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II.

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Bernard Westbourne war ein ernster, beherrschter junger Mann mit festen Grundsätzen und strengen Moralvorstellungen. Wie dies in adeligen Familien üblich war, hatte er als dritter Sohn die Laufbahn eines Geistlichen eingeschlagen. Sein ältester Bruder Joseph würde einst das Erbe seines Vaters in Lincolnshire antreten und auch den Titel eines Earl of Westmore übernehmen. Der zweite Bruder Richard fuhr als Marineoffizier zur See. Er selbst hatte nach dem Studium in Eton und Cambridge die Stelle des Pfarrers von St. Ermins nahe Bath übernommen, was den Ausgangspunkt für einen Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie bilden sollte. Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit hatte er sich entschlossen, dem Vorbild seines Vorgängers zu folgen und den jungen Damen im Institut von Mrs. Clifford Religionsunterricht zu erteilen. Dies brachte nicht nur eine angenehme Abwechslung im oft eintönigen Alltag mit sich, sondern auch eine höchst willkommene Aufbesserung der Finanzen der Pfarre. Dort stand es mit dem Geld wahrlich nicht zum Besten. Der alte Pfarrer hatte seinem Nachfolger nichts als Schulden hinterlassen. Von seinem Vater, dem Earl, der neben seinen drei Söhnen auch noch drei Töchter zu versorgen hatte, konnte Mr. Westbourne keinerlei Unterstützung erwarten. Mrs. Cliffords Angebot, den Religionsunterricht weiterzuführen, hatte er daher mit großer Freude angenommen. Die Stunden selbst gestaltete er anschaulich und abwechslungsreich, und es war ihm bald gelungen, die Mädchen für sein Fach zu interessieren. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass die Begeisterung, mit der die Schülerinnen seinem Vortrag folgten, weniger dem Inhalt seiner Worte galten als seinem Äußeren. Man hielt ihn allgemein für einen hübschen jungen Mann, mit gepflegtem, streng gescheiteltem, brünettem Haar, tief liegenden blauen Augen und fein geschwungenen Lippen. Er war nicht allzu groß, doch durchaus stattlich. Für die Mädchen, die selten Gelegenheit hatten, mit heiratsfähigen, jungen Männern zu verkehren, wurde er bald zum begehrtesten Schwarm.

Eines Tages hatte der Reverend zu seiner Überraschung festgestellt, dass es Schülerinnen gab, die sich nicht nur für Religion, sondern auch für das Erlernen der lateinischen Sprache interessierten. So hatte er in Absprache mit Mrs. Clifford begonnen, auch diese zu unterrichten. Er bemühte sich dabei auch, die geschichtlichen Hintergründe herauszuarbeiten und die Mädchen in die Welt der römischen Kultur einzuweihen. Eine höchst angenehme Aufgabe, da sich zumindest zwei der Damen wirklich für das Altertum zu interessieren schienen. Die eine war Miss Eliza Boulington, nicht hübsch, doch klug und belesen. Ihre detaillierten Zwischenfragen machten deutlich, dass sie sich auch nach den Unterrichtsstunden intensiv mit der Materie beschäftigte. Die zweite Dame war Miss Mary Ann Rivingston, die nicht minder klug war als ihre Schulkollegin, doch bei Weitem erfreulicher anzusehen. Natürlich war er als ehrbarer Geistlicher stets bemüht, die Menschen nur nach ihren inneren Werten zu beurteilen. Und dennoch waren ihm die äußeren Vorzüge von Miss Rivingston nicht verborgen geblieben, obwohl ihre Formen in den schlichten, dunklen Schulkleidern, die ihr Bruder ihr zugestanden hatte, gar nicht richtig zur Geltung kamen. Nicht auszudenken, wie reizvoll Miss Rivingston aussehen würde, wenn sie erst die eleganten, dezent dekolletierten Roben trug, die ihr ihrem gesellschaftlichen Rang nach zukamen. Eine Vorstellung, in der Reverend Westbourne gerne schwelgte, bevor er sich selbst streng zur Ordnung rief.

Miss Rivingston war seine Schülerin und sollte es, wie ihm Mrs. Clifford mitgeteilt hatte, noch einige Zeit bleiben. Er konnte den Entschluss von Lord Ringfield nur gutheißen. Es war ihm eine große Beruhigung, das Mädchen noch weitere vier Jahre hier in den geschützten, ehrbaren Hallen des Internats zu wissen. Um nichts in der Welt wollte er es vermissen, wie sie ihre wissbegierigen Augen auf ihn richtete, wenn sie interessiert seinem Unterricht folgte. Und er freute sich jede Woche erneut auf die Stunden, die sie gemütlich vor dem Kamin in der Bibliothek des Schulhauses verbrachten, in ein Schachspiel vertieft. Stolz konnte er feststellen, dass sich sein Schützling zu einer wahren Meisterin in diesem Spiel entwickelt hatte. Vielleicht würde es ihm mit der Zeit auch noch gelingen, durch sanftes Einwirken Miss Rivingstons Temperament zu zügeln und sie so zu einer passenden Braut für einen aufstrebenden Geistlichen zu erziehen. Eine ebenso reizvolle Vorstellung wie die andere. Und doch: Ihre feuerroten, dichten, langen Locken deuteten darauf hin, dass ihm noch viel Mühe bevorstand, wollte er dieses Ziel erreichen.

An diesem Nachmittag war er, wie er es gerne tat, wenn seine Pflichten es zuließen, auf dem ruhigen Weg entlang des Waldrandes spazieren gegangen. Das kleine schwarze Büchlein in seiner Rechten, in das er während der Studienzeit Verse von Ovid geschrieben hatte und in das er sich immer wieder gerne vertiefte. Es war einer jener Spätherbsttage, in denen die schwachen Sonnenstrahlen kaum wärmend ihren fahlen Schein durch die dichte Wolkendecke warfen. Die Saatkrähen hatten schon Einzug gehalten und suchten mit lautem Gekreisch auf den abgeernteten Feldern nach übrig gebliebenen Körnern. Bald würden die Tage kommen, an denen sich die dichten Nebel auch bis zum Nachmittag nicht auflösten. Tage, die er lieber vor dem wärmenden Kaminfeuer verbrachte und an denen er das Haus nur dann verließ, wenn unaufschiebbare seelsorgerische Pflichten dies erforderten.

Doch noch war es nicht so weit. Noch luden einzelne Sonnenstrahlen zum Spazieren über Wald und Flur, boten ausgedehnte Wanderungen in der Natur willkommene Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und Pläne für die Zukunft zu überdenken. Natürlich wäre er zu Hause geblieben, wenn er geahnt hätte, dass er an diesem Nachmittag Besuch erhalten würde. Seine eigenen vier Wände hätten ihm mehr Schutz vor dessen aufgebrachtem Zorn geboten – hier auf dem freien Feld war er dessen Launen nahezu schutzlos ausgeliefert.

Justin Tamworth, der zweite Earl of St. James, hatte bereits am Vortag vergeblich im Pfarrhaus von Reverend Westbourne vorgesprochen. Mrs. Blooms, die Köchin, hatte ihm die Tür geöffnet, ihn jedoch nicht ins Haus gebeten. Weitschweifig, wie das ihre Art war, hatte sie Auskunft darüber gegeben, dass der Geistliche nach Bradford-upon-Avon gefahren war. Der alte Nichols würde begraben werden, der vergangene Woche von der Leiter gefallen war. Ob er denn das nicht wisse, da doch Mrs. Nichols auch Doctor Rilly-Bengstonfield hatte rufen lassen. Dabei hatte doch schon Mrs. Fisher, die Mutter von Mrs. Mouhan …

Seine Lordschaft hatte nicht die Höflichkeit gehabt, der alten Frau länger zuzuhören. Er war derart erzürnt, den Pfarrer nicht zu Hause angetroffen zu haben, dass er sie grußlos in der offenen Tür stehen ließ. Es war ihm nicht aufgefallen, dass er weder seinen Namen genannt noch angekündigt hatte, abermals vorsprechen zu wollen. Als der Geistliche am späten Abend erschöpft von dem langen Ritt nach Bredford-upon-Avon zurückgekommen war, hatte ihm Mrs. Blooms von dem seltsamen, ja geradezu furchteinflößenden Besucher erzählt. Mr. Westbourne konnte sich keinen Reim auf das Gehörte machen. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, bei dem aufbrausenden, unbeherrschten Fremden mit dem unhöflichen Betragen könnte es sich um Justin Tamworth gehandelt haben. Justin Tamworth, ein Freund aus seiner Studienzeit. Ein Mann, den er jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Tamworth hatte die Offizierslaufbahn eingeschlagen und in Spanien gegen Napoleon gekämpft. Später war er zurückgekehrt, um das nicht unbeträchtliche Erbe seines Vaters anzutreten und den Titel eines Earl of St. James zu übernehmen. Er, Westbourne, war inzwischen der Pfarrer der Gemeinde St. Ermins geworden, und es schien, als hätte er seinen Studienkollegen für immer aus den Augen verloren. Doch dann, vor drei Wochen, hatten sich überraschend ihre Wege wieder gekreuzt. Er war nach London gereist, da seine jüngste Schwester Silvie heiraten wollte. Die Trauung fand in der Kirche zu St. George am Hanover Square statt. Zu seiner Überraschung war sein Studienfreund der Bräutigam. Justin Tamworth war immer ein Musterbeispiel an kühler Gelassenheit gewesen. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Immer umgab ihn die Aura unnahbarer Arroganz. Natürlich, er war herablassend und bisweilen zynisch. Ohne Frage konnte er bei Weitem selbstsicherere Gemüter als Mrs. Blooms durch seine hochfahrende Art erschüttern. Doch die Köchin hatte den Fremden ganz anders beschrieben: unbeherrscht und wild. Nein, er hatte wirklich nicht damit rechnen können, dass es Justin Tamworth war, der ihn da aufgesucht hatte. Als dieser nun am Tag darauf abermals energisch an die Pfarrhofstür klopfte, versetzte er Mrs. Blooms allein schon durch seinen Anblick derart in Angst und Schrecken, dass sie ihm den Waldweg beschrieb, auf dem der Geistliche gerne spazieren ging. Der Wunsch, den unangenehmen Fremden loszuwerden, siegte über die Angst, einem ausdrücklichen Befehl ihres Herrn zuwiderzuhandeln.

Und so kam es, dass der Reverend nichtsahnend, in die Lektüre seines Büchleins vertieft, sich langsam der Stelle näherte, an der sich der Waldweg und die kaum befahrene Straße kreuzten, die zu einer kleinen Siedlung westlich von Bath führte. Dort angekommen, fiel sein Blick auf ein sportliches schwarzes Kutschgefährt. Er wäre achtlos daran vorbeigegangen, hätte er nicht durch Zufall zu dem Gentleman aufgeblickt, der regungslos auf dem Kutschbock saß. Dessen Miene verriet nichts Gutes.

»Tamworth!«, rief Westbourne überrascht. »Ich meine natürlich: St. James. Sei mir gegrüßt, alter Freund. Was treibt dich denn in diese einsame Gegend?«

»Es nützt dir nichts, so zu tun, als wüsstest du nicht, dass ich dich suche«, entgegnete der so Angesprochene anstelle einer Begrüßung. Sein Ton klang unüberhörbar gereizt. Mit einer eleganten Bewegung ließ er sich vom Kutschbock gleiten. »Ich habe dich bereits gestern in deinem Haus aufgesucht. Man sagte mir, du seist nicht anwesend. Und heute finde ich dich hier …« Er blickte sich um und setzte mit spöttischem Blick fort: »… versteckt zwischen Bäumen und Büschen. Wenn du schon vor mir davonläufst, dann solltest du dein Personal besser abrichten. Ohne die Wegbeschreibung deiner Köchin hätte ich dich hier sicher nicht gefunden.«

Reverend Westbourne presste die Lippen zusammen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Tamworth mit barschen Worten zurechtgewiesen. Wie kam dieser Mann dazu, ihn bei seinen einsamen Gedanken so rüde zu unterbrechen? Dazu die aus der Luft gegriffenen Vorwürfe! Eine Ungeheuerlichkeit! Doch schon als Kind hatte Westbourne gelernt, sich zu beherrschen, das unselige aufbrausende Temperament zu zügeln, das ihm, wie anderen Mitgliedern seiner Familie, zu eigen war. Und überhaupt: diese unglaublichen Vorwürfe waren es nicht wert, dass er weiter darauf einging. »Du suchst mich?«, fragte er daher schlicht.

»So ist es. Und du weißt auch, was ich von dir wissen will: Wo ist meine Frau, Westbourne? Wo hältst du Silvie versteckt?« entgegnete der Earl. Obwohl diese Sätze mit ruhiger Stimme vorgebracht worden waren, klangen sie wie eine Drohung.

Reverend Westbourne seufzte indigniert. »Hast du denn meinen Brief nicht gelesen?«, erkundigte er sich in einem Tonfall, den er pflichtvergessenen Schülern gegenüber gerne anschlug. »Ich habe dir doch mitgeteilt, dass ich nicht bereit bin, dieses Thema mit dir zu besprechen.«

Mit diesen Worten schickte er sich an, an der Kutsche Seiner Lordschaft vorbeizugehen und seinen Spaziergang fortzusetzen, so als habe diese Unterhaltung nicht stattgefunden. Im Innersten war er jedoch beunruhigt und aufgewühlt. Auch er machte sich Sorgen um seine jüngste Schwester. Große Sorgen. Hatte diese mit ihrer überstürzten Abreise nicht doch eine nicht wiedergutzumachende Fehlentscheidung getroffen? Wäre es nicht ihre Pflicht gewesen, bei Tamworth zu bleiben? Ein Leben zu führen im gesicherten Wohlstand? Doch diese Gedanken würde er gewiss nicht mit Justin besprechen – dem Mann, vor dem Silvie davongelaufen war.

Der Earl hatte die Reise nach Bath mit den besten Vorsätzen begonnen. Er wollte mit seinem alten Studienfreund ein ernstes Gespräch führen. Seine Braut war verschwunden – da war es doch natürlich, dass er nach ihr suchte. Bernard Westbourne, sein alter Schulfreund, konnte ihm nicht ernsthaft seine Hilfe verweigern. Natürlich hatte er bereits mit Silvies Eltern gesprochen. Der Besuch in ihrem Elternhaus, einen Tag nach der Hochzeitsfeier, brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Silvies Vater hatte sich ihm, dem Jüngeren, gegenüber bisher stets devot, um nicht zu sagen unterwürfig verhalten.

Nun empfing er ihn mit einem seiner cholerischen Ausbrüche, derentwegen er in der ganzen Stadt bekannt und gefürchtet war. Er hatte gezetert und getobt. Er hatte Justin mit geröteten Wangen und hervorquellenden Augen beschuldigt, am Unglück seiner Tochter schuld zu sein. Lady Westmore, Silvies Mutter, war während dieser unangenehmen Unterredung still in einer Ecke des kahlen Wohnzimmers gesessen. Sie tat so, als sei sie in eine Stickerei vertieft, während ihr die Tränen unablässig über ihre weißen, früh gealterten Wangen liefen. Um die Peinlichkeit ins Unerträgliche zu steigern, hatte Lord Westmore sich nicht nur nicht gescheut, seine Gattin vor dem Besucher mehrmals zurechtzuweisen. Er bezeichnete sie darüber hinaus als hysterisches Weib, das schuld daran sei, dass ihre Jüngste verwöhnt und aufmüpfig geworden war. Eine Tochter, die sich erdreistete, sich über die Befehle ihres Vaters hinwegzusetzen, sei nicht länger seine Tochter. St. James erkannte nach wenigen Worten, dass Lord Westmore wohl der letzte Mann war, dem Silvie ihr Vertrauen geschenkt haben würde. Er beeilte sich, die Unterredung zu beenden und das Haus am Hanover Square eilends zu verlassen. Zwei Tage später kehrte er jedoch noch einmal dahin zurück. Er hatte von Bekannten erfahren, dass der Hausherr in Begleitung zweier Freunde aufs Land gereist war, um an einer Fuchsjagd teilzunehmen. Vielleicht hatte sich Lady Westmore in der Zwischenzeit beruhigt. Vielleicht war sie in Abwesenheit ihres gestrengen Gatten redseliger. Mylady ließ ihn umgehend in ihren Salon bitten. Doch seine Hoffnungen wurden auch diesmal herb enttäuscht. Bereits sein Anblick reichte aus, um die unglückliche Dame abermals in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie schluchzte und zitterte und konnte sich kaum beruhigen. Zwischendurch stammelte sie in unüberhörbarer Aufregung Sätze, die St. James seltsam wirr erschienen und deren Zusammenhang ihm nicht klar wurde. Hauptaussage schien zu sein, dass Mylady ihren Gatten zutiefst fürchtete und sich, gleich nachdem sie dies bekannt, erschrocken und schuldbewusst dafür entschuldigte und erklärte, Westmore sei ein wackerer Mann mit aufrichtiger Gesinnung. Es dauerte nicht lange, und St. James verlor die Geduld. Er sah ein, dass ihn dieser Besuch auf seiner Suche nach Silvie nicht weiterbringen würde. Also erhob er sich, verabschiedete sich brüsk und ließ Mylady allein.

Eine Vorsprache bei Mr. Joseph Westbourne, Silvies ältestem Bruder, war nicht minder verlorene Zeit. Joseph hatte sowohl die klein gewachsene, gedrungene Gestalt seines Vaters geerbt als auch dessen cholerisches Temperament. Zudem schien er schon am frühen Nachmittag ausgiebig dem Alkohol zugesprochen zu haben. Als St. James in dessen Wohnung vorsprach, fand er ihn zum Ausgehen gekleidet in der Eingangshalle. Mr. Westbourne erklärte unumwunden, dass er nicht viel Zeit für eine Unterredung habe, da er sich mit ein paar Freunden zum Hahnenkampf verabredet habe. »Nichts für ungut, St. James. Aber das soll der Kampf des Jahres werden. Greenhood hat einen roten Hahn erworben, der schlägt sie alle. Kommen Sie doch mit mir, wir plaudern unterwegs weiter.«

Der Earl lehnte entschieden ab. Hahnenkämpfe gehörten nicht zu den Belustigungen, für die er etwas übrig hatte. »Ich will Sie nicht aufhalten, Westbourne«, bemerkte er stattdessen und schlug ungeduldig mit der Reitgerte gegen den Schaft seines Stiefels. »Sagen Sie mir nur, wo ich Ihre Schwester finde, und Ihre Freunde brauchen nicht auf Sie zu warten.«

Joseph war nicht überrascht. »Ja, ja, Sie kommen wegen Silvie. Dacht ich’s mir doch.« Er kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich ausgiebig. »Eine verdammte Sache ist das. Ich hab keine Ahnung, wo sich das undankbare Weibsstück aufhält. Auf meine Ehr’. Aber eins weiß ich: Ich dreh ihr eigenhändig den Hals um, wenn ich sie erwische. Das versprech ich Ihnen, Mylord.« Der Earl erklärte angewidert, dass dies nicht nötig sei. Er forderte Mr. Westbourne stattdessen auf, sich bei ihm zu melden, falls er etwas von Silvie erfuhr.

Dann machte er eilends kehrt und bestieg seine Kutsche. Es war zum Verrücktwerden! Gab es denn wirklich niemanden, der wusste, wo sich Silvie aufhielt? St. James überlegte. Der zweite Sohn aus dem Hause Westbourne kreuzte mit seiner Fregatte soeben im Mittelmeer. Er war nicht einmal zur Hochzeit erschienen und schied als Auskunftsperson aus. Blieb also nur der dritte Bruder: Bernard. Und doch: St. James war sich sicher, dass Silvie sich nicht an diesen Bruder gewandt hatte. Wer würde sich dem steifen Geistlichen mit der belehrenden Art in seiner seelischen Not anvertrauen? Er kannte Bernard. Nicht umsonst hatte er in Eton jahrelang das Zimmer mit ihm geteilt. Erst mit den Jahren war es ihm gelungen, nicht jedes Mal die Geduld zu verlieren, wenn Bernard mit seinen weitschweifigen Ausführungen anfing, die Welt verbessern zu wollen. Nie hätte er sich an ihn gewandt, wenn er Hilfe brauchte. Schon gar nicht dann, wenn diese Hilfe aufgrund eines Verstoßes gegen die Konventionen – ja, gegen alle guten Sitten – notwendig geworden wäre. Es schien ihm unvorstellbar, dass der Geistliche eine Frau schützte, die ihrem Mann davongelaufen war. Oder war St. James sich nur deshalb so sicher, dass Bernard nichts über das Verschwinden seiner jüngsten Schwester wusste, weil er die weite Fahrt nach Bath scheute? Jedenfalls entschied er sich, dem Geistlichen einen Brief zu schreiben, und machte sich auf den Weg nach Hempsteade Heath, wo die älteste der Schwestern mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn lebte. Lady Mancroft war ihrem Vater und ihrem Bruder Joseph wie aus dem Gesicht geschnitten. Klein, untersetzt, mit hektischen roten Flecken auf den Wangen. Ein energisches Kinn unter ihrem schmalen, blassen Mund. Nein, sie wisse nicht, wo Silvie sich aufhalte, wurde ihm mit lauter Stimme erklärt. Und ihre Schwester täte gut daran, sich nicht bei ihr blicken zu lassen. Sie hatte Silvie den eindringlichen Rat gegeben, ihn, St. James, zu ehelichen. Schließlich kam dann das Vermögen des Earls den Westbournes zugute, wie sie ungeschminkt verkündete. Es war Silvies gottverdammte Pflicht, die Gelegenheit zu ergreifen, wenn sie sich schon so überraschend bot. stattdessen habe sie aus irgendwelchen Flausen heraus die Chance in den Wind geschlagen, ihren Geschwistern finanziell unter die Arme greifen zu können.

Bevor sie den Earl fragen konnte, ob er sich nicht dennoch moralisch verpflichtet fühle, einen Scheck zugunsten der Familie Mancroft auszustellen, verließ dieser fluchtartig das Haus. Welche Familie hatte er sich da ausgesucht, um einzuheiraten! Aber Silvie war so ganz anders als ihre Eltern und Geschwister. Sie war bezaubernd, zart und zerbrechlich. In ihrem Aussehen kam sie wohl mehr nach der Mutter, die in jungen Jahren eine sehr hübsche Frau gewesen sein dürfte. Bevor sie durch ihre Heirat mit dem aufbrausenden Earl und die Geburt von sechs Kindern in vierzehn Jahren rasch gealtert war. St. James sah Silvie vor sich: Die langen blonden Locken, im Nacken aufgesteckt, schienen fast zu schwer zu sein für ihren kleinen Kopf. Die dunklen Augen, die stets ernst und ein wenig traurig blickten. Der kleine, wohlgeformte Mund, der nie lächelte. Der Earl stutzte: Hatte er eben gedacht, Silvies Augen seien traurig gewesen? Unsinn, er musste sich irren. Welchen Grund hätte sie gehabt, traurig zu sein? Sie bekam ihn, den angesehenen, wohlhabenden Earl of St. James zum Mann. Sie hatte ihm selbst gesagt, wie ehrend sie seinen Antrag gefunden hatte und wie glücklich er sie machte.

Vielleicht konnte Silvies zweite Schwester Licht ins mysteriöse Dunkel dieser Angelegenheit bringen. Diese lebte von der Umwelt abgeschieden als Klosterfrau in der Abtei von St. Ann nahe Woborn. St. James hatte sie vorher noch nicht kennengelernt. Die Äbtissin hatte ihr keine Erlaubnis erteilt, zur Hochzeit ihrer Schwester nach London zu reisen. Als der Earl nunmehr im Kloster vorsprach, wollte man ihn erst gar nicht vorlassen. Er musste all seine Autorität und eine beträchtliche Spende für die Armen in die Waagschale werfen, ehe man ihm eine Viertelstunde Sprechzeit im Beisein zweier weiterer Nonnen gewährte. Doch auch dieses hart erkämpfte Gespräch brachte Justin nicht weiter. Für Barbara war Silvie noch ein Kind, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese überhaupt schon im richtigen Alter war, eine Ehe einzugehen.

»Silvie ist achtzehn«, hatte der Earl daraufhin ungeduldig eingewandt. Das schien Schwester Barbara zu überraschen. Sie lebte hier seit Jahren hinter Klostermauern, jenseits der Wirklichkeit. Der spärliche Kontakt zu ihrer Familie ließ sie in dem Glauben, die Welt jenseits der Klostermauern würde stillstehen. Alles würde so bleiben, wie sie es in Erinnerung hatte. Und in ihrer Erinnerung war Silvie vierzehn. Ein wildes, fröhliches, stets zu Scherzen und verwegenen Streichen aufgelegtes Mädchen. Schwester Barbara lächelte in Gedanken versunken. Der Earl erhob sich. Es war eindeutig, dass die Klosterfrau nichts wusste, ja, sich nicht einmal richtig erinnerte. Die stille, sanfte Silvie als wildes Mädchen zu beschreiben, schien ihm geradezu absurd.

Am nächsten Tag erreichte er London in den frühen Mittagsstunden. Sein Kopf schmerzte, als würde er zerbrechen. Es war eine ungeheure Dummheit gewesen, in dem Wirtshaus, in dem er übernachtet hatte, eine derart große Menge eines drittklassigen Brandys in sich hineinzuschütten. Damit waren seine Probleme auch nicht gelöst. Er beschloss, sich zu Bett zu begeben, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Doch ein Blick in seine Post, die ihm Butler Higson noch in der Halle überreichte, änderte seine Pläne schlagartig. Zu seiner Überraschung fand er nämlich einen Brief von Bernard Westbourne vor. Er hatte nicht erwartet, dass ihm dieser so rasch antworten würde. St. James riss mit den Fingern achtlos den Briefumschlag auf und überflog die Zeilen. »Ich bin nicht bereit, mit dir dieses Thema zu besprechen«, las er. Der Earl stieß einen triumphierenden Schrei aus. Bernard schrieb nicht, dass er nicht wisse, wo Silvie sich aufhalte. Er schrieb lediglich, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also wusste er Bescheid! Bernard war der Schlüssel zum unergründlichen Geheimnis. Endlich ein Lichtstreifen am Horizont. Er würde ihn schon zum Sprechen bringen, da hatte St. James keine Angst.

So kam es, dass er den übermüdeten Kammerdiener anwies, abermals die Koffer zu packen, und noch am selben Nachmittag mit leichtem Gepäck in Richtung Bath reiste. Es sollte zwei Tage dauern, bis er endlich jemanden gefunden hatte, der die kleine Pfarre von St. Ermins westlich der Stadt kannte und der ihm den richtigen Weg weisen konnte. Er hatte die halbe Stadt nach seinem Freund abgesucht. War in der Trinkhalle gewesen und hatte eine Soiree in den Assembly-Rooms besucht. Doch seine Hoffnung, Reverend Westbourne bei diesem gesellschaftlichen Ereignis zufällig zu treffen, wurde enttäuscht. Der Abend erschien ihm im Vergleich zu den Veranstaltungen, die er in der Hauptstadt besuchte, ungewöhnlich langweilig. Bath mochte ja vor vielen Jahren einmal ein mondäner Kurort gewesen sein, der auch die adelige Gesellschaft aus London anlockte. Doch die Zeiten waren vorbei. Nun waren es wirklich vor allem alte und leidende Menschen, die hierherkamen, um die Wasser der Heilquellen zu trinken und auf eine Linderung der Schmerzen zu hoffen. Zudem schrieb man Mitte November – ein Monat, in dem die Jagd das herausragende Betätigungsfeld der noblen Gesellschaft war und nicht der Ballsaal einer Provinzstadt. Der Umstand, dass St. James an diesem Abend vergeblich nach dem Reverend Ausschau hielt, verdross ihn noch mehr. Als er tags darauf endlich vor dem Pfarrhaus stand und ihm eine ältere Frau eine umständliche Geschichte über Personen erzählte, die er nicht kannte, war es da ein Wunder, dass er nahe daran war, die Geduld zu verlieren? War der Reverend wirklich nicht zu Hause, oder hatte er Anweisungen gegeben, sich verleugnen zu lassen? Als er ihn am nächsten Tag abermals nicht im Pfarrhaus antraf, da hegte St. James keinerlei Zweifel mehr. Westbourne wich ihm aus. Und nun fand er ihn hier am Waldrand – einer Stelle, die doch kein vernunftbegabter Mensch freiwillig aufsuchen würde. Es sei denn, er hätte etwas zu verbergen. Dieses Verhalten war geradezu lächerlich. Allerdings war das Verhalten, zu dem er sich nun selbst hinreißen ließ, noch bei Weitem lächerlicher.

Das sollte er sich allerdings erst später eingestehen. In diesem Augenblick hatten der Zorn, die lange aufgestaute Ungeduld seine Sinne vernebelt. Dazu kam, dass er sich dem Pfarrer gegenüber ungewohnt hilflos fühlte. Er kannte Bernard, sein stures, hartnäckiges Wesen. Die Art, wie er ein frommes, lehrerhaftes Gesicht aufsetzte, um sich unliebsame, neugierige Fragen vom Hals zu halten. Und er hatte nicht die geringste Lust, sich wieder eine Abfuhr von einem Mitglied der Familie Westbourne zu holen. Da doch der Reverend seine letzte Hoffnung war. Wen sollte er denn noch fragen, wo noch suchen? Es war genug Zeit vergangen – es wurde Zeit, dass er Silvie fand.

»So kommst du mir nicht davon, mein Freund. Du wirst mir sofort sagen, wo Silvie ist«, fuhr er den Geistlichen an, ihn fest am rechten Arm packend. »Ich bin ihr Mann. Ich habe das Recht zu erfahren, wo sie sich befindet.«

Der Reverend sagte kein Wort, sondern blickte indigniert vom Gesicht seines Angreifers zu dessen Hand, die seinen Oberarm umklammerte, und wieder zurück. St. James ließ ihn abrupt los. Daraufhin strich der Geistliche betont langsam seinen Ärmel glatt, bevor er erwiderte: »Dieser Ansicht bin ich nicht.« Es schien, als sei mit diesen knappen Worten das Gespräch für ihn beendet.

»So, du bist nicht dieser Ansicht?!«, brüllte Seine Lordschaft, nun wirklich völlig außer sich. »Dann wird es Zeit, deine Ansichten zu ändern!« Er griff hinter sich auf den Kutschbock und holte mit raschem Handgriff zwei Duelldegen hervor. Einen davon drückte er dem fassungslosen Geistlichen in die Hand. Dann schlüpfte er aus seinem warmen Kutschiermantel aus braunem Wollstoff, dessen zahlreiche Schulterkragen ihn als Mitglied des »Four Horses Club« auswiesen. Er zog den Degen aus der Scheide und ging in Angriffsstellung. »En garde, Monsieur!«, rief er aus.

Der Geistliche wusste nicht, wie ihm geschah: »Jus! Bist du verrückt geworden? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit dir duelliere?« Der Degen Seiner Lordschaft strich haarscharf an seinem Ohr vorbei. Der Reverend ließ vor Schreck sein Buch fallen. Dann zückte er den Degen, um den nächsten Angriff abzuwehren.

»Also noch einmal, Bernard: Wo ist Silvie?«, wiederholte sein Widersacher und zielte gekonnt auf den Oberarm des Reverends. Dieser parierte und wich auch den nächsten Angriffen geschickt aus.

»Lass es genug sein!«, rief er schwer atmend.

»Nicht, bevor du mir sagst, wo Silvie ist«, beharrte St. James hartnäckig.

»Du wirst doch nicht im Ernst annehmen, Jus, dass du das auf diese Weise erfährst«, entgegnete der Geistliche.

»Das werden wir ja sehen«, zischte der Earl zwischen geschlossenen Zähnen zurück. In diesem Augenblick wieherte ein Pferd ganz in der Nähe. Reverend Westbourne war sofort abgelenkt. Erschrocken fuhr er herum. In diesem Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm. Er stolperte und fiel der Länge nach auf den Rücken. Sein Kopf schlug auf dem festgefrorenen Boden des Weges auf. Benommen blieb er einige Augenblicke liegen.

Als er wieder zu sich kam, blickte er in das wutentbrannte Gesicht seines Widersachers, der sich zu ihm hinabbeugte. »Bist du verrückt geworden, Westbourne!«, fuhr ihn Seine Lordschaft mit scharfer Stimme an. »Wie konntest du so unvorsichtig sein, dich mitten im Duell abzuwenden? Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte dich niedergestochen.«

Der Reverend setzte sich stöhnend auf. »Ich dachte, das wäre von Anfang an deine Absicht gewesen«, sagte er trocken und griff sich aufseufzend an den schmerzenden Hinterkopf.

»Unsinn«, wiedersprach St. James entrüstet. »Ich wollte nichts dergleichen. Du weißt genau, dass ich nie ernsthaft vorhatte, dich zu verletzen. Es ging mir einzig und allein darum zu erfahren, wo Silvie …« Er unterbrach sich, als sein Blick auf den Ärmel des Geistlichen fiel. Aus einem glatten Riss begann Blut zu sickern.

»Zieh deine Jacke aus!«, forderte er mit befehlsgewohnter Stimme.

»Ich scheine dich doch ärger getroffen zu haben, als ich zuerst angenommen hatte.«

Reverend Westbourne stützte sich auf seine linke Hand und erhob sich mühevoll. Es fiel ihm nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Schwankend ging er ein paar Schritte zur Seite, um seinen Hut aufzuheben, den er beim Fallen verloren hatte. Dieser sah reichlich mitgenommen aus. Es war schwer, ihn mit einer Hand halbwegs wieder in Form zu bringen. Der rechte Arm brannte. Er wagte nicht, ihn zu bewegen. So drückte er mit der Linken den Hut auf seine kurzen Locken und machte sich daran, das Versbuch zu suchen.

St. James verstellte ihm den Weg. »Sei kein Kindskopf, Bernard«, sagte er, und ein reuevolles Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Lass mich die Wunde ansehen. Du weißt, ich war Offizier. Ich habe schon ganz andere Schnittwunden verbunden.«

»Wenn du mir bitte aus dem Weg gehen würdest …« Der Reverend fuhr sich mit erschrockener Geste an den Hals. Seine Lordschaft hatte ungerührt damit begonnen, ihm die Jacke aufzuknöpfen. Energisch schlug er ihm mit seiner Linken grob auf die Hand. »Du denkst doch nicht, dass ich mich von dir auf offenem Feld entkleiden lasse«, fuhr er ihn gereizt an.

»Du wirst verbluten«, prophezeite ihm der Earl düster.

»Deine Sorge ehrt mich«, entgegnete der Reverend spöttisch. »Dennoch fällt es mir schwer, sie ernst zu nehmen. Hättest du mich nicht in dieses haarsträubende Duell verwickelt, so hätten wir uns unterhalten können, wie es zivilisierten Menschen zukommt. Doch dazu sehe ich mich nunmehr außerstande. Leb wohl, St. James. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg. Mein Pfarrdiener ist ein heilkundiger Mann. Er wird wissen, was zu tun ist.« Mit schwankenden Schritten, das Versbuch unter den linken Arm geklemmt, den rechten Arm auf die linke Hand gestützt, machte er sich auf den Weg. St. James, der eben die Degen im Kutschkasten verstaut hatte, rief über die Schulter hinweg: »Komm zurück, Bernard, und steig auf. Ich fahre dich nach Hause.«

Der Geistliche zögerte. Eigentlich hatte er genug von St. James, doch dieses verlockende Angebot konnte er nicht ablehnen. Widerwillig ließ er sich auf den Kutschbock helfen. Der Earl nahm auf dem Fahrersitz Platz und ergriff die Zügel. Obwohl er in seinem Vorhaben keinen Schritt weitergekommen war, hatte sich sein Temperament merklich abgekühlt. Er sah ein, dass er Bernard unterschätzt hatte. Vermutlich würde nicht einmal die Folter diesem Mann ein Geheimnis entlocken. Und dennoch ließ ihm dieses Thema keine Ruhe. »Gib wenigstens zu, dass du weißt, wo Silvie ist«, forderte er ihn auf, nachdem sie den ersten Teil des Weges schweigend zurückgelegt hatten.

Der Geistliche nickte. »Natürlich weiß ich das«, bestätigte er gelassen.

»Ich habe deine Eltern aufgesucht, war bei allen deinen Geschwistern. Keiner wusste Bescheid. Warum hat sich deine Schwester gerade dir anvertraut? Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

Der Reverend nickte. »Das ist gut möglich.«

»Wenn ich wenigstens wüsste, warum sie verschwunden ist. Dann wüsste ich vielleicht auch, wo ich sie suchen soll.«

Der Reverend nickte schweigend und hielt seufzend seinen verletzten Arm fest.

»So kann ich nur Vermutungen anstellen«, fuhr St. James fort. »Vermutungen, die sich alle in Luft auflösen. Ich verstehe das alles nicht.«

»Silvie ist eine Frau«, erklärte ihm der Geistliche schlicht. »Welcher Mann kann schon von sich behaupten, die Frauen wirklich zu verstehen?«

Für kurze Zeit war der Earl von seinen Grübeleien abgelenkt. Mit großen Augen sah er den Reverend an. Er kannte eine ganze Anzahl von Frauen. Und er hatte noch nie Probleme damit gehabt, sie zu verstehen. Was sollte daran auch schwierig sein?

»Ich denke manchmal, dass nur eine Frau eine Frau wirklich verstehen kann«, erklärte ihm der Reverend. »Wir Männer denken doch zu logisch, zu verstandesbetont. Wenn du jetzt bitte stehen bleiben würdest. Wir sind eben an meinem Haus vorbeigefahren.«

Mit einem Ruck straffte St. James die Zügel. Er sprang ab und half seinem Freund aus der Kutsche. Der Abschied war knapp und wenig herzlich. Nachdenklich sah er dem Reverend nach, bis dieser im Pfarrhaus verschwunden war. Was hatte ihn bloß dazu getrieben, den Geistlichen in ein derart sinnloses Duell zu verwickeln? Das hätte schlimm ausgehen können. Die Verletzung, die er ihm zugefügt hatte, war peinlich genug. Auch wenn es sich vermutlich um nicht viel mehr als einen Kratzer handelte. Es war Zeit, dass er seine Pläne neu überdachte. Zeit für etwas Erholung und Entspannung. Weilte sein Cousin Albert nicht eben auf seinem Gut nahe Bristol, um Rotwild zu jagen? Nun, er würde sich ihm anschließen. Vielleicht kam ihm die rettende Idee, wo er Silvie suchen konnte, wenn er nicht den ganzen Tag angestrengt über dieses Thema nachdachte.

Schneegestöber

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