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Rückzugsgedanken, kenn ich. So ’ne kleine Flucht aus dem Alltag, es gibt nichts Besseres.« Das raue Lachen der Vermieterin schallte durch die Küche. Schwarz, Gold, Silber, andere Farben gab es hier nicht. Wie auf einer Raumstation, dachte Jona und trank ohne mit der Wimper zu zucken den Tütenespresso, den Frau Keiler vor sie gestellt hatte. Dass diese Frau gelegentlich aus dem Alltag ausbrach, glaubte sie ihr aufs Wort. Was für eine Energie. Selbst ihr Lachen war dynamisch.

Als die Türklingel ging, sprang sie mit den Worten auf, das sei bestimmt einer ihrer zukünftigen Mitmieter.

Jona sah ihr nach. Zwanzig Minuten Smalltalk, ein Lächeln bei der Erwähnung der Immobilienhaie im Viertel und die schnörkellose Wahrheit über den Grund ihrer Zimmersuche hatten ihr die Tür geöffnet. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Der Preis war unfassbar günstig. Wie gut, dass sie durchs Dichterviertel gefahren war, statt zu Steiner ins Präsidium. Einen Moment wurde ihr heiß. Nur da hatte sie der Wahrheit einen kleinen Schnörkel verliehen. Was er wohl dazu sagen würde, dass sie einen Lehrer aus ihm gemacht hatte?

Sie trat ans Fenster. Rasen, Büsche, eine Hecke, deren ungeschnittene Zweige in alle Richtungen zeigten. Für dieses Viertel nahm sich der Vorgarten schmucklos aus.

Von hier sah man, wie unauffällig sich das gusseiserne Gartentor zwischen die hohen Bäume schmiegte. Kein Wunder, dass es von der Straße kaum zu sehen war.

»Gefällt Ihnen die Aussicht?« Frau Keiler stand im Türrahmen und musterte sie unverhohlen. »Hintenraus ist es gepflegter. Und von oben nochmal anders.« Sie klimperte mit dem Schlüssel in der Hand.

Zwei Minuten später unterdrückte Jona einen kleinen Freudenschrei. Die Zwölfquadratmeterbude, wie es die Vermieterin nannte, besaß weder Schrägen noch eine Dachluke, sondern ein großes Fenster. Helles Licht floss in den Raum und auf den Steinboden. Eine olivgrüne Tapete mit goldenen Ornamenten zierte die Wände.

»Sie können natürlich auch neu tapezieren. Ihr Vormieter fand Geschmack daran.« Ihr Lachen klang nach zwei Schachteln Zigaretten am Tag. »Toilette ist über den Gang, mit etwas größerem Waschbecken.«

Jona öffnete einen der Fensterflügel. Der Ausblick hatte etwas Erhabenes; über die Baumkronen hinweg konnte sie auf das stuckverzierte Wohnhaus jenseits der Straße sehen. Daneben, etwas zurückgesetzt, dieses Baugerüstmonster. Hier entstehen Eigentumswohnungen für Sie, las sie ein zweites Mal, diesmal von oben. Am Horizont ragte der schlanke Fernmeldeturm in den Himmel, und die Miete, die Frau Keiler ihr noch einmal bestätigte, zerstreute jeden Zweifel.

Als sie eine Viertelstunde später das Haus verließ, sah sie das Dornbuschviertel mit anderen Augen.

In der Praxis empfing sie das Plätschern des Sandsteinbrunnens, und eine von Utes Patientinnen, über eine Zeitschrift gebeugt, nickte ihr vom Wartebereich aus zu. Wie schaffte Ute dieses Arbeitspensum, eine Sitzung nach der anderen? Erst kurz vor eins werkelte ihre Kollegin in der Praxisküche. Jona stürzte aus ihrem Sprechzimmer.

»Endlich. Setz dich mal, ich muss dir was erzählen.« In wenigen Worten schilderte sie ihren Beinah-Sturz über eine Filmrolle, die ihren Blick zu einem Sperrmüllhaufen gelenkt hatte, der wiederum zur Villa, zur Vermieterin, zu ihrem neuen, außergewöhnlichen Dachatelier.

»Ein Zimmer im Dichterviertel? Hast du nicht letztes Jahr noch gesagt, keine zehn Pferde …«

»… das ist was anderes. Die Gegend da ist voller Schönheit und Widersprüche. Die lebt.«

»Aha.« Ute streifte ihre Espadrilles von den Füßen und zog ihre Füße auf den Stuhl. »Und was willst du dort machen?«

»Pass auf: Zwölf Quadratmeter, lichtdurchflutet. Eine komplette Wand wird Leinwand. Kühlschrank auf der anderen Seite. Meine Musikanlage daneben. Über den Steinboden kommt ein dicker, roter Teppich, und darauf mein Futon. Dann kann ich vorm Einschlafen direkt in den Himmel sehen.«

»Ich denke, du willst zu Ulf ziehen?«

»Da ist ja noch sein Sohn, schon vergessen? Wir brauchen mehr Platz.«

Utes Gesichtsausdruck war unmissverständlich.

»Okay. Ich brauche mehr Platz. Noch habe ich nicht unterschrieben. Termin ist morgen früh. Aber ich glaube, ich mache das. Diese Dachkammer schickt der Himmel.«

»Na, da bin ich ja mal gespannt, was dein Superbulle dazu sagt.«

Ihre Blicke maßen sich aneinander, bis die Türklingel die Stille zerriss und Ute lächelnd aus der Küche ging.

Es dämmerte bereits, als Jona ihre Praxis verließ und den Weg über die Adickesallee nahm. Steiner saß wie verabredet in seinem Mercedes, als sie auf den Parkplatz des Präsidiums vorfuhr. Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund.

»Heute ist dein Abend«, er nahm einen Helm vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. »Essengehen, Wohnungsangebote im Internet suchen oder andere Dinge, die dir Freude bereiten.« Die Fahrertür schlug zu.

»Und Jakob?«

»Bei einem Freund. Die machen Party heute Abend. Ich habe ihm erlaubt, dort zu übernachten.«

»Dann lass uns spazieren gehen.«

»Ostpark?«

»Lieber hier ein bisschen. Es wird bald dunkel.«

»Hier?« Steiner ließ seinen Blick von der Adickesallee über die Kreuzung zur Eschersheimer Landstraße gleiten. Dicht an dicht jagten die Autos stadtauswärts.

Kurz darauf fädelten sie sich mit der Vespa in den Feierabendverkehr ein. Der Sinaipark war nur wenige Minuten entfernt, beim Spaziergang zwischen der Wiese und dem angrenzenden Naturschutzgebiet würde sie ihm von ihrem neuen Atelier ganz in der Nähe erzählen. Steiner tippte gegen ihre Schulter und rief etwas.

»Sind gleich da«, brüllte sie nach hinten und parkte wenig später den Roller auf dem Gehsteig.

»Voilá, der schönste, kleine Stadtpark Frankfurts.«

»Lass uns anderswo spazieren.«

»Warum denn?«

»Arbeit«, sein Blick glitt zum Park und verweilte dort, als spiele sich hinter den Büschen ein Schauspiel ab, das nur er sehen konnte. Jona spürte die Anspannung, die von seinem Körper ausging. Es dauerte eine Weile, bis er das Schweigen brach. »Ich war erst Montagabend hier. Mit Kovac, meinem Kollegen. Eine Hundebesitzerin ist spätabends über eine Leiche gestolpert. Den Jogger, von dem ich dir erzählt habe. Wie er dalag, blutüberströmt, der Körper verdreht, in diesen Sportklamotten.« Ulfs Stimme klang plötzlich heiser. »Entschuldige.«

»Ist doch okay.« Sie lächelte aufmunternd.

Natürlich fiel seine stoische Ruhe nicht vom Himmel. Wieso hatte sie sich nicht klargemacht, dass Ulf ein so feiner und erfolgreicher Kommissar war, weil er für seine innere Balance sorgte.

»Magst du erzählen oder vielleicht mal mit mir an den Ort gehen?«

»Das ist nichts für …«

»Therapeutinnen?« Sie zwinkerte und verstaute ihren Helm im Topcase.

Der Sinaipark war trotz der einsetzenden Dämmerung noch belebt. Auf dem Streetballplatz spielten Jugendliche Basketball, vereinzelt keuchten Läufer an ihnen vorbei. Es dauerte nicht lange, bis sie die gegenüberliegende Seite des Parks erreicht hatten. Dort, wo kurz hinter der Biegung des Schotterwegs ein weiterer zu einem Spielplatz führte, säumte ein Bankcarré die kleine freie Fläche. Jona setzte sich auf eine der Bänke und besah sich das, was vor Kurzem ein Tatort gewesen war. Nur eine feine Schicht Sand, von etlichen Schuhsohlen zertreten, wies noch darauf hin, dass hier Blut geflossen war. Auch Ulf starrte auf die Stelle.

»Hast du eine Idee, warum hier, in der Nähe der Häuser?« Jona schlang ihre Jacke fester um sich. »Wo man von den Balkonen aus alles beobachten kann. Du hast gerade gesagt, der Mord ist gegen neun Uhr abends verübt worden, da werden doch Hunde ausgeführt. Und durch diesen Seitenarm kann jederzeit jemand den Park betreten.«

»Vielleicht ließ es sich hier gut warten. Die Bäume gegenüber bieten Sichtschutz.«

»Es war doch ohnehin dunkel.«

»Der Tote trug eine Grubenlampe auf dem Kopf. Die war vollkommen zerschmettert. Die Scherben … ach, egal.«

»Ulf. Ich hab in meiner Praxis schon ganz andere Sachen gehört.«

Es war schon zu dunkel, um Ulfs Blick zu erkennen, der lange auf ihr lag. »Wenig Kampfspuren. Aber viel Blut. Elf Einstiche; da hat jemand eine Rechnung beglichen.« Er ging in die Hocke und strich mit der Hand über einen Baumstamm, der am Wegrand stand. »Die KT hat hier Reste einer Nylonschnur gefunden, und Rindenabrieb. Der Täter hat die Schnur zwischen diesen Baumstamm und die Buche neben deiner Bank gespannt und dann im Schutz der Bäume auf sein Opfer gewartet.«

»Aber nicht lange. Den Park umrundet man in sechs oder sieben Minuten.«

»Genau. Glück für ihn, dass niemand vorher vorbeiging und stürzte.«

»Du weißt nicht, wie oft er es probiert hat«, erwiderte Jona. »Wieso eigentlich »er«?«

Verdutzt sah Steiner auf. Zwei Hunde kamen über die Wiese geschossen und jagten an ihnen vorbei. »Ich hatte dein kriminalistisches Gespür verdrängt.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Meine Kollegen haben sämtliche Mieter der Wohnanlage befragt. Keiner hat etwas gesehen.«

Jona ließ ihren Blick über die Häuserreihen mit den ausladenden Balkonen gleiten. Die Lichter in den Fenstern sahen einladend aus. »Schafft das denn eine Frau überhaupt, einen sportlichen Typen mitten im Lauf zu überwältigen?« Jetzt lief doch ein kleiner Schauer über ihren Rücken. Steiner saß mittlerweile neben ihr auf der Bank. Seit er über den Mord sprach, wirkte er gefasster. »Er war chancenlos. Erst der Sturz. Und dann ging ein Messerstich direkt in seinen Hals. Die Rechtsmedizin meinte, es könnte der erste oder zweite gewesen sein, der dann auch tödlich war. Danach hat jemand nur noch wie besinnungslos auf ihn eingestochen. In den Arm, in den Bauch, in seine Genitalien.«

»Rache«, entfuhr es Jona.

»Oder jemand, der es wie Rache aussehen lassen wollte«, wandte Steiner ein. »Ein Immobilienmakler, Mitte dreißig, sportlich, in einer persönlichen Krise kurz vor der Scheidung. Auch beruflich lief es wohl gerade nicht so gut.«

»Wieso lief es beruflich nicht gut? Ich denke, er war Makler. Die schwimmen doch in Geld.« Sie vernahm, wie Ulf scharf Luft einzog und legte beschwichtigend eine Hand auf sein Bein.

»Anscheinend war er nicht besonders beliebt. Er kapselte sich in letzter Zeit laut seiner Kollegen immer mehr ab. Auch von seinem neuen Domizil wussten die wenigsten. Das Arbeitsverhältnis hätte nächsten Monat geendet – im gegenseitigen Einvernehmen.«

»Seltsamer Zufall. Gibt es da keinen Verdächtigen?«

Steiners Blick war eindeutig. Sie hatte Vorurteile gegen die ganze Branche. Gut, dass sie nicht ermittelte.

»Und seine Frau?«

»Hat keine Miene bei der Nachricht seines Todes verzogen.«

Ein Terrier mit rotem Leuchthalsband tippelte an ihnen vorbei und bohrte seine Schnauze in den Sandflecken, bevor ein schriller Pfiff ihn zurückflitzen ließ. »Wahrscheinlich war sie komplett überfordert«, sinnierte er. »Ich stelle mir das schwierig vor, wenn du dich nach einer Ehekrise trennst und dein Ex-Partner genau nach der Trennung ermordet wird. Und du bleibst mit deiner Wut und deiner Trauer zurück.«

»Noch-Mann.«

»Wie bitte?«

»Per Gesetz waren sie noch verheiratet. Das Ex bezieht sich also nur auf ihre Gefühle füreinander.«

Jona starrte auf den Sandflecken. Aus dem brutal ermordeten Jogger war innerhalb weniger Minuten ein unglücklicher Immobilienmakler mit Ehe-und Finanzproblemen geworden. Wie ein Fremdkörper kroch Ulfs Arm um ihre Schulter.

»Manchmal bist du mir unheimlich. Deine Formulierung hat ein Motiv ins Spiel gebracht. Aber wir haben die Vermögensverhältnisse schon ermittelt. Das Haus gehört seiner Frau.«

»Das ist doch schon mal gut«, sagte Jona gedankenversunken, während das Wort Domizil in ihrem Kopf Schleifen zog. Sie sollte aufhören, über geheime Domizile zu reden, bevor sie Steiner von ihrem eigenen erzählt hatte.

»Lass uns ein wenig laufen«, schlug sie vor, »mir ist kalt.«

Faule Mieten

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