagt, er hatte damals weder den Arsch in der Hose, um dich zu kämpfen, noch um den Kleinen«, schloss Sandra ihre Litanei und nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck, bevor sie ihre Freundin erwartungsvoll ansah. Jana seufzte tief.

»Wie sollte er um etwas kämpfen, das er längst verloren hatte, ohne es zu wissen.« Sie hatte mehr mit sich selbst gesprochen, als mit ihrer Freundin, doch Sandra ließ sich nicht so einfach die Zügel bei diesem Gespräch aus der Hand nehmen.

»Du weichst mir immer noch aus. Warum zum Henker willst du ihn denn jetzt zurück?« Sie starrte Jana aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an.

Jana schien eine Ewigkeit zu brauchen, um zu antworten. Als sie es tat, klang ihre Stimme rau und traurig. »In erster Linie geht es um Juli. Er braucht seinen Vater. Er entgleitet mir immer mehr, hängt mit den falschen Freunden ab, schwänzt die Schule, die Noten gehen in den Keller.« Sie zog ihre Füße an und setzte sich darauf, um das Zittern zu unterdrücken, das sie durchlief. »Vor ein paar Tagen hat ihn eine Nachbarin mit ein paar Schulfreunden drüben am alten Judenfriedhof gesehen. Sie haben geraucht und Bier getrunken.« Sandra sah sie ungläubig an und Jana nickte traurig. Sie konnte es selbst immer noch nicht recht glauben. Doch erst heute Morgen hatte sich wieder gezeigt, wie sehr Juli sich in den vergangenen Monaten verändert hatte.

Sie war müde und verschlafen zu seinem Zimmer gewankt, um ihn für die Schule zu wecken. Doch als sie vorsichtig in sein Zimmer spähte, sah sie, dass sein Bett unberührt war. Jana hatte sich am Türrahmen abstützen müssen, sonst wären ihre Beine unter ihr weggeknickt. Es war nicht das erste Mal, dass sich ihr Sohn nachts aus dem Haus geschlichen hatte. Seit er auf die neue Schule ging, war Juli so anders, verstockt und unnahbar. Jana glaubte, dass es der schlechte Einfluss dieser Jungs war, die behaupteten, Juli sei ihr Freund. Einer Eingebung folgend war sie zurück in ihr Zimmer gegangen, um auf ihr Handy zu sehen. »Ich penn heut bei Basti.« Die Nachricht war nachts um 23.58 Uhr geschickt worden. Wenigstens hatte er sich gemeldet, schoss es ihr durch den Kopf. Auch das war in letzter Zeit keine Selbstverständlichkeit. Erneut beschlich sie das ungute Gefühl, dass Juli ihr entglitt, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihn hatte. Dabei waren sie noch vor einem Jahr eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, ein Team, besonders, nachdem Marc ausgezogen war. Julis Versuche, sie zu trösten und zu beschützen und damit den Mann im Haus zu ersetzen, hatten sie gerührt, aber auch traurig und wütend gemacht. Wütend auf Marc, weil er gegangen war, und traurig, weil ihr kleiner Sohn dadurch so schnell erwachsen werden musste. In jedem Fall hatte Juli ihr immer alles erzählt, sie stets an seinem Leben teilhaben lassen und war bemüht, ihr so wenig Sorgen wie möglich zu bereiten. Seine Noten waren durch die Bank gut gewesen und er war bei Schülern und Lehrern in gleichem Maße beliebt.

Doch dann hatte sie sich von ihrem Vater überreden lassen und Juli auf dieser teuren, elitären Privatschule angemeldet und damit begannen die Probleme. Seine Noten waren in den Keller gerutscht, er fand nur schwer Anschluss und wurde zunehmend stiller und in sich gekehrter. Und dann waren diese feinen Früchtchen aufgetaucht. Jana war sich sicher, dass zumindest der eine bereits eine steile Karriere als Kleinkrimineller angetreten hatte. Die anderen waren reiche, verwöhnte, gelangweilte Bengel, denen sie die Gemeinheit hinter der falsch-freundlichen Fassade bereits beim ersten Treffen angesehen hatte.

Jana schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. Verzweiflung machte sich wieder in ihr breit. Wie hatte das passieren können? Wie war ihr süßer Sohn, der vor gar nicht allzu langer Zeit noch geschworen hatte, dass er sie eines Tages heiraten und immer lieben würde, zu einem zornigen, introvertierten Teenager mutiert? Vor ihren Augen und ohne, dass sie irgendetwas dagegen tun konnte. Sie holte tief und geräuschvoll Luft und bemerkte dann erst, dass Sandra sie die ganze Zeit über durchdringend gemustert hatte.

»Und du denkst, sein Erzeuger hätte da einen besseren Einfluss auf ihn?« Sandras Stimme klang mehr als skeptisch. Jana hatte keine Ahnung, allerdings auch keine anderen Optionen. Sie würde es versuchen müssen. Für Juli. Egal, wie sie sich dabei fühlte. Egal, wie viel Wut allein Marcs Anblick in ihr auslöste. Müde rieb sie sich über ihr blasses Gesicht und schloss die Augen. »Und was ist mit ihm? Schließlich ist Marc doch jetzt mit dieser billigen Daniela-Katzenberger-Kopie zusammen und trotzdem würde er wieder hier einziehen? Da ist doch was faul? Komm schon, Jana, raus mit der Sprache, was steckt dahinter?«, bohrte Sandra nach. Fast hätte Jana gelacht. Die Sache schien ihr selbst so absurd, dass sie nicht einmal ihrer besten Freundin die Wahrheit sagen konnte. Dass sie nämlich ihren eigenen Mann dazu erpressen musste, dass sie noch nicht einmal wusste, ob er sich überhaupt auf diesen faulen Kuhhandel einlassen würde.

Als Sandra merkte, dass Jana ihr darauf nicht antworten würde, ließ sie das Thema irgendwann ruhen. Sie sprachen stattdessen über Belangloses, über ein Buch, das Sandra gelesen hatte und dessen Titel Jana sich nicht merken konnte. Über Sandras Flirt mit ihrem Kollegen, über die neuen Folgen von »Der Bachelor«. Jana blieb mit durchgedrücktem Rücken und leerem Gesicht sitzen und wünschte sich, endlich alleine zu sein. Sie hatte genug, worüber sie nachdenken musste. Endlich, gegen elf, war Sandra aufgebrochen.

»Du solltest mehr auf dich achten. Du siehst müde aus und abgenommen hast du auch«, sagte ihre Freundin zum Abschied, als sie Jana in eine feste Umarmung schloss. Jana kehrte danach ins Wohnzimmer zurück, um aufzuräumen, als sie die Haustür leise ins Schloss fallen hörte.

»Juli?«, fragte sie ungläubig in die Stille. Er hätte längst im Bett sein sollen, schien sich aber einmal mehr über ihre Anweisungen hinweg gesetzt zu haben. Sie ging in den Flur und schaltete das Licht an. Dort stand er, das Ebenbild seines Vaters, die gleichen grünbraunen Augen, den gleichen zornigen Ausdruck um den Mund. Er war ganz in Schwarz gekleidet, eine Kapuze bedeckte sein rotbraunes, kurzes Haar und er umklammerte mit beiden Händen einen dunkelblauen Rucksack. »Wo kommst du her?«, fragte sie scharf und bemerkte gleich, wie sein ganzer Körper auf Abwehr schaltete.

»Was interessiert dich das?«, schoss er zurück, nicht minder aggressiv. Sein Tonfall nahm die Spannung aus ihrer Haltung. Sie schien förmlich in sich zusammenzusacken.

»Juli, es ist mitten in der Woche, du hast morgen Schule. Warum in Gottes Namen schleichst du hier herum?« Er wich ihrem Blick aus. Ein sicheres Indiz dafür, dass er etwas zu verbergen hatte.

»Ich bin müde, Mama, können wir nicht morgen darüber reden?« In diesem Moment hörte er sich wieder wie der kleine Junge an, der er gestern noch gewesen war. Sie atmete hörbar aus.

»Wenn du mir versprichst, dass wir morgen auch wirklich darüber reden, dann okay.« Auch aus ihm wich die Spannung sichtbar, seine Schultern, die in den letzten Monaten deutlich breiter geworden waren, sackten nach vorne.

»Okay. Nacht.« Er drehte sich um und wollte schon in Richtung seines Zimmers gehen, als er plötzlich stehen blieb und wieder zu ihr kam. Mit einem Arm umfasste er sie sanft und drückte sie. »Danke, Mama«, flüsterte er, bevor er durch den langen, dunklen Flur verschwand. Gerührt wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. Sie betete, dass Marc sich auf dieses Angebot einlassen würde. So wenig durchdacht und wahnwitzig die Sache auch war, doch wenn es Juli half, würde sie alles auf sich nehmen. Für ihn war es das alles wert.

Juli lehnte zitternd an seiner Zimmertür. Er hatte eigentlich gehofft, dass seine Mutter schon schlief, sie war sonst abends immer so müde und lag oft mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund unter der Wolldecke im Wohnzimmer, während der Kamin langsam herunterbrannte. Aber ausgerechnet heute war sie noch wach. Er war gegen sieben aus dem Fenster seines Zimmers geklettert und dann mit seinem Mountainbike, das er zum Geburtstag bekommen hatte, zum alten Judenfriedhof geradelt. Obwohl es Spätsommer war, begannen die Abende schon kühl zu werden und gegen neun setzte die Dämmerung ein. Juli mochte den Friedhof nicht. Die dunklen Grabreihen waren ihm unheimlich. Aber da die Jungs aus seiner Clique nun mal dort abhingen, wollte er nicht vor ihnen als Feigling dastehen. Also ging er durch das quietschende Tor, vorbei an den verwitterten, windschiefen Gedenksteinen, auf denen Namen wie Abraham und Rahel Goldstein oder Samuel und Sara Rosenthal standen. Hier und dort brannten einsame Grablichter. Er hörte die anderen schon von weitem. Laute Musik dröhnte aus einem Handy, sie rülpsten und schossen scheinbar wieder mit Vadims Luftgewehr auf leere Bier­dosen. Er gab brav die Lieferung ab und nippte dann lustlos an einem Bier, das sie ihm aufnötigten. Gegen elf verabschiedete er sich unter dem lautstarken Protest der Jungs und radelte mit pochendem Herzen wieder nach Hause, wo er direkt in die Arme seiner Mutter lief. Großartig. Juli schob den blauen Rucksack in die hinterste Ecke unter seinem Bett und zog sich einen Schlafanzug an. Dann setzte er sich Kopfhörer auf, hörte viel zu laut Bushido und verfluchte sein Leben.

Für immer und ein Vierteljahr

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