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III.

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Das Institut von Mrs. Clifford war in einem weitläufigen Backsteingebäude untergebracht. Dieses lag inmitten ausgedehnter Parkanlagen am äußersten Stadtrand von Bath. Dreißig Schülerinnen im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren lebten und lernten hier und wurden in exklusiver Atmosphäre auf ihr späteres Leben vorbereitet. Mary Ann Rivingston war die einzige Schülerin, die sich länger als die üblichen Jahre im Internat aufhielt. Mrs. Clifford hatte den Ruf, jeder jungen Dame den nötigen Schliff fürs gesellschaftliche Parkett zu geben. Das Schulgeld war hoch, die Auswahlkriterien streng, und nur Mädchen aus den ersten Häusern fanden Aufnahme in diesem Institut. Dafür war die Ausbildung, die man hier bot, bei Weitem umfangreicher als in anderen derartigen Schulen. Nicht nur trockenes Wissen in Geschichte, Religion und Geographie wurde vermittelt. Auch auf die korrekte Erlernung der Muttersprache in Wort und Schrift wurde Wert gelegt. Dazu kamen Grundkenntnisse in Französisch, seit Mademoiselle Jeanette Berais, eine zu Zeiten der Revolution geflohene Lehrerin, dem Institut zur Verfügung stand. Der Umstand, dass Reverend Westbourne begonnen hatte, einigen Mädchen Lateinunterricht zu geben, wurde von Mrs. Clifford eher geduldet als geschätzt. Dafür hielt sie die Anstellung von Miss Sarah Chertsey für einen wahren Glückstreffer. Miss Chertsey war eine verarmte Landadelige unbestimmten Alters. Lange Jahre hatte sie als Gouvernante in einem hochherrschaftlichen Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia gedient. Sie kannte eine ganze Anzahl der tonangebenden Mitglieder der besten Gesellschaft persönlich und verfügte über ein weitreichendes Wissen über die Geschichte der hochadeligen Familien.

Vor zwei Jahren, als die letzte der drei Töchter des Hauses das Schulzimmer verlassen hatte, war Miss Chertsey in ihre Heimatstadt Bath zurückgekehrt, mit einem exzellenten Zeugnis in der Tasche, in dem ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in höchsten Tönen gelobt wurden. Sie hatte sich bei Mrs. Clifford beworben und wurde auf der Stelle eingestellt. Seit diesem Tag unterrichtete sie die Mädchen in »Geschichte adeliger Häuser«, wie Mrs. Clifford diesen Unterrichtsgegenstand nannte. Miss Chertsey konnte den Stammbaum der wichtigsten Familien auswendig auf die Tafel zeichnen. Wusste die Lebensgeschichte der wichtigsten Persönlichkeiten, klärte die Schülerinnen über verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb der Familien auf und zeigte Bilder der Adeligen und beschrieb deren Landsitze. Da sie ihren Vortrag flott und lebendig zu gestalten wusste – und da sie diesen auch mit zahlreichen den Klatschspalten der Zeitungen entnommenen Tratschgeschichten garnierte, ein Umstand, der der gestrengen Mrs. Clifford keinesfalls zu Ohren kommen durfte –, war ihr Unterricht das Lieblingsfach der meisten Mädchen. Besonders Mary Ann folgte gebannt ihren Ausführungen. Sie hatte sich bereits selbst von ihrem spärlichen Taschengeld eine Ausgabe von Kenneth’ Adelsregister gekauft, in dem sie in freien Stunden gerne schmökerte. Natürlich gab es dann auch noch Unterricht in Zeichnen, Malen, Gesang und Klavierspiel. Jeden Donnerstag kam ein Tanzlehrer, um die Mädchen in die Kunst der Quadrille und der ländlichen Tanzfolgen einzuweihen. Und erst kürzlich hatte Mrs. Clifford sich erweichen lassen, den Schülerinnen das Erlernen des neuartigen Walzers zu erlauben. Ein Tanz, der ihr doch ein seltsam frivoles Vergnügen zu sein schien. Wenn sich aber die Londoner Gesellschaft diesem Vergnügen hingab, ja wenn sogar die strengen Patronessen des noblen Almack Clubs nichts gegen einen Walzer unter ihrer Aufsicht einzuwenden hatten, dann konnte sich auch Mrs. Clifford den modischen Sitten nicht verschließen. Sie selbst unterrichtete ihre Schützlinge in Etikette und Haushaltsführung. Bereiche, die für angehende adelige Ehefrauen von allergrößter Wichtigkeit waren. Natürlich wurde von den Mädchen nicht verlangt, dass sie selbst kochten oder gar andere Handgriffe im Haushalt übernahmen. stattdessen wurden sie gelehrt, die Dienerschaft zielführend zu beschäftigen, mit der Köchin den Speiseplan zu erstellen und ein Bankett für mehr als hundert geladene Gäste auszurichten. Rechnen, das ausreichte, um die Buchführung der Haushälterin zu kontrollieren, rundete die Ausbildung ab. Zudem lernten die Mädchen reiten – soweit sie sich dabei nicht zu ungeschickt anstellten wie Mary Ann Rivingston. Diese hatte nach dem dritten Abwurf beschlossen, sich nie mehr in den Sattel zu schwingen. Als weitere Besonderheit der Schule galt es, dass es den Schülerinnen erlaubt war, eigene Pferde ins Internat mitzubringen. Auch Fahrzeuge konnten untergestellt werden. Dies allerdings nur unter der Bedingung, dass ein eigener Pferdeknecht, der über den Ställen wohnte und von den Familien gesondert bezahlt wurde, sich um Wagen und Tiere kümmerte. Und dass dieser bei Ausfahrten die Gespanne lenkte. Denn bei allem Verständnis für zeitgemäße Erziehung konnte sich Mrs. Clifford eine Dame auf dem Kutschbock beim besten Willen nicht vorstellen. Mary Ann stand aufgrund ihrer knapp bemessenen Mittel keine eigene Kutsche zur Verfügung. Doch natürlich hatte Kitty, die reichste Erbin, die derzeit bei Mrs. Clifford unterrichtet wurde, sowohl eine geschlossene Kutsche als auch einen Phaeton in der Wagenhalle stehen. Mit diesen Gefährten konnte ihre Freundin ausfahren, sooft sie wollte. Zurzeit standen die beiden Fahrzeuge jedoch ungenützt in der Remise, nachdem Kitty vor drei Wochen Joe, den Reitknecht, hinausgeworfen hatte. Sie war ihm auf die Schliche gekommen, dass er regelmäßig an ihre Tante nach London Bericht erstattete. Einen Spion wollte sie keinesfalls in ihrer Nähe dulden. Die Briefe, die Mrs. Clifford an Mylady in regelmäßigen Abständen schrieb, waren unangenehm genug. Was konnte sie denn dafür, dass sie das heißblütige Temperament ihrer lieben Mama geerbt hatte? Es war doch nicht ihr Fehler, dass die verknöcherten englischen Ladys ihr Verhalten als ungestüm bezeichneten. Und dass sie sich jedes Mal über Gebühr aufregten, wenn sie, deren Meinung nach, gegen die Konventionen verstoßen hatte.

Wehmütig dachte sie an ihre Kindheit in Madrid zurück. Ihr Vater war Gesandter der englischen Botschaft gewesen, als er eine junge spanische Adelige kennenlernte. Er heiratete sie kurz darauf, und neun Monate später bekamen sie ihr einziges Kind. Die Mutter nannte es Charlotta, wie dies auch in ihrem Taufschein stand. Der Vater rief es zärtlich Kitty. Zwölf Jahre lebten sie glücklich in ihrem Palais im sonnigen Süden. Kitty war noch zu jung, um das strenge Zeremoniell des spanischen Hofes zu spüren, dem sich ihre Mutter nur allzu schwer fügen konnte.

Eines Tages hatte ihr Papa ein Schreiben bekommen, durch das sich ihr weiteres Leben schlagartig ändern sollte. Es wurde ihnen mitgeteilt, dass ein betagter Onkel, der Herzog von Elmington, verstorben war. Es hatte einen Brand auf Elmington Palace gegeben, und er sowie sein einziger Sohn Horace waren in den Flammen ums Leben gekommen. Kittys Vater, Mr. Stapenhill, war der nächste männliche Angehörige. Er, der nie damit gerechnet hatte, fand sich plötzlich als sechster Herzog von Elmington wieder. Und damit mit der Verpflichtung konfrontiert, das beschauliche Leben in Madrid aufzugeben und nach London zurückzukehren, um das Erbe anzutreten. Seine Gattin fügte sich nur schweren Herzens diesen Plänen. Sie war an das warme südliche Klima gewöhnt und konnte dem nasskalten englischen Wetter, das sie von einigen Besuchen her kannte, nichts abgewinnen. Auch das Temperament der Inselbewohner schien ihr seltsam steif und unnahbar. An die englische Küche wollte sie erst gar nicht denken. Dennoch entschloss sie sich, mit ihrem Gatten nach London zu reisen, als dieser in die Hauptstadt musste, um die notwendigen Dinge zu erledigen und die Unterschriften beim Notar zu leisten. Sie wollten das Haus in der Charles Street für ihren Einzug vorbereiten und anschließend nach Madrid zurückkehren, um ihre Tochter zu holen und endgültig nach England zu übersiedeln. Doch dazu sollte es nie kommen. Das Schiff, auf dem Mr. und Mrs. Stapenhill reisten, sank in einem Sturm im Atlantik. Keiner der Passagiere konnte gerettet werden. Durch den Tod von Mr. Stapenhill starb der letzte männliche Nachkomme von Elmington. Der Titel und ein Teil der Besitztümer fielen an die Krone zurück. Kitty erbte ein großes Vermögen. Dem Wunsch ihres Vaters entsprechend, der bei seinem Schwiegervater, so als habe er das Unglück geahnt, ein Testament hinterlassen hatte, wurde Kitty von ihren spanischen Verwandten nach England gebracht, um in Zukunft im Lande ihrer Väter erzogen zu werden.

Tante Jane Farnerby war die einzige Schwester ihres Vaters und somit ihre nächste Angehörige. Sie hatte selbst zwei Töchter großgezogen und passend verheiratet. Nun brachte sie ihre Nichte im Institut von Mrs. Clifford unter, wo sie sich langsam von der Trauer um ihre Eltern und dem Abschied von Spanien erholte. Zu der um drei Jahre älteren Mary Ann Rivingston hatte sich bald eine enge Freundschaft entwickelt. Und sie begann auch in ihrer neuen Heimat Dinge zu entdecken, die das Leben lebenswert, aufregend und angenehm machen konnten.

Ihr Taschengeld war großzügig bemessen. Sie konnte sich die schönsten Kleider leisten, die sie sich von der Schneiderin in Bath anfertigen ließ. Sie ritt den Vollbluthengst Salomon und sehnte ihren achtzehnten Geburtstag herbei. Tante Jane hatte versprochen, sie an diesem Tag abzuholen und in die Gesellschaft einzuführen. Die Vormundschaft bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr teilten sich Tante Jane sowie deren Halbbruder, den Kitty noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Seine Lordschaft war mehr für die Vermögensverwaltung zuständig, während sich Tante Jane um die Erziehung ihrer Nichte kümmern wollte. Einer Nichte, die ihr in ihrer ungestümen Art fremd und unvertraut war. Und um deren Schicksal sie sich nur deshalb annahm, damit der gute Bruder Harry in Frieden ruhen konnte.

Es war am Tag, nachdem Kitty heimlich Zeuge des Duells geworden war, als sie bereits nach dem Frühstück zu Mrs. Clifford gerufen wurde. Das Zimmer der Schulleiterin lag am Ende eines langen Korridors. Es war ein großer, düsterer Raum, der mit eleganten Möbeln geradezu überladen wirkte. Erst kürzlich war eine Garnitur im Queen-Ann-Stil hinzugekommen, die eine dankbare Schülerin dem Institut vermachte. Von den Wänden blickten in dunklen Ölbildern die strengen Gesichter der Förderer der Schule.

Mrs. Clifford war eine kleine Dame mittleren Alters. Die glatten, grauen Haare waren zu einem Zopf geflochten, am Hinterkopf aufgesteckt und unter einem Turban versteckt, der farblich abgestimmt zur jeweiligen Garderobe passte. Ein Zwicker auf der Nase gab ihrem Gesicht ein strenges Aussehen, das durch die schmalen, bläulichen Lippen und das spitze Kinn noch unterstrichen wurde. Das Auffallendste jedoch war eine kreisrunde Warze auf der linken Wange, aus der Haare in unterschiedlicher Länge und Farbe wuchsen. Dieser seltsame Anblick hatte schon manchen Besucher so verwirrt, dass er einem Gespräch mit der Schulleiterin nur mit Mühe folgen konnte. Die Mädchen aber hatten sich längst an Mrs. Cliffords Aussehen gewöhnt.

Kitty betrat das Zimmer mit dem unbehaglichen Gefühl, dass ihr unerlaubter Ausritt vom Vortag entgegen ihren Hoffnungen nicht unbemerkt geblieben war. Doch Mrs. Clifford hatte etwas ganz anderes mit ihr zu besprechen: »Es ist untragbar, dass deine Pferde keine geeignete Betreuung haben, Charlotta«, begann sie ohne Umschweife und blickte, hoch aufgerichtet in ihrem Schreibtischstuhl, mit ernstem Blick zu ihrer Schülerin empor. Wie immer, wenn eines der Mädchen gerügt wurde, wartete auch Kitty vergeblich darauf, dass ihr ein Sitzplatz angeboten wurde. »Hast du deiner Tante geschrieben, dass sie einen Pferdeknecht einstellen und hierherschicken soll, wie ich es dir aufgetragen habe?«

Kitty hatte nichts dergleichen getan. Sie wusste, dass Tante Jane wieder einen Mann ihres Vertrauens auswählen würde. Und dieser würde sie abermals über das Verhalten und die Unternehmungen ihrer Nichte auf dem Laufenden halten. Sie hatte gehofft, selbst einen Burschen zu finden. Doch dieses Unterfangen erwies sich als unmöglich. Überdies war es angenehm, die Tiere von Susann Corplets Knecht Fred mitbetreuen zu lassen. Dieser sattelte Salomon für sie, ohne lange Fragen zu stellen. Mrs. Clifford deutete das Schweigen ihres Schützlings richtig. »Du enttäuschst mich sehr, Charlotta«, sagte sie streng. »Ich vertraue darauf, dass meine Schülerinnen meine Anweisungen befolgen. Dein Verhalten jedoch zwingt mich dazu, selbst an Lady Farnerby zu schreiben und um einen Reitknecht zu bitten.«

Es war erst nach dem Mittagessen, die Mädchen hatten sich wie gewöhnlich zu einer Stunde Ruhepause in ihre Zimmer zurückgezogen, als Kitty dazu kam, ihrer Freundin den Inhalt des Gespräches mit Mrs. Clifford zu erzählen.

»Das war also der Grund, dass sie dich zu sich holen ließ«, sagte Mary Ann aufseufzend. »Und ich dachte schon, dein gestriger Ausritt sei ihr zu Ohren gekommen. Weißt du, Kitty, vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht, wenn du wieder einen Stallknecht hättest. Als Joe hier war, konnten wir jederzeit eine Ausfahrt unternehmen, wenn uns der Sinn danach stand. Nun müssen wir stets Mrs. Clifford um Erlaubnis bitten, dass einer ihrer Stallburschen deinen Wagen kutschiert.«

»Du hast ja recht«, erwiderte Kitty. »Mir ist auch nicht wohl dabei, dass Mrs. Clifford über jeden unserer Schritte Bescheid weiß. Außerdem habe ich ernstliche Zweifel, ob Fred Salomon ordentlich versorgt. Er scheint mir nicht so zuverlässig zu sein, wie ich anfangs gehofft hatte. Und dennoch …« Sie lehnte sich in ihrem Fauteuil zurück und streckte ihre Arme in die Höhe, bevor sie sie mit einem Aufseufzen wieder in ihren Schoß sinken ließ. »Wenn wir doch nur einen Ausweg wüssten. Natürlich will ich einen eigenen Pferdeknecht, aber nicht einen, der aus Tante Janes Diensten kommt und der ihr alles über unsere Unternehmungen erzählt. Ständig Tantes Briefe mit den vielen Ermahnungen. Ständig die wiederkehrende Drohung, mich von Mrs. MacWetherby erziehen zu lassen. Du weißt, das ist eine ehemalige Gouvernante ihrer Töchter, die meine Cousinen Lizzy und June zu ordentlichen Damen der Gesellschaft erzogen hat. No, gracias. Wir müssen selbst einen geeigneten Burschen finden.«

»Bis heute ist uns das nicht gelungen«, warf Mary Ann trocken ein.

»Und ich wüsste auch nicht, wie uns das in Hinkunft gelingen sollte. Gute Pferdeknechte klopfen nicht an die Schultür und bitten um Arbeit.«

Kitty lachte amüsiert: »Du hast recht«, stimmte sie zu. »Außerdem haben wir ohnehin keine Wahl: Mrs. Clifford wird noch heute Nachmittag eines der Mädchen mit einem Brief an Tante Jane zum Postamt nach Bath schicken. Also können wir nur warten und hoffen, dass uns Mylady einen Mann schickt, der wenigstens mit Pferden umzugehen weiß.«

Sie begann ihr Kleid aufzuknöpfen und öffnete den Schrank, um nach einem freien Bügel Ausschau zu halten. Es war Zeit, dass sie sich für den Nachmittag umkleidete. Nachdenklich betrachtete sie ihre Garderobe, die dicht gedrängt nahezu den gesamten Schrank füllte. Tante Jane war nicht knausrig, wenn es darum ging, ihre Nichte standesgemäß auszustatten. Zahlreiche Tageskleider in zarten Streifen oder klein geblümtem feinem Musselin hingen neben den beiden Reitkleidern aus modischem Samt. Das eine war im Husarenstil geschnitten mit goldenen Knöpfen und Epauletten an den Schultern, wie es das Lady’s Journal in einer seiner letzten Ausgaben als den neuesten Schrei der Mode angepriesen hatte. Die Abendkleider waren in Pastellfarben gehalten und von schlichter Eleganz. Alle mit kleinem Ausschnitt, wie es sich für ein Mädchen ziemte, dessen Debüt in London noch bevorstand und das seinen Knicks vor der Königin noch nicht absolviert hatte. Die Hutablage quoll über vor reizenden Kreationen, mit bunten Bändern oder kleinen Blümchen aufgeputzt, die der Garderobe erst den richtigen Schliff gaben. Neben diesen Träumen aus Musselin, Tüll und Voile nahmen sich die Kleider ihrer Freundin besonders trostlos aus. Mit spitzen Fingern ergriff sie Mary Anns einziges Abendkleid. Es war aus einem weinroten Wollstoff, hochgeschlossen mit langen Ärmeln, die eng um das Handgelenk geknöpft wurden. Verächtlich rümpfte sie die Nase. Es war ausgeschlossen, dass Mary Ann diese langweilige Toilette beim Ball von Mrs. Nestlewood tragen konnte. Nie und nimmer würde es ihr damit gelingen, das Herz von Reverend Westbourne zu erobern. Nein, Annie brauchte eine aufregende Kreation, die die Vorzüge ihrer Figur zur Geltung brachte. In einer Farbe, die die Makellosigkeit ihres Teints unterstrich, die die Blicke der Herren magisch auf sich zog, die … »Grün!«, rief Kitty unvermittelt aus.

Mary Ann hatte sich in der Zwischenzeit wieder ihrer Lieblingslektüre, dem Register adeliger Familien, zugewandt. Die kritischen Blicke, mit denen die Freundin ihr Abendkleid gemustert hatte, waren ihr völlig entgangen. Nun fuhr sie von ihrem Buch auf und hörte erstaunt zu, als diese fortfuhr: »Smaragdgrün. Der Ausschnitt auf keinen Fall zu klein. Am besten, man säumt ihn mit einem Satinband. Oder meinst du, dass dein Dekolleté besser zur Geltung kommt, wenn man den Ausschnitt mit zarten Perlen bestickt? Du solltest Mrs. Millcock fragen. Deine Haare dürfen auch nicht so streng nach hinten gebunden werden, wie du sie in der Schule trägst. Am besten, wir lassen sie locker auf die Schultern rieseln und flechten ein grünes Band hinein. Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich sehe dich richtig vor mir. Du siehst fantastisch aus.«

Mary Ann klappte ihr dickes Buch mit einem lauten Klatschen zu. »Wovon sprichst du um Himmels willen?«

»Von deinem Ballkleid naturalmente!« rief Kitty aus. »Ich spreche von dem Ballkleid, das du bei Mrs. Nestlewood tragen wirst. Dachtest du denn, ich würde dich dort in Sack und Asche erscheinen lassen? Du wirst natürlich eine hinreißende Kreation tragen. Deinem guten Bernard wird der Mund vor Staunen offen stehen bleiben.«

Vor Mary Anns Augen erschien eine aufregende Vision aus schimmernder grüner Seide. Die klugen blauen Augen des Reverend blickten voll Bewunderung und Ehrfurcht auf ihre elegante Gestalt. »Miss Rivingston!«, hörte sie ihn ausrufen. »Wie konnte mir nur bisher entgehen, dass Sie eine Schönheit sind?«

Mary Ann rieb sich aufgeregt die Hände. »Wie komme ich zu diesem grünen Kleid?«, erkundigte sie sich mit unüberhörbarer Vorfreude.

»Du musst ohne weiteren Aufschub Mrs. Millcock aufsuchen. Natürlich ist die Zeit schon äußerst knapp. Und doch sollte die Schneiderin in der Lage sein, in drei Tagen ein passendes Kleid für dich anzufertigen. Am besten, du gehst sofort zu Mrs. Clifford und bittest sie, dass Harris dich nach Bath bringen darf. Ach, wenn wir doch schon wieder einen eigenen Pferdeknecht hätten. Jetzt beginne ich mich selbst schon mit dem Gedanken anzufreunden, dass Tante Jane einen ihrer Bediensteten schickt. Ein eigener Pferdeknecht ist jedenfalls besser als gar keiner.«

»Mrs. Millcock!«, rief Mary Ann. »Ich kann mir doch von meinem Taschengeld nie im Leben eines ihres Kunstwerke leisten.«

»Ich werde dir etwas von meinem Geld leihen«, erklärte Kitty und eilte zu ihrem Sekretär. Mit geübtem Griff klappte sie ihn auf und öffnete die Geheimlade, die ihr als Versteck für ihre Barschaft diente. Mit skeptischem Blick entnahm sie einige Scheine. »Leider ist es nicht viel. Wie du weißt, ist mein nächster Scheck Anfang Dezember fällig. Daher ist mein Geld fast zur Gänze aufgebraucht.«

Mary Ann war aufgesprungen. Mit geröteten Wangen zählte sie die Geldscheine, die Kitty ihr reichte. »Nicht viel Geld? Das ist ein Vermögen!«, rief sie aus. »Kitty, das ist viel zu viel. Ein einziges Kleid kann doch kein solches Vermögen kosten.«

»Es kann ein noch viel größeres Vermögen kosten«, erklärte Kitty gelassen. »Aber wenn wir unser Ziel erreichen, dann macht sich diese Ausgabe mehr als bezahlt.«

Da wurde sie von Mary Ann auch schon stürmisch umarmt. »Oh, vielen, vielen Dank!«, rief diese aus. »Du ahnst gar nicht, wie ich mich freue. Ich habe aber ein schlechtes Gewissen, dein verlockendes Angebot anzunehmen …«

»Ein schlechtes Gewissen?«, entgegnete Kitty. »Das ist völlig überflüssig. Der Einzige, der hier ein schlechtes Gewissen haben sollte, ist dein verehrter Herr Bruder. Ihm sollte es schlaflose Nächte bereiten, dass er seine Schwester in trostlosen, unmodischen Kreationen herumlaufen lässt. Aber nun wird alles anders. Nun machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung. Ehe sich Seine Lordschaft versieht, bist du verheiratet, und damit ist er nicht mehr Herr über dein Vermögen …«

Es klopfte an der Tür. Rasch ließ Mary Ann die Geldscheine hinter ihrem Rücken verschwinden. Heather, das Hausmädchen, streckte ihren Kopf zur Türe herein. »Sie sollen zu Mrs. Clifford kommen, Miss Rivingston«, erklärte sie mit ihrer hohen, piepsenden Stimme.

»Mrs. Clifford sagte, Sie sollen sich beeilen. Sie hat einen Auftrag von großer Dringlichkeit.«

Mary Ann öffnete ihr Retikül, stopfte die Geldscheine hinein und beeilte sich, dem Mädchen auf den Gang hinaus zu folgen.

Schneegestöber

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