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Jona erwachte vom Läuten der Kirchenglocken. Das Kabel mit der nackten Glühbirne hing über ihr wie eine weiße Sonne, deren Licht erloschen war. Wenn sie ihren Nacken überstreckte, konnte sie in den farblosen Himmel sehen. Aber das war keine gute Idee. Der Schmerz schoss sofort zwischen ihre Brauen. Sie schloss die Augen und tastete nach dem Handy. Zehn Uhr. Und keine Nachricht von Ulf. Um diese Uhrzeit hatte er längst mit seinem Sohn gefrühstückt. Automatisch wählten ihre Finger die vertraute Nummer und drückten die Verbindung wieder weg. Der Gedanke, einfach so seine Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, war seltsam.

Sie lag in einem Paralleluniversum, abgeschnitten von ihrem bisherigen Leben, randvoll mit Bildern und Eindrücken der letzten vierundzwanzig Stunden. Kaum zu glauben, dass über ihnen das gleiche Flugzeug am Himmel seine Kondensstreifen zog.

Wie sollte sie Ulf die ganze Geschichte erzählen, die mit einem Sperrmüllhaufen begann und in der Küche von Maren Keiler endete, jetzt, wo ihnen diese Leiche dazwischengekommen war, die Leiche des Toten, in dessen Mansarde sie lag. Es musste sich um die Mansarde des ermordeten Immobilienmaklers handeln, von der Ulf im Park erzählt hatte, warum sonst war er im Garten der Villa gewesen? Das konnte doch kein Zufall sein.

Sag einfach die Wahrheit, hatte Ute ihr am gestrigen Abend nach dem zweiten Calimocho beim Spanier geraten. Und das so schnell wie möglich. Nach ihrem vierten Calimocho hatte sie ihr nahegelegt, bis zum nächsten Tag zu warten.

Jona stand auf und spülte eine Kopfschmerztablette mit eiskalter Cola hinunter. Ihr Designerkühlschrank, ihr Futon auf dem roten Teppich und zwei Eimer mit Pinseln und Farbtuben in der Ecke. Sie konnte nicht verhindern, dass der Anblick ihres neuen Zimmers sie glücklich machte. Eine Künstlerbude. Wann wurde sie erwachsen? Morgen würde ihr geregeltes Leben in der Praxis weitergehen. Sie musste mit Ulf reden. Und davor frühstücken. Ob es im Wohnviertel um diese Uhrzeit irgendwo Schokocroissants gab?

Zwanzig Minuten später nippte sie zwischen Süßigkeiten und Kaltgetränken an einem Espresso. Vom Ofen in ihrem Rücken zog ein Duft nach frischen Brötchen durch den Raum. Sonntagmorgens glich die Tankstelle einer Bäckerei. Kaum jemand tankte. Eine Angestellte reichte Backwaren, Getränke und Zeitungen über die Theke, aus den Boxen rieselte Popmusik. Auch eine Art, die Menschen aus dem Viertel kennenzulernen. Jona lächelte der Frau hinter der Theke zu. Ihr gefiel der Ort. Ob Ulf hier tankte? Das Präsidium lag in der Nähe. Wie oft war sie in Versuchung gewesen, ihn anzurufen. Bei der letzten Fahrt zwischen Bornheim und der Villa im Dornbusch hatte sie den Weg über das Nordend genommen, um dann doch nicht in die Neuhofstraße einzubiegen. Seit wann wich sie Konflikten aus?

Wieder schob sich sein müdes Gesicht in ihre Erinnerung. Er bat um Schonung, und in ihr explodierten die Wünsche. Es muss doch mehr als Alles geben, hörte sie ihren Vater spöttisch sagen und leerte den Pappbecher bis zum letzten Tropfen, doch auch der zuckrige Bodensatz konnte diesen Gedanken nicht versüßen.

Das in Papier gewickelte Schokocroissant wurde ihr über die Theke gereicht. Sie drückte der Angestellten einen Fünfeuroschein in die Hand und verließ die Tankstelle. Auf dem Gehsteig hinter den Zapfsäulen eilte eine schmale Gestalt in Sportanzug dem Park entgegen. War das die scheue Mieterin von gestern? Hanna Vers? Jona fixierte die Frau. Ihr Gang wirkte selbst auf die Distanz getrieben. Ein Tuch verdeckte die Hälfte ihres Gesichtes. Aber die Haare und die Körperhaltung verrieten sie. Ohne nachzudenken, überquerte Jona die Tankstellenanlage und folgte ihr. Hanna Vers war schon in den Schotterweg des Parks eingebogen. Mit am Körper abgewinkelten Armen schritt sie aus. Trieb sie Sport? Bei dem gestrigen Sektumtrunk hatte sie geistesabwesend gewirkt und war erst nach einer Weile aufgetaut. Umso erstaunlicher ihre Einladung auf eine Tasse Tee, als sie sich noch einmal kurz am Treppenabsatz begegnet waren. Sie schien einsam. Ihr Lächeln, die verkrampften Schultern. Und dann ihr Schweigen, als sie sich gegenübersaßen. Der Blick voll stummer Erwartung. Warum, verdammt, musste sie immer auf so etwas reagieren. Ob es ihr nicht gut ging. So etwas fragte man doch nicht beim ersten Treffen. Hanna Vers schien nur darauf gewartet zu haben.

Ein Liebespaar kam ihr entgegen. Jona wich den beiden aus und bemühte sich um einen Schlendergang. Der Park war übersichtlich; wenn Hanna Vers ihn umrundete, würde sie sie zwangläufig irgendwann sehen oder an ihr vorbeilaufen. Die einzige versteckt liegende Bank, die ihr einfiel, war die am Tatort. Aber das war perfide. Als sie ihren Blick wieder nach vorn wandte, war Frau Vers verschwunden.

Erleichtert biss Jona in ihr Croissant. Unter ihren Sohlen knirschte der Schotter, die Vögel zwitscherten. Sie würde ihren Spaziergang fortsetzen, ohne nach ihrer Nachbarin zu forschen. In der Praxis begegneten ihr täglich genug Neurosen. Aber seltsam war ihr plötzliches Abtauchen doch. Sie ließ ihren Blick schweifen und erhaschte auf dem gewundenen Pfad ins Gehölz einen Fetzen des bordeauxroten Sportanzuges. Was machte Frau Vers im Gestrüpp der Sinai-Wildnis? Jetzt bückte sie sich. Hatte sie etwas verloren an diesem gefällten Baumstamm, hinter dem sie erneut verschwunden war? Irritiert näherte sich Jona dem Pfad. Noch immer schien ihre Nachbarin wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich tauchte sie auf und stand wie eingefroren. Ob sie Hilfe brauchte?

Der Himmel war inzwischen fahl, aber immerhin pochte es nicht mehr hinter ihrer Stirn. Nur ihr Denken schien verlangsamt. Keine Eingriffe, keine Übergriffe, befahl sie sich im Geiste. Was gingen sie die Marotten ihrer Mitmieterin an? Sie war gestern schon viel zu tief in das Gespräch über Ängste und Selbstzweifel eingestiegen.

Erst nach endlosen Sekunden wandte sie sich ab und folgte dem Schotterweg bis zum Ende des Parks. Rechts ging es in eine Grünanlage. Ihre Gedanken wanderten zu Ulf. Wie es schien, hatten sie den ersten richtigen Konflikt. Es war 36 Stunden her, seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, und sein fassungsloser Blick im Garten der Villa ging ihr nach.

Sie blieb an einem Bronzekunstwerk stehen. Ein Mann saß auf einer Bank, ein zweiter stand abgewandt hinter ihm. Die perfekte Nichtkommunikation. Willkommen im Club, dachte sie und wählte, nachdem sie sich neben der sitzenden Skulptur niedergelassen hatte, Ulfs Nummer. Keine fünf Sekunden später hatte sie ihn in der Leitung.

***

Die Stufen zum Eingangsportal des Polizeipräsidiums kamen ihr steiler als sonst vor. Am Empfang wusste man bereits von ihrem Besuch. Die Beamtin hinter der kugelsicheren Trennscheibe gab das Drehkreuz frei. Das letzte Mal hatte sie den Innenhof in Vorfreude auf Ulfs Umarmungen überquert und es nicht erwarten können, durch die langen Gänge des hinteren Gebäudes zu seinem Büro zu kommen. Jetzt schien es ihr mit jedem weiteren Schritt unmöglicher, seiner Bitte, ins Präsidium zu kommen, gefolgt zu sein. Es war sein Bereich, sie eine Besucherin.

Ulf telefonierte mit dem Rücken zu ihr, als sie die angelehnte Tür des Büros aufschob. Graues Licht floss in den Raum, der ihr verändert vorkam. Vielleicht, weil vor dem Whiteboard eine zusätzliche Stellwand stand. Bevor sie sich bemerkbar machen konnte, beendete Steiner das Telefonat.

»Entschuldige.«

»Bist du im Dienst?«

»Nein.« Er bat sie ins Zimmer. Wie bei einer Vorladung. Mit spröder Stimme lehnte sie ein Wasser ab. Zwei Meter zwischen ihnen, und keine Regung in seiner Miene.

»Das, was ich dir sagen muss, wird dir nicht gefallen.« Er trat zur Stellwand und tippte mit dem Finger auf das Foto einer brutal erstochenen Leiche in Jogginganzug.

»Dein Vormieter«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er wohnte nicht zufällig in dieser Villa. Sein Kollege Moritz Krampner gab gestern zu Protokoll, dass Torben Fischer geradezu verbissen gewesen sei, dieses Anwesen unter Vertrag zu kriegen. Er war verschuldet, und das Haus, in dem er vor seiner Trennung lebte, gehört seiner Frau. Wie du ja bereits weißt.«

Jona starrte auf die hingestreckte Person und musste an die olivfarbene Tapete denken, auf die der junge Mann noch kurz vor seinem Tod geschaut hatte.

»Keiner in der Firma hat es geschafft, die Besitzerin umzustimmen«, fuhr Steiner fort, »und Fischers Name kannte sie bis dato nicht.«

»Maren Keiler?«

»Wir reden von Traute Wismar. Die Frau Keiler das Haus im Falle ihres Todes zugedacht hat.«

»Und die ist jetzt tot?« Jona musterte die schmalen Augen hinter den Brillengläsern. Sie waren rot gerändert.

»Seit zweieinhalb Monaten. Die Erbangelegenheit läuft noch. Und vermutlich rechnete sich Fischer bei der neuen Vermieterin Chancen oder zumindest einen gewissen Einfluss aus.«

»Das ist Spekulation.«

»Eine Hypothese. Nimm seinen Laptop. Wir wissen nicht, wer die Daten geschreddert hat. Aber dass sie vor seinem Tod vernichtet wurden, hat die KTU bestätigt. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Torben Fischer es selbst getan hat. Sensible Daten vielleicht über das Haus, die Vermieter, über Vermögensverhältnisse.«

Aus dem Flur drangen Stimmen. Mit zwei Schritten war Ulf bei der Tür und drückte sie leise ins Schloss. Sensible Daten. Wahrscheinlich durfte er kein Wort davon preisgeben. Sie trat näher an die Stellwand. Ein Männername stand links vom Foto des Toten, und rechts der Name ihrer Vermieterin.

»Da haben wir Moritz Krampner, der gestern im Präsidium war. Er sagt, sie würden sich auch privat gut verstehen. Und …«, Ulf stand plötzlich so dicht neben ihr, dass ein Hauch seines Aftershaves zu ihr wehte, »… er war noch am Montag zwei Stunden vor seinem Tod bei ihm.«

Ob das schon verdächtig sei, hörte Jona sich fragen, während ihr die Kraft aus den Knochen wich. Wieso diskutierte sie mit Ulf über den Fall, statt endlich die Worte auf ihre Dachkammer zu lenken, statt ihn zu berühren, irgendwie, um diesen Bann zu brechen?

»Wenn er uns das freiwillig gesagt hätte, nein. Wir mussten ihn erst mit der Handyauswertung von Fischer konfrontierten. Er war der letzte Anruf auf seiner Liste. Angeblich bot Krampner ihm an, vorübergehend bei ihm zu wohnen.« Steiner räusperte sich. »In der Ermittlungsarbeit wimmelt es von guten Menschen und edlen Motiven.«

»Und Frau Keiler?«

»Schien perplex, als sie von seinem wahren Beruf erfuhr. Ihr wird die Villa gehören und eine Barschaft. Da gibt es noch eine enterbte Tochter von Frau Wismar, der ein Pflichtanteil zusteht. Wenn man sie findet. Astrid Wismar hat sich seit Jahren von ihrer Mutter und dem ganzen Spießerland, wie es der Notar formulierte, losgesagt. Eine Aussteigerin.«

Aussteigerin. Jona trat einen Schritt zurück. Unwillkürlich musste sie an Ute denken, die letztes Jahr auf eine kleine Insel ausgewandert war, um dann nach Monaten in der Praxis zu stehen, als sei nichts gewesen. Auswandern, wie weit war das weggerückt von ihr. Sie hatte jetzt zwei Zuhause. Wenn sie so weitermachte, bald keines mehr.

»Warum steht denn dann Frau Keilers Name an der Wand?«

Ulf zog seine Brille ab und wischte sich über die Augen.

»Setz dich mal.«

Sie rollte den Drehstuhl zu sich und verfolgte, wie Ulf aus dem Vollautomaten in der Ecke zwei Espresso zog. Sie wollten an diesem Wochenende gemeinsam nach einer Wohnung suchen. Vielleicht hatte sie alles kaputt gemacht. Der Blick, den er ihr von der Stellwand zuwarf, war nicht zu deuten.

»Bist du wirklich in diese Villa gezogen?«

»Ausgewichen. Als Rückzug und Atelier.« Sie zwang sich, den Blick nicht von Steiners verletztem Gesicht zu wenden. Es entsprach der Wahrheit. Ihrer Wahrheit. Steiners Wahrheit sah vermutlich anders aus. Schon allein das, was er ihr bisher erzählt hatte, konnte ihn seinen Job kosten.

Als lese er in ihren Gedanken, sprach er genau diesen Satz aus, bevor er von den ersten Indizien berichtete, die auf Ungereimtheiten in den Unterlagen der Immobilienfirma Greif schließen ließen.

***

Gott sei Dank hatten sie das Gespräch abgebrochen und auf morgen vertagt. Dass Ulf nicht schlief, hörte sie an seiner Art, Luft zu holen. Zur Seite gerollt, lag er neben ihr im Bett und atmete seine Sorgen in die Dunkelheit. Seine größte war, sie in Gefahr zu bringen. Die Kripo, die Steuerfahndung, und sie, seine Lebenspartnerin, als Mieterin direkt am Schauplatz des Geschehens. Es könne gefährlich werden, wie oft hatte er das wiederholt und Szenarien entworfen, in denen jemand sie zusammen sah und falsche Schlüsse zog. Als würde sie sich von der Kripo einspannen lassen.

Jona schlüpfte aus dem Bett und schlich durch die dunkle Wohnung auf den kleinen Balkon. Im Haus gegenüber waren mehrere Fenster erleuchtet. Die Stadt schlief nie. Sie zündete sich eine Nelkenzigarette an und sah zu, wie die Glut sich knisternd durchs Papier fraß. Die letzte hatte sie gemeinsam mit dem Studenten vor der Tür geraucht; es schien Ewigkeiten her. Und es war schön gewesen. Wie lange hatte sie schon nicht mehr mit einem jungen Menschen geredet, der die Welt philosophisch betrachtete? In ihrer Welt ging es immer nur darum, Probleme anzugehen. Ulfs Welt bestand aus Opfern, Tätern und dem Versuch, eine Gerechtigkeit herzustellen, die es ohnehin nicht gab. Dass Joschua der Welt moralfrei begegnete und keine Urteile fällte, war erfrischend.

Ulf hatte davon gesprochen, dass der Tote bei Joschua ein- und ausgegangen sei, angeblich, weil es keine Waschmöglichkeiten in der Mansarde gab. Es war absurd, darin mehr als reine Freundlichkeit zu sehen. Aber Ulf hielt ja auch Maren Keiler für gefährlich, und Ellen Beetz dazu. Herrje, wenn er die beiden beim Sektempfang erlebt hätte. Alles, was sie wollten, war in Ruhe dort zu leben. Und sie boten den Maklerbonzen die Stirn. Absurd, dass es schon verdächtig war, wenn jemand sich an diesem Mietenwahnsinn nicht beteiligte und sich weigerte, seine Träume zu verkaufen. Die kleine Gemeinschaft der Villa war speziell und liebenswert. Wieder fiel ihr die scheue Bewohnerin aus dem ersten Stock ein, die ihr Interesse und ihren Zuspruch förmlich aufgesaugt hatte. Morgen sollte sie mal kurz vorbeisehen, ob es ihr wieder besser ging. Aber kurz, einer neuen Nachbarin angemessen, und etwas unverbindlicher. Sie drückte ihre Zigarette in Steiners Aschenbecher aus und zählte vier weitere Stummel, die definitiv nicht von ihr waren.

Gegenüber erlosch das Licht in einem Fenster. Wieder einer, der Ruhe gefunden hatte. Fröstelnd lief sie ins Schlafzimmer zurück und erfasste den dunklen Schatten am Fenster erst, als Ulf sich ihr zuwandte.

»Den Wunsch nach einem eigenen Zimmer kann ich gut verstehen.«

Die Stille, die seinen Worten folgte, stand zwischen ihnen. Jona spürte, wie ihr Körper sich anspannte. Eine ganze Weile standen sie sich im Dunkeln gegenüber, dann hörte sie das Knacken seiner Fußgelenke.

»Vielleicht ist dir entgangen, dass ich auch keinen Rückzug habe, seit du hier wohnst.«

»Nein, ist es nicht.« Sie griff nach seinem Arm und fasste ins Leere.

»Der Einzige mit eigenem Zimmer ist Jakob«, sagte er mit gepresster Stimme, »und für den ist die Situation schwierig genug. Ich tue, was ich kann, um dir ein neues, gutes Zuhause zu geben, und du mietest dir heimlich einen Rückzugsort. In der Mansarde eines Toten, dessen Mordfall ich betreue. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet? Wenn du denkst, alles …« Er brach den Satz ab.

Nein, sie dachte nicht, dass sich alles um sie drehte. Sie hatte noch nicht mal eine Ahnung, wo sie stand.

Zwei Schritte trennten sie von seiner reglosen Silhouette. Zwei Schritte und das Wissen, dass sie den Kosmos seiner Person nie ganz begreifen würde. Dass sie sich liebten, weil jeder für sich ein Kosmos war, hautnah und unerreichbar.

Ihr Entschuldige klang rauer als beabsichtigt. Die Gedanken waren plötzlich verstummt. Alles war verstummt. Sie griff nach seinen Händen. Spürte seine warmen Lippen, seine Muskeln, seinen Körper, der sich in ihrer Umarmung entspannte. Hörte sich sagen, dass sie eine Grenze ziehen würde, für eine Weile, eine Grenze zwischen sich und der Villa. Dass sie morgen damit beginnen würde, nach einem letzten Besuch.

***

Es dämmerte bereits, als sie am nächsten Abend ihren Roller parkte und das verrostete Gartentor aufdrückte. Die Villa thronte im Garten, nur erreichbar über den steinernen Treppenaufgang, der ihr etwas wie Würde verlieh.

Im Treppenhaus roch es nach altem Holz und Äpfeln. Das Deckenlicht legte einen gelben Schein auf die ausgetretenen Stufen. Jona blieb im Vorraum der Diele stehen und lauschte einen Moment in die Stille, der ein leises Schleifgeräusch unterlegt war. Das Geräusch kam von unterhalb der Treppen. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, dass es Kellerräume gab. Ob der Geruch nach gelagertem Obst den Vorratskammern entströmte? Sie setzte einen Schritt nach vorn und stand plötzlich im Dunkeln. Wieder dieses Geräusch. Dazu ein Sirren.

»Hallo?«

Niemand antwortete. Kurz entschlossen trat sie die Stufen ins Untergeschoss hinunter, vorbei an einem blinden Spiegel und einem Garderobenständer, hinter dem eine Eisentür offenstand. Von der Schwelle aus bot sich ihr ein seltsamer Anblick. In der Mitte eines unverputzten Gewölbes beugten sich der Student und Ellen Beetz über ein auf den Sattel gestelltes Fahrrad. Hinter ihnen bedeckten Sägen, Gartengeräte und Schraubenschlüssel die Wände, in der rechten Ecke stand eine Töpferbank. Niemand hatte beim Einzug diese perfekt ausgestattete Werkstatt erwähnt, die sich in dem fensterlosen Raum versteckte. Als Jona an die offene Eisentür klopfte, schreckten beide auf.

»Hey.« Joschua lächelte. »Wieder da?«

Mühsam erhob sich Frau Beetz und wischte die ölverschmierte Hand an ihrer Gartenschürze ab. Das Neonlicht leuchtete unbarmherzig ihr müdes Gesicht aus.

»Ich will nur ein paar Sachen von oben holen. Und mich bei Frau Vers nochmal für die Pralinen bedanken.«

Ihr nächster Satz wurde vom Klimpern unterbrochen, mit dem der Schraubenschlüssel zu Boden ging. Ellen Beetz stoppte ihn mit dem Schuh. »Ich kann es ihr später ausrichten.«

»Das mache ich lieber persönlich.«

»Zu spät.« Diesmal war es der Student, der ihr entgegentrat. In seiner schmucken Hose und dem Leinenhemd wirkte er fehl an diesem Ort. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seine sauberen Hände. Erklärte er seiner Nachbarin, was zu tun war, statt mitzuhelfen? »Heute Nacht kommt Hanna nicht nach Hause.«

»Herr Zingler!«

»Sorry«, erwiderte der Student und sah Ellen Beetz mit ehrlichem Bedauern an, »aber es gibt nichts, was sich lange verheimlichen lässt.« Er strich sich über seinen Vollbart. »Hanna ist zur Polizei gegangen und hat behauptet, sie hätte Torben Fischer umgebracht.«

»Wir glauben das alle nicht«, beeilte sich Ellen Beetz zu sagen. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach.« Joschua zuckte mit den Schultern. »Sagt jedenfalls Adorno in seiner negativen Dialektik. Ich kann auch nicht glauben, dass Hanna so etwas getan hat. Andererseits ist sie aufs Präsidium gegangen und hat denen ihre Schuld wie ein ordentlich geschnürtes Päckchen auf den Tresen gelegt. Und diese Helden haben sie dabehalten und sich auf die Schulter geklopft für ihren tollen Erfolg. Ich glaube, die Beerdigung hat sie in eine Krise gestürzt. Der Bulle mit dem weißen Hemd, der einen Besen verschluckt hat, hat sie wohl verfolgt.«

Steiner! Jonas Gesicht glühte. Natürlich war er zur Beerdigung von Torben Fischer gegangen, er war der zuständige Kommissar und auch der, bei dem eine Geständige zuerst landete. Was sie alles gar nicht wissen durfte. Aber wieso war Hanna zur Beerdigung gegangen? Doch nicht wegen ihrem Gespräch nach dem Sektempfang.

»Wieso Mord?« fragte sie so bestürzt wie möglich. »Der Mann, der die Wohnung meines Vormieters ausräumte, sagte mir, sein Bruder hätte sich wohnlich vergrößert.«

»Wohnlich vergrößert – das ist stark.« Der Student grinste kurz. Ohne Vorwarnung stieß Ellen Betz das Fahrrad um. Oder hatte sie sich daran festhalten wollen? Als sie sich wieder gefangen hatte, legte sie die Gartenschürze ab und ordnete ihr drahtig wirkendes, graues Haar.

»Wir haben versucht, Privatsphäre zu achten. Wer kennt schon die Geschichte seines Vormieters?« Ihr Blick verlor die Schärfe, als sann sie über diese Frage nach, bevor sie unvermittelt von Hanna Vers zu erzählen begann, von ihrem freundlichen, zurückgezogenen Wesen, ihrer Schreckhaftigkeit, die mit dem Einzug von Torben Fischer zugenommen hätte. »Dieser Mord hat sie durcheinandergebracht, genau wie die Angst vor einem Verhör.«

Genau wie ein Gespräch über Ängste, fehlendes Selbstvertrauen und Mut. Jonas Magen krampfte sich zusammen. »Gesteht man deshalb einen Mord?« Unwillkürlich glitt ihr Blick über die Sägen an der Wand.

»Sie hat manchmal diese Bilder im Kopf. Da geht was durcheinander bei ihr. Selbst Maren ist es nicht gelungen, sie von ihrer fixen Idee abzubringen. Und jetzt läuft irgendwo ein Mörder frei rum, und Frau Vers bezahlt für ihre Ängste. Das ist nicht gerecht.«

»Gerechtigkeit gibt es nicht.« Jona fing den interessierten Blick des Studenten auf und wandte sich an Ellen Beetz, die neben seiner schmächtigen Gestalt plump wirkte, und verzweifelt.

»Außerdem wird niemand verurteilt, wenn nur irgendein Zweifel an der Richtigkeit der Aussage besteht.«

»Kennen Sie sich damit aus?«

»Ich hatte vor langer Zeit mal eine Klientin in der Praxis, die in Schwierigkeiten war«, hörte Jona sich sagen, während in ihrem Kopf eine Alarmglocke schrillte.

»Bevor Sie gehen, bitte kurz bei mir klingeln«, sagte Joschua, »ich hab noch den Toilettenschlüssel zur Dachmansarde.«

»Ich gehe jetzt gleich.«

»Dann komme ich gerade mit. Danke, Frau Beetz, ich schaue nachher nochmal vorbei.«

Summend lief der Student neben ihr die Stufen hinauf. Vor seiner Haustür sah er ihr das erste Mal ins Gesicht.

»Ich besitze keinen Schlüssel zur Dachtoilette. Aber die Beetz hätte dich nicht so schnell aus ihrem Gebet entlassen. Auf einen Tee?«

Zwei Minuten später saß Jona auf einem sperrmüllverdächtigen Küchenstuhl und verfolgte, wie der Student Tee aufbrühte und den Inhalt einer angebrochenen Kekspackung auf einen Unterteller dekorierte. Ihr war noch immer flau. Wieso musste sie Hanna nur an dem Abend beschwören, auf ihre innere Stimme zu hören, egal was andere sagten. Sie kannte sie doch gar nicht. Ein fast therapeutisches Gespräch unter Sekteinfluss; wenn sie das Ute erzählen würde. Jona sah auf. Was hatte der Student gerade gesagt – dass er einfache Einrichtungen mochte?

Sie sah sich in der Küche um. Dass hier nicht gekocht wurde, fiel selbst ihr auf. Die wenigen Dinge, die in den offenen Regalen standen, sahen nach Instantgetränken und Fingerfood aus. Was sich hinter dem Vorhang des oberen Hängeschranks verbarg, würde er ihr bestimmt nicht lange vorenthalten. Seine Attitüde, materiellen Dingen nichts abgewinnen zu können, stand zu deutlich im Raum. Im Gegensatz zur Patchworkeinrichtung nahm sich seine Kleidung makellos aus. Hemd und Stoffhose. Am Flurhaken ein Jackett. Sie schob den Gedanken an Hanna Vers’ leere Wohnung gegenüber fort, während ihr der Student eine Tasse Tee reichte und sich einen Küchenhocker an den Tisch heranzog.

»Danke.« Jona blies in den Tee. »Auch für die Rettung eben.«

»Nichts gegen Frau Beetz. Sie ist mehr als in Ordnung. Auch wenn sie denkt, ich mache den ganzen Tag nichts anderes als Joints rauchen und Löcher in die Luft philosophieren.«

»Und machst du noch etwas anderes?«

Joschua strich sich über den Bart. »Vorlesungen besuchen, Referate schreiben, Thesen prüfen, nachdenken, zweimal in der Woche Nachtdienst im Parkhaus, Mathe-Nachhilfe geben, mit Freunden ausgehen, Gedichte schreiben und …«, er lächelte, »noch ein paar andere Dinge.«

»Wie Frau Beetz Tipps beim Rad reparieren geben.«

»Eher andersrum. Ich habe ihr zugesehen, um was zu lernen. Sie kann alles, und sie macht auch alles im Haus. Manchmal denke ich, sie weiß auch alles.«

»Von der Aktion von Frau Vers hat sie nicht gewusst.« Jona sah in das junge, bärtige Gesicht des Studenten und fragte, wie er die Situation einschätze. Mit einem Schlag erlosch die Koketterie darin.

»Wenn du einmal in den Lauf einer Pistole geschaut hast, dann bleibt da was zurück. Nackte Angst um deine Existenz.«

»Geht es auch etwas undramatischer?«

»Das mit der Pistole ist keine Metapher. Vor ein paar Jahren hat ein Vermummter Hanna in der Sparkasse eine vors Gesicht gehalten. Taschen auf, Geld rein. Geisel für zwei Stunden. Seitdem hat sie Flashbacks und Phasen, in denen sie sich wie in einem Film vorkommt. So hat sie es mir erklärt.«

»Depersonalisation!«, murmelte Jona, das hatte sie bei ihr mit keinem Wort erwähnt. Nur diese Selbstzweifel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die beiden gemeinsam an einem Tisch saßen und über persönliche Dinge sprachen. Immerhin duzte er sie.

»Hanna ist nicht immer schräg drauf. Sie kann auch lustig sein. Letzten Sommer haben wir im Vorgärtchen gesessen und den Vögeln in den Bäumen Gespräche angedichtet.«

»Nüchtern?«

»Naja, ein paar Haschkekse waren im Spiel. Ich wollte sie einfach mal lockermachen. Ist gelungen.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. »Was ist denn das Leben wert, wenn man sich nicht ab und zu frei fühlt?« Wie zur Bekräftigung zwitscherte ein Vogel vor dem Fenster. »Später war sie froh über diese Erfahrung.«

Jona schwieg. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu sehen, dass er selbst wusste, wie übergriffig diese Aktion gewesen war.

»Torben Fischer hat sie auch mal auf einen Wein eingeladen. Ist aber abgeblitzt.« Er zuckte mit den Schultern. »Zu anhänglich, denke ich mal. Und dann stand er unter Strom. Gerade abends. Wie ein Tiger lief er in der Mansarde auf und ab und hat ins Telefon gebrüllt, das hab sogar ich gehört. Und Hanna hat unter ihm gewohnt.«

»Wusstest du, dass sie zur Polizei wollte?«

»Nee, keinen Schimmer. Sonst hätte ich es ihr ausgeredet.«

Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display trat er zum Fenster und rief etwas in den Vorgarten hinunter. Als er sich umdrehte, wirkte er belebter.

»Das Treffen in der Shisha-Lounge habe ich ganz vergessen. Sorry.«

Jona beobachtete die beiden vom Flurfenster aus. Die junge Frau auf dem Hollandrad, die vor dem Gartentor wartete, war ebenso zierlich wie Joschua. Sie umarmte ihn kurz, bevor sie gemeinsam davonradelten. Er war überzeugt von Hannas Unschuld. Und ihr ging das seltsame Gebaren der Mieterin im Sinaipark nicht mehr aus dem Kopf. Ein so zerbrechlicher Mensch konnte doch nicht bestialisch morden. Oder vielleicht gerade doch, aus einer Angst heraus. Langsam stieg sie die Stufen ins Dachgeschoss hinauf und suchte nach dem ersten Eindruck, den sie von Hanna Vers hatte. Sie war als Letzte zum Sektempfang dazugestoßen, und ihre Körpersprache beim Überreichen der Pralinen sagte … Jona blieb auf dem Treppenabsatz stehen … tu mir nicht weh! Hanna Vers wirkte wie ein Mensch, der darum bat, verschont zu bleiben – und damit jedem ausgeliefert war, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, diese Rolle zu übernehmen.

War das Torben Fischers Rolle gewesen?

Sie schloss die Dachkammer auf und sah im gleichen Moment das Foto des verdrehten Leichnams vor sich. So hell das Licht der Glühbirne auch die Kammer ausleuchtete, es blieb ein Schatten darin. Vor ein paar Tagen hatte der Tote hier noch energisch und lautstark telefoniert. Und sich Raum genommen, vielleicht über die Grenzen der Mansarde hinaus.

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Raum noch immer Torben Fischer gehörte. Selbst ihr Futon wirkte in diesem Licht fremd. Wenn sie zurückkehrte, würde sie die Wände weißen.

Mit ihrem Laptop und zwei kleineren Taschen bepackt, trat sie wenig später die knarzenden Holzstufen hinab. Niemand hatte sie gebeten, sich abzumelden, wenn sie die Dachmansarde nicht nutzte. Es war ein Rückzugsort, nicht ihre Wohnung. Warum sie bei der Vermieterin klingelte, wusste sie selbst nicht.

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