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IV.

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Eine gute halbe Stunde später rollte die alte, behäbige Kutsche durch das schmiedeeiserne Tor aus dem Schulhof hinaus. Mary Ann lehnte sich in die abgewetzten schwarzen Lederpolster zurück und lächelte zufrieden. Das hatte ja besser geklappt, als sie zu hoffen gewagt hatte. Von allen Mädchen der Schule hatte Mrs. Clifford gerade sie ausgewählt, den Brief an Kittys Tante zur Post zu bringen. Und deshalb hatte sie ohne zu zögern ihrer Schülerin die Erlaubnis erteilt, bei dieser Gelegenheit auch die Schneiderin in Bath aufzusuchen. Mary Ann hatte ihr erklärt, dass die Säume zweier ihrer Kleider nachgenäht werden müssten. Das war nicht einmal gelogen. Und dass Mary Ann derartige Näharbeiten normalerweise selbst verrichtete, um ihr knappes Taschengeld zu schonen, konnte Mrs. Clifford ja nicht wissen.

»Da fällt mir ein … wenn du schon bei Mrs. Millcock vorbeikommst … warte hier.« Mrs. Clifford eilte aus dem Direktionszimmer auf den Gang hinaus und verschwand in ihrem gegenüberliegenden Schlafgemach. Nach kurzer Zeit kam sie zurück, einen ihrer maisfarbenen Umhänge über dem Arm. »Das gute Stück braucht dringend neue Knöpfe«, erklärte sie. »Ich verlasse mich auf Mrs. Millcocks guten Geschmack. Sie wird sicher die passenden Knöpfe aussuchen. Bitte betone, dass ich keinen Wert auf modischen Aufputz lege, Mary Ann. Am besten, man nimmt Knöpfe aus gutem, gediegenem Hirschhorn. Und bitte die Schneiderin, diese mit doppeltem Faden anzunähen. Ich erwarte, dass ich die neuen Knöpfe nicht so rasch verliere wie die letzten.«

Mary Ann nickte und versprach, die Anweisungen an die Schneiderin weiterzugeben.

»So, und nun gehe, mein gutes Kind.« Mrs. Clifford tätschelte mit einem seltenen Anflug von mütterlichem Wohlwollen Mary Anns Wange. »Ich weiß, dass Harris nicht gerne kutschiert, wenn es dunkel ist. Und vergiss nicht, den Brief an Mylady Farnerby aufzugeben. Es ist höchste Zeit, dass Charlotta einen neuen Pferdeknecht bekommt. Susanns Kutscher kommt mit ihrem kapriziösen Reitpferd nicht zurecht. Harris findet fast täglich einen Grund zur Beanstandung. Ich habe keine Lust, mir ständig seine Klagen anzuhören. Das siehst du doch ein, Mary Ann, nicht wahr?«

Diese nickte, während sie den Umhang der Schulleiterin an sich nahm. Je eher wir wieder einen eigenen Pferdeknecht haben, desto besser, dachte sie bei sich.

»Das habe ich angenommen«, entgegnete die Schulleiterin zufrieden.

»Ich halte dich für eine sehr verständige junge Dame, Mary Ann. Das muss einmal gesagt werden. Auch von den anderen Lehrkräften höre ich so gut wie nie eine Klage über dich. Du bist ein sehr aufmerksames, wohlerzogenes Mädchen. Ich darf nicht vergessen, dies in meinem nächsten Schreiben an deinen ehrenwerten Bruder zu erwähnen.«

Mary Ann biss sich auf die Lippen, sagte jedoch nichts. Wie hätte sie Mrs. Clifford auch erklären können, dass ein derartiges Lob sie nicht stolz, sondern wütend machte? Sie war nun einundzwanzig Jahre alt, viel zu alt für diese Schule. Viel zu alt, um sich über ein Lob zu freuen, das für eine Vierzehnjährige angebracht gewesen wäre. Mrs. Clifford sollte ihrem Bruder etwas ganz anderes schreiben. Nämlich, dass es seine Pflicht wäre, sie endlich von hier wegzuholen und ihr ein standesgemäßes Leben zu bieten. Er sollte endlich ihr Debüt in London ausrichten, sie der Königin vorstellen …

Mrs. Clifford sah die erröteten Wangen und lächelte mild. Es war reizend anzusehen, dass sich das liebe Ding so über ihr Lob freute. Sie beschloss, noch ein Schäuflein nachzulegen. »Und ich sehe auch, dass du einen wohltuenden Einfluss auf Charlotta ausübst«, setzte sie daher lobend hinzu. »Ihr undamenhaftes Temperament wird durch deine wohltuende Zurückhaltung in wünschenswerte Bahnen gelenkt. Ich darf gar nicht daran denken, mit welch unpassenden Ideen, mit welch verwilderter Erziehung Charlotta einst dieses Haus betrat …« Sie unterbrach sich und schüttelte aufseufzend den Kopf. Nun war es an Mary Ann, wirklich zu erröten. Wenn Mrs. Clifford wüsste, welch unpassende Idee Kitty derzeit im Sinn hatte. Was würde sie wohl dazu sagen, wenn sie wüsste, dass Kitty sich heimlich aus dem Internat schleichen wollte, um an einem Ball teilzunehmen! Und wenn sie darüber hinaus wüsste, dass die eben so hoch gelobte Mary Ann weit davon entfernt war, ihrer Freundin diesen Plan auszureden. Nein, dass sie sie vielmehr darin unterstützte. Mary Ann beschloss, die Unterredung so rasch wie möglich zu beenden, um nicht Gefahr zu laufen, ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

»Ich werde Ihren Brief an Lady Farnerby gerne zur Post bringen«, versprach sie.

»Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann …« Mrs. Clifford nickte. »Sag Harris, er soll anspannen. Heather soll dir eine Decke und einen heißen Ziegelstein in das Fahrzeug legen.«

Mary Ann bedankte sich artig, knickste und eilte in ihr Zimmer. Es war höchste Zeit, dass sie sich für die Fahrt in die Stadt umkleidete. Doch zuerst musste sie noch das Hausmädchen Heather zu den Ställen schicken. Ein heißer Ziegelstein würde ihre Füße trotz des kalten Wetters warm halten. Was war nur über Mrs. Clifford gekommen? Einen derartigen Luxus gönnte sie ihren Schülerinnen nur zu besonderen Anlässen.

Mit den Füßen auf dem Ziegelstein fand Mary Ann es einigermaßen angenehm warm in der Kutsche. Sie hatte eine Decke um ihren Körper geschlungen und bis zur Brust heraufgezogen. Es war ein kalter Novembertag. Wenn man den Worten des alten Kutschers glauben konnte, dann würde es bald noch kälter werden. Ein langer, eisiger Winter stand bevor. »Glauben Sie mir, Miss Mary Ann«, hatte dieser mit mürrischem Blick zum Himmel gemeint, als er ihr in die Kutsche half, »es dauert nicht mehr lange, und wir bekommen Schnee. So viel Schnee, wie wir seit Jahren nicht mehr gehabt haben.« Er deutete mit der Hand auf sein rechtes Bein, das er beim Gehen deutlich nachzog. »Seit mir diese verdammten Franzosen das Bein zerschossen haben, kann ich jeden Wetterwechsel deutlich spüren, wissen Sie, Miss Mary Ann.« Dann hatte er die Wagentür geschlossen, den Kutschbock erklommen und die Pferde in Bewegung gesetzt.

Mary Ann griff nach ihrem Retikül. Da war also Mrs. Cliffords Brief. Und daneben lagen die Geldscheine, die Kitty ihr gegeben hatte. Ehrfürchtig nahm sie das Bündel heraus und zählte es nach. So viel Geld! Was für eine Verschwendung, es für ein einziges Ballkleid auszugeben. Als sie von der Unterredung mit Mrs. Clifford zurückgekehrt war, hatte sie Kitty noch einmal gefragt, ob nicht die Hälfte des Betrages für ein Ballkleid ausreichen sollte. Doch diese hatte ihren Einwand mit einer energischen Handbewegung vom Tisch gewischt: »Denkst du denn, dein guter Bernard gerät in Entzücken, wenn du aussiehst wie im Schulzimmer? Nein, nein, du brauchst ein neues, aufregendes Kleid. Und ich habe auch schon einen bestimmten Stoff dafür im Auge. Mrs. Millcock hat ihn mir gezeigt, als ich das letzte Mal in ihrem Salon war. Es ist ein schwerer Brokat aus leuchtendem Grün, das genau zu deinen Augen passen müsste. Mit goldenen Fäden durchwirkt, die im Schein der Kerzen Funken sprühen werden.« Kitty hatte vor Begeisterung in die Hände geklatscht. »Der gute Reverend wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.«

Mary Ann musste lächeln: Die liebe Kitty. Was war sie für eine gute Freundin. Und was für eine verlockende Vorstellung, sich Mr. Westbourne sprachlos vor Bewunderung vorzustellen.

»Der Stoff ist natürlich nicht billig«, hatte Kitty hinzugefügt, und man hatte ihr angemerkt, dass dieser Umstand keinen Grund zur Beunruhigung für sie darstellte. »Und da du das Kleid bereits in drei Tagen brauchst, wird Mrs. Millcock weitere Näherinnen einstellen müssen, die auch in der Nacht daran arbeiten.«

Dieser Gedanke hätte Mary Ann fast die Vorfreude verdorben.

»Wenn ich daran denke, dass junge Mädchen und Frauen nur deshalb die ganze Nacht aufbleiben müssen, damit ich mein Vergnügen dran habe«, hatte sie nachdenklich eingeworfen.

»Aber die Frauen verdienen doch Geld dabei«, hatte Kitty erwidert.

»Und sie können damit zum Unterhalt ihrer Familien beitragen. Also werden sie froh sein, wenn sie für dich nähen dürfen. Und überdies: Du brauchst dir wirklich kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn du dir einmal ein Vergnügen gönnst. Wer, frage ich dich, zerbricht sich denn den Kopf darüber, dass du hier in dieser freudlosen Schule leben musst?«

Da hatte ihr Mary Ann recht gegeben. Es wurde Zeit, dass sie auch einmal an ihr eigenes Vergnügen dachte.

Warm in ihre Decke gehüllt, genoss sie die Fahrt in die nahe Stadt. Sie war unterwegs, um sich das Kleid ihrer Träume schneidern zu lassen. Und sie würde in Kürze ihren ersten Ball besuchen. Sie würde sich im vornehmen Haus von Mrs. Nestlewood im Arm von Mr. Westbourne im Walzertakt drehen. Welch ein Abenteuer! Ach, wie sehr sie sich nach Abwechslung und Abenteuer sehnte!

Ein lautes Krachen unterbrach jäh ihre Gedanken. Bevor sie recht wusste, wie ihr geschah, bevor sie noch Gelegenheit hatte, sich festzuhalten, kippte die Kutsche zur Seite. Mit voller Wucht prallte sie gegen das linke Fenster und blieb leicht benommen liegen. Das laute Wiehern der Pferde war zu vernehmen, ihr aufgeregtes Stampfen auf dem Lehmboden. Sie rüttelten und zogen an der Kutsche, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Dann war Harris’ Stimme zu hören, er sprach besänftigend auf die Tiere ein. Es war ihm anscheinend gelungen, vom Kutschbock zu steigen, und nun bemühte er sich, die Pferde zu beruhigen. Mary Ann blickte durch das Fenster; ein Glück, dass die Scheibe nicht zerborsten war. Vor dem linken Fenster war nur Gras zu erkennen. Die Halme waren geknickt und niedergedrückt. Ein Blick aus dem rechten Fenster zeigte den grauen, wolkenverhangenen Himmel. In diesem Augenblick wurde der rechte Schlag aufgerissen, und der alte Harris streckte sein zerfurchtes Gesicht ins Wageninnere: »Sind Sie verletzt, Miss Mary Ann?«

Mary Ann fühlte sich noch immer leicht benommen, ihr linker Arm schmerzte. Dennoch hatte sie das Kutschenunglück heil überstanden.

»So ein Glück aber auch, dass wir gerade an dieser Böschung vorbeifuhren, als es passieren musste«, erklärte der Kutscher. »Geben Sie mir Ihre Hand, Miss Mary Ann. Geben Sie mir Ihre Hand.« Er beugte sich so weit vor, wie er nur konnte, und ergriff ihr Handgelenk. Es war gar nicht so leicht, aus der schräg gestellten Kutsche zu klettern. Und dann stand sie also endlich im Freien, das Retikül eng an ihre Brust gedrückt, und fröstelte. Wie kam sie jetzt bloß auf dem schnellsten Weg zur Schneiderin?

Harris hatte andere Sorgen: »Das linke Vorderrad ist angeknackst«, stellte er sachkundig fest, nachdem er die Räder einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte. »Kein Wunder bei dem alten Gefährt. Ich hab Mrs. Clifford schon so oft darauf hingewiesen, dass es einmal ein Unglück geben wird. Ich hab sie schon so oft gebeten, eine neue Kutsche anzuschaffen. Aber sie tut’s nicht, und ich kann’s nicht ändern.« Er hinkte zu den Pferden vor, die durch das Umkippen der Kutsche keinen Schaden erlitten zu haben schienen. »Ich spann mir mal die Lilly aus und reite in die Stadt hinein. Mal sehen, ob ich einen Schmied auftreibe, der den Schaden da beheben kann.«

»Sie wollen mich hier allein stehen lassen, mitten in dieser verlassenen Gegend?«, fuhr Mary Ann erschrocken auf.

»Es tut mir ja auch leid, Miss, aber wir haben keine andere Wahl. Und die Gegend ist gar nicht so verlassen, wie Sie vielleicht meinen. Sehen Sie nur, da vorne sieht man die ersten Häuser der Stadt.«

Mary Ann blickte sich um, und es war ihr gar nicht wohl zumute. Der Kutscher erkannte, wie unbehaglich sich die junge Dame fühlte. »Ich kann Sie doch nicht mitnehmen, Miss Mary Ann. Das sehen Sie doch sicher ein. Wir haben ja nicht einmal einen Sattel für Sie.« Behände, wie man es ihm aufgrund seines Alters nicht zugetraut hätte, schwang er sich auf den Rücken des Kutschpferdes und ergriff die Zügel.

»Bitte beeilen Sie sich, Mr. Harris!«, rief Mary Ann ihm nach. »Ich muss heute unbedingt noch zur Schneiderin.«

Der Mann hob grüßend die Hand zur Mütze. »Ich will sehen, was sich machen lässt, Miss«, rief er zurück. Dann ritt er in gemächlichem Tempo die lange Straße hinunter. Am Horizont waren tatsächlich die ersten, aus Sandstein gebauten Häuser zu sehen, die den Stadtrand von Bath anzeigten. Hoffentlich hat er Glück, dachte Mary Ann, und findet bereits in der ersten Siedlung einen Schmied, der das Rad reparieren kann. Sie beschloss, ihre Decke aus dem Wageninneren zu holen. Obwohl es sich um ein derbes, dickes, durch und durch unmodisches Stück handelte. Es war ein außergewöhnlich kalter Tag, und der Mantel allein konnte die Kälte nicht abhalten. Sie legte die Decke um ihre Schultern, zog sie eng am Busen zusammen und begann, neben dem Fahrzeug auf und ab zu gehen. Das zweite Kutschpferd stand regungslos und starrte trübe auf den Lehmboden des Weges. Hoffentlich kam Harris innerhalb der nächsten Stunde zurück. Dann würde sie ihr Pensum noch schaffen. Zuerst zur Schneiderin. Wenn sie sich beeilte, dann würde das Maßnehmen nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen. Ein Glück, dass Kitty bereits den passenden Stoff für sie ausgewählt hatte. Und dann musste sie nur noch rasch zum Postamt. Um spätestens vier Uhr wollte der Kutscher die Rückfahrt antreten, um vor Einbruch der Dunkelheit das Schulgebäude wieder zu erreichen. Das musste sie einfach schaffen. Sie brauchte dieses grüne Traumgebilde von einem Ballkleid. Sie musste Mr. Westbourne endlich dazu bringen, sie nicht nur als seine Schülerin, sondern als Frau zu sehen. Wenn sie doch schon verheiratet wäre! Dann könnte sie über ihr eigenes Geld verfügen, nach London gehen, Bälle besuchen, Konzerte, Theater. Sie würde tanzen, sich vergnügen, all das nachholen, was ihr durch die Sparsamkeit ihres Bruders bisher verwehrt geblieben war. Der Reverend war der Sohn des Earl of Westmore. Sicher besaßen seine Eltern ein Haus in einem vornehmen Stadtteil Londons. Ob sie ihnen wohl gestatteten, dort zu wohnen? Nur schade, dass Kitty nicht sofort mit ihnen kommen konnte. Aber es war ja bereits Ende November. Kitty würde im Februar achtzehn. Dann würde auch sie nach London kommen, um ihr Debüt in der Hauptstadt zu geben. Während Mary Ann in die dicke Decke gehüllt auf der einsamen schmalen Landstraße auf und ab ging, schwelgte sie in Gedanken in den verlockendsten Phantasien. Sicher würde Bernard sie zu einer Hochzeitsreise einladen. Wohin fuhr man in dieser kalten Jahreszeit? Nach Italien vielleicht? Oder nach Griechenland, um die Tempel und Statuen zu besichtigen, die Bernard auf Abbildungen so sehr bewunderte? Würden sie ihre Abende damit verbringen, dass Bernard mit ihr lateinische Verse übersetzte? Mary Ann musste kichern. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, von Bernard geküsst zu werden. Sie konnte es nicht.

Ein kalter Windstoß fuhr ihr über das Gesicht. Erschrocken fuhr sie aus ihren Gedanken auf und blickte die lange Straße hinunter. Noch keine Spur von Harris. Auch von anderen Kutschen war weit und breit nichts zu sehen. Mary Ann fröstelte. Wenn der Kutscher doch nur endlich zurückkäme. Was war das? Ging dort nicht ein einzelner Mann auf der Straße, der mit großen Schritten immer näher kam? Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Der Mann schlug ein ordentliches Tempo an. Vor wenigen Augenblicken hatte sie ihn noch gar nicht gesehen. Und nun kam er näher und näher. Wer war dieser Mann? Was machte er auf der einsamen Landstraße? Wer sagte denn, dass Straßenräuber immer zu Pferd sein mussten? Was mochte dieser Mann für Absichten haben? Erschrocken blickte sie sich um. Wenn sie doch nur eine Pistole hätte oder wenigstens einen Prügel. Wo blieb Harris? Wie kam er dazu, sie so schutzlos, jedem Fremden ausgeliefert, in dieser verlassenen Gegend zurückzulassen? Sie stellte sich in den Schatten der Kutsche und beschloss abzuwarten. Klopfenden Herzens hörte sie, wie energische Schritte auf dem knirschenden Lehmboden immer näher kamen. Schon wurde sein heißer Atem sichtbar, der sich in der kalten Luft abzeichnete. Der Atem ging schnell, ein deutliches Schnaufen war zu vernehmen. Schon war der Bursche auf Höhe der Kutsche. Würde er sie ansprechen? Würde er sie angreifen? Mary Ann wagte nicht zu atmen. Doch der Mann beachtete sie kaum. Im Vorbeieilen hob er grüßend die Hand zur Mütze, dann war er an ihr vorüber. Mary Ann stieß geräuschvoll die Luft aus. »Angsthase«, schalt sie sich selbst. Anscheinend las sie zu viele Romane. Wie konnte sie nur einen harmlosen Wanderburschen für einen Räuber halten? Die Anspannung, die sie befallen hatte, ließ nach. Befreit lehnte sie sich gegen die Kutschenwand.

Mit einem lauten Rumpeln gab die Kutsche jedoch plötzlich nach und rutschte ein Stück das nasse Gras der Böschung entlang. Das Kutschpferd wurde aus seiner Erstarrung gerissen. Es fing wie wild zu wiehern an und versuchte in Panik, das umgestürzte Fahrzeug hinter sich her der Stadt entgegenzuschleifen. Als es merkte, dass ihm dies nicht gelang, schlug es nach allen Richtungen aus und drohte an der Kutsche noch weit größeren Schaden anzurichten, als dies das kaputte Wagenrad getan hatte. Mit erschrockenem Aufschrei wich Mary Ann zurück. Sie hatte keine Ahnung vom Umgang mit Pferden. Es war ihr bereits beim Gedanken nicht wohl, eines dieser hohen Tiere zu besteigen, um damit auszureiten. Geschweige denn wollte sie sich dieser wild gewordenen Furie nähern, um sie zu beruhigen und Schaden am Fahrzeug zu verhindern. »He, Sie!«, rief sie aus Leibeskräften dem Wanderburschen nach. »Sie müssen mir helfen! He, Sie, junger Mann!« Es hatte den Anschein, als habe der Bursche sie nicht gehört. Oder als wollte er sie nicht hören. Da rief ihn Mary Ann abermals, so laut sie konnte. Langsam wandte sich der Mann um. Als er das wild um sich schlagende Pferd sah und die Miss, die hilflos am Straßenrand stand, da beschloss er doch, kehrtzumachen, um ihr zu Hilfe zu eilen. Mit raschen Schritten war er bei der Kutsche. Er ergriff die Zügel mit fester Hand und sprach mit ruhiger Stimme auf das Pferd ein. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Erleichterung sah Mary Ann zu, wie sich das Tier beruhigte und bald wieder friedlich auf den Lehmboden starrte, als sei nichts geschehen. Sie wollte sich eben bei ihrem Retter bedanken, als das Knallen einer Peitsche die Luft durchschnitt. Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Burschen und dem Kutschpferd gewidmet, sodass ihr ganz entgangen war, dass sich ein älterer, untersetzter Bauer auf seinem mageren, hochbeinigen Ross genähert hatte. Der Bursche warf ihr aus tiefen blauen Augen ein Vergebung heischendes Lächeln zu. »’tschuldigen Sie, Miss«, flüsterte er ihr zu. »Ich hätt gern verhindert, dass Sie in diese Geschichte hineingezogen werden.«

»Hier finde ich dich also, du nichtsnutziger Tagedieb!«, brüllte der Bauer und drohte, die Peitsche auf den Körper des Burschen niedersausen zu lassen. Er hätte es zweifellos getan, hätte ihn nicht die Gegenwart einer Dame von Stand davon abgehalten. Wenn sie überhaupt eine Dame von Stand war. Abschätzend glitt sein Blick über das schwarze, altmodische Gefährt, über das anspruchslose Kutschpferd zurück zu der jungen Frau. Der graue, einfache Mantel und die karierte Decke, die sie gegen alle modischen Konventionen über die Schultern gebunden hatte, ließen sie eher wie eine Dienerin erscheinen. Auch die schmale, schmucklose Haube, die die roten Locken ungenügend im Zaum hielt, wollte nicht so recht in sein Bild von einer noblen Lady passen. Seine Eliza trug da ein viel eleganteres Ding auf dem Kopf, wenn sie sonntags in die Kirche gingen. Und doch: Wie die Dame da stand und ihn mit weit aufgerissenen Augen ungeniert musterte, da hatte er doch das Gefühl, dass es sich um eine Lady handelte. Er glitt ächzend aus dem Sattel und wischte sich mit einem großen braunen Taschentuch über das gerötete Gesicht. »Ich muss mich wohl vorstellen«, sagte er, und seine Stimme klang rau und ungeduldig. »Jack Biggar, Madam. Ich bin Bauer auf dem Gut von Lord Redbridge. Ich hoffe, der Kerl da hat Sie nicht belästigt.« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern richtete sich mit drohender Gebärde an den Burschen, der still das Geschehen verfolgte. »Und du kommst mit mir, du Mistkerl. Und wenn ich dich an meinen Gaul anbinden muss. Dir verdresch ich heut noch anständig den Buckel, das schwör ich dir, du elendiglicher Hurensohn. Dir mach ich noch Beine.«

»Was hat er denn angestellt?«, erkundigte sich Mary Ann, die ihre Neugierde nicht unterdrücken konnte. Voller Abscheu beobachtete sie, wie der Bauer sich in seinen Zorn hineinsteigerte. Die dicken Wangen seines feisten Gesichts wurden immer röter und röter. Zornadern traten an Hals und Stirn hervor. »Faul ist er, und abgehaun ist er, Miss. Und Millie, die Küchendirne, hat er verführt, der Saukerl. ’tschuldigen schon, Madam, aber wo Sie mich so fragen …«

»Das habe ich nicht«, entgegnete der Bursche kühl und blickte mit undurchdringlicher Miene seinem Dienstherrn entgegen.

Donnerwetter, der Kerl hat Mut, dachte Mary Ann anerkennend.

Den Bauern konnte er damit nur kurz beeindrucken. »Hast du wohl. Millie hat’s mir selbst erzählt. Doch was du mit der Dirne machst, ist mir im Grunde völlig egal!« Er ergriff des Burschen Handgelenk. »Aber mit mir kommst du zurück. Du wirst schuften, bis dir das Kreuz bricht. Und du wirst mir jeden Cent abarbeiten, den du mir schuldest, das schwör ich dir.«

Mary Anns Blick ruhte nachdenklich auf dem Burschen: Er war groß und kräftig, er hatte klare, offene Gesichtszüge und freundliche Augen. Seine Hände waren an Arbeit gewöhnt, und er konnte mit Pferden umgehen. Sicher würde er auch wissen, wie man ein Fahrzeug kutschiert. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte sie: »Wie viel schuldet Ihnen der Mann, Mr. Biggar?«

»Acht Pfund und zwanzig Cent«, antwortete der Bauer wie aus der Pistole geschossen. »Er war nämlich schuld, dass mir der Stall abgebrannt ist, müssen Sie wissen. Nur seiner Blödheit ist’s zu verdanken, und da ist’s ja wohl nur recht und billig, dass ich das Geld von ihm zurückverlang, nicht wahr, Miss?«

Mary Ann überlegte: »Und wenn er den Betrag zurückgezahlt hat, dann kann er gehen? Dann geben Sie ihn frei?«, wollte sie wissen. Der Bauer nickte und schob sich überlegend den Hut in den Nacken. Was konnte diese seltsame Lady mit der Frage bezwecken? Und überhaupt: Er hatte es eilig. Er musste auf seinen Hof zurückkehren und nicht unnötig Zeit damit vertrödeln, mit einer unbekannten Miss zu plaudern. »Wenn er gezahlt hat, dann kann er sich zum Teufel scheren«, sagte er unwirsch und wollte sich zum Gehen wenden.

»Einen Moment«, rief ihm Mary Ann energisch nach. Der Bauer verhielt umgehend im Schritt. Er drehte sich um und wollte seinen Augen nicht trauen: Die unbekannte Lady hatte doch wirklich ihr Retikül geöffnet und hielt ihm nun zwei Geldscheine entgegen. »Hier haben Sie zehn Pfund, das ist mehr, als der Bursche Ihnen schuldig ist.« Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. »Na, nehmen Sie es schon. Sie haben einen guten Handel gemacht und können beruhigt nach Hause reiten. Der Bursche bleibt bei mir«, setzte sie hinzu, als der Bauer keine Anstalten machte, dessen Handgelenk loszulassen. »Ich habe ihn abgekauft. Ich denke, das haben Sie verstanden.«

Der Bauer schnaufte unwillig. Mit schnellem Griff schnappte er nach den Geldscheinen, bevor die fremde Lady es sich noch einmal überlegen konnte. Rasch stopfte er das Geld in die ausgebeulten Taschen seiner kurzen Jacke. »Hoffentlich bereuen Sie es nicht«, sagte er zum Abschied nicht gerade aufmunternd. Dann ging er zu seinem alten Klepper und erklomm mit einiger Mühe den Sattel. »Er wird Ihnen Ihre Großzügigkeit schlecht danken«, rief er, während er das Pferd wendete. »Passen Sie gut auf Ihre Sachen auf, Madam. Er stiehlt alles, was nicht niet- und nagelfest ist.« Darauf lachte er schadenfroh auf und machte sich auf den Heimweg.

Mary Ann wandte sich, nun doch etwas unsicher geworden, an den Burschen, der noch immer schweigend neben dem Kutschbock stand.

»Werden Sie das tun?«, fragte sie und blickte zu ihm auf. Was sie sah, schien ihr vertrauenerweckend zu sein. Obwohl man vom Gesicht des jungen Mannes nicht viel erkennen konnte. Dichte Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen. Die blonden Haare hingen ihm bis zur Schulter, sie waren fettig und verfilzt. Nun trat ein Lächeln auf seine Lippen, die durchdringenden blauen Augen blieben jedoch ernst.

»Ich weiß, ich müsste jetzt sagen, Sie hätten mich dem alten Biggar nicht abkaufen dürfen«, antwortete er zu ihrem Erstaunen. Seine Aussprache verriet, dass er aus der Gegend von York stammen musste. Sein Dialekt war unverkennbar. »Zehn Pfund, das ist ein ganzer Batzen Geld. Sicherlich viel mehr, als ihm zusteht, dem Halsabschneider. Und dennoch: Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie das für mich getan haben. Sie werden’s nicht bereuen, Miss, das verspreche ich.«

»Das hoffe ich, das hoffe ich wirklich«, entgegnete Mary Ann und betrachtete nachdenklich seine schäbige Kleidung. Seine Hose war mit Lehm beschmiert und an manchen Stellen aufgerissen. Die Schuhe waren derb, völlig verschmutzt, und beim linken Schuh löste sich die Sohle bereits vom Leder. Das karierte Hemd war notdürftig geflickt, ebenso die braune Wolljacke. Und das sollte Kittys neuer Pferdeknecht sein! So konnte er sich unmöglich weder vor ihrer Freundin noch vor Mrs. Clifford sehen lassen. Nun war es jedoch zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie richtig gehandelt hatte. Nein, nun musste sie sich etwas einfallen lassen: Wie konnte sie es anstellen, dass dieser junge Mann wie ein ehrenwerter Stallbursche aussah? Mary Ann seufzte und blickte auf ihre Uhr: Es war bereits mehr als eine Stunde vergangen. Harris konnte jeden Augenblick zurückkommen. Er durfte den Burschen in diesem Aufzug keinesfalls zu Gesicht bekommen.

»Wie heißen Sie?«, erkundigte sie sich.

»Al Brown, Madam, tief in Ihrer Schuld.«

Mary Ann überlegte: »Also passen Sie auf, Al. Hören Sie mir bitte gut zu. Ich habe folgende Anweisungen.« Ihre Wangen waren vor Aufregung zart gerötet, die grünen Augen strahlten. Nun war es ihr also doch noch gelungen, einen Pferdeknecht einzustellen, ohne Lady Farnerby bemühen zu müssen. Kitty würde Augen machen! Sie genoss es zunehmend, ihren wagemutigen Plan in die Tat umzusetzen. Al blickte interessiert zu ihr hinab. Wer sie wohl sein mochte? Zuerst hatte er sie für eine Dienerin gehalten, doch dann war auch ihm ihre selbstsichere, vornehme Art nicht entgangen. Gut bemittelt konnte sie nicht sein. Das zeigte das klapprige Fahrzeug, und das zeigte die schmucklose Kleidung. Nun, sie würde sich ihm bald vorstellen, und es ging nicht an, dass er sie nach ihren Namen fragte.

»Ich gebe Ihnen hier ein wenig Geld«, hörte er sie zu seiner großen Überraschung sagen. »Sie werden sich umgehend auf den Weg nach Bath machen. Es ist nicht allzu weit. Das werden Sie doch sicher zu Fuß schaffen, nicht wahr?« Al nickte fassungslos. Wie kam dieses Mädchen dazu, ihm, einem Wildfremden, Geld zu geben? War sie wirklich so vertrauensselig? Und sie, würde sie hier in dieser einsamen Straße in der Zwischenzeit auf ihn warten? Wie kam es überhaupt, dass er sie hier angetroffen hatte? Das war doch ganz bestimmt nicht der richtige Ort, wo sich vornehme Damen alleine aufzuhalten pflegten. Was für ein seltsamer Tag.

»Besorgen Sie sich zwei Garnituren Kleidung und auch einen Kutschiermantel. Sie können doch kutschieren?«, vergewisserte sie sich. Al nickte stumm und wartete gespannt, dass sie weitersprach. »Wir werden Sie als Pferdeknecht und Kutscher einstellen«, erklärte ihm Mary Ann. »Das heißt, eigentlich nicht wir, sondern meine Freundin wird dies tun. Miss Charlotta Stapenhill. Miss Charlotta Stapenhill. Können Sie sich diesen Namen merken?«

Die Augen des Burschen weiteten sich unmerklich. Er sagte jedoch nichts, sondern nickte abermals.

»Gut«, meinte Mary Ann befriedigt. »Sie kaufen anständige Kleidung und lassen sich am besten von einem Barbier rasieren und die Haare schneiden. Das Geld sollte dafür auch noch reichen.«

Al betrachtete die Banknoten in seiner Hand und nickte wieder.

»Wenn Sie fertig sind, gehen Sie aufs Postamt und warten dort auf mich«, fuhr Mary Ann fort.

»Aufs Postamt?«, erkundigte sich Al verwundert.

»Ja, aufs Postamt.« Mary Ann nickte. »Sie müssen vorgeben, dass Sie soeben mit der Postkutsche aus London angekommen sind.«

»Aus London?«, wiederholte Al überrascht.

»Richtig. Sie werden mich ansprechen und nach dem Weg zum Internat für höhere Töchter von Mrs. Clifford fragen. Haben Sie das verstanden?«

»Ja, freilich, Miss. Ich werde Sie ansprechen und nach dem Institut von Mrs. Clifford fragen«, wiederholte der Bursche.

»Sehr gut. Dort werde ich Sie dann mit Miss Stapenhill bekannt machen. Wenn man Sie fragt, und ich bin sicher, Mrs. Clifford wird Sie fragen, dann antworten Sie, dass Lady Farnerby Sie in den Dienst genommen und hierher geschickt hat. Sie sollen sich um die Pferde und den Wagen ihrer Nichte kümmern.«

»Lady Farnerby?«, rief Al aus.

»Sie kennen Mylady?«, fragte Mary Ann erstaunt.

Al schüttelte den Kopf. »Nein, woher denn auch? Also, Lady Farnerby sagten Sie. Ich werd’s mir merken.«

»Dann machen Sie sich auf den Weg, Al Brown. Und vergessen Sie nicht, Punkt vier Uhr müssen Sie beim Postamt sein. Und sagen Sie niemandem, dass wir uns hier getroffen haben. Ich verlasse mich auf Sie.«

»Natürlich sage ich das keinem, Madam. Ich werde tun, was Sie mich geheißen haben.« Er hob grüßend die Hand zur Mütze und machte sich rasch auf den Weg in die Stadt. Sein Gang war nun nicht mehr so gehetzt wie vorher, obwohl er zügig voranschritt. Und Mary Ann war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht ein Lied pfeifen hörte. Sie sah ihm nach, bis er kurz darauf in einen Fußweg einbog, auf dem man allem Anschein nach die Stadt rascher erreichen konnte. Keinen Augenblick zu früh. Denn in diesem Moment wurde die kleine Gestalt des Kutschers hoch zu Ross sichtbar. Neben ihm ritt eine massige, hochgewachsene Person, bei der es sich nur um den Schmied handeln konnte.

Der Besuch bei der Schneiderin gestaltete sich kürzer und bei Weitem weniger angenehm, als Mary Ann sich das vorgestellt hatte. Eine mürrische ältere Angestellte nahm den Umhang von Mrs. Clifford entgegen und erklärte schroff, dass es sich bei dem alten Mantel gar nicht mehr lohne, neue Knöpfe anzunähen. Sie riet Mary Ann, das Kleidungsstück zu zerschneiden und zum Polieren von mit Wachs eingelassenen Holztischen zu verwenden. Als Mary Ann auf ihrem Auftrag bestand, schnappte die Bedienstete den Umhang und warf ihn achtlos über einen bereits überfüllten Kleiderständer. Das Benehmen der Angestellten änderte sich erst, als Mary Ann es für angebracht hielt, Kittys Namen zu erwähnen und nach Mrs. Millcock persönlich zu fragen. Kitty war eine Stammkundin dieses Salons, bereit, für gewagte Kreationen, die nach den Entwürfen des Lady’s Journal geschneidert wurden, außerordentliche Preise zu bezahlen. Mrs. Millcock ließ nicht lange auf sich warten. Mit ausgestreckten Armen kam sie aus einem der hinteren Zimmer und begrüßte Mary Ann überschwänglich: »Meine liebe Miss Rivingston, welche Freude, Sie hier zu sehen. Ist Miss Stapenhill mit Ihnen gekommen?« Sie versank in einen kleinen Knicks.

»Nein«, erwiderte Mary Ann nach der Begrüßung. »Diesmal bin ich es, die Ihrer Hilfe bedarf. Ich möchte mir ein Ballkleid schneidern lassen. Kitty, ich meine Miss Stapenhill, riet mir zu dem mit Gold durchwirkten Stoff, den sie ihr letztens gezeigt haben. Sie meinte, ein Oberteil mit Perlenstickerei müsste mir gut stehen. Und dann ist da noch ein Problem, Miss Millcock. Ich würde das Kleid bereits am Samstag benötigen.«

Die Schneiderin hatte bei Mary Anns Worten skeptisch die Brauen gerunzelt. »Die Zeit soll kein Problem sein«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung und bat Mary Ann, ihr zu folgen. »Da sie eine Freundin der lieben Miss Stapenhill sind, meine Liebe, sind wir selbstverständlich bereit, Überstunden zu machen. Wie viel, sagten Sie, wollten Sie für die Toilette ausgeben?« Mary Ann schüttelte ihre gesamte Barschaft auf den kleinen achteckigen Mahagonitisch. Mit geschickten Fingern zählte Mrs. Millcock die Scheine. »Das ist nicht allzu viel«, meinte sie schließlich und wiegte überlegend ihren Kopf, auf dem die grauen Haare zu Zöpfen geflochten wie eine Krone aufgesteckt waren. »Allein der Stoff mit den Goldfäden kostet mehr, als Sie zur Verfügung haben. Das soll uns aber nicht weiter stören, Miss Rivingston«, fügte sie hinzu, als sie Mary Anns enttäuschte Miene bemerkte. »Ich denke nicht, dass Smaragdgrün die richtige Farbe für Sie wäre. Es scheint mir eine viel zu auffallende Couleur zu sein. Zu Ihren roten Haaren geradezu vulgär. Nein, ich habe hier einen Ballen schwerer Seide in einem dunklen Mitternachtsblau.« Sie wandte sich ab und zog aus einem Berg von Stoffen einen schlichten, fast schwarzen Ballen hervor. Sie wickelte einige Meter Stoff ab und breitete ihn vor Mary Ann aus. »Na, was sagen Sie dazu, meine Liebe? Das gibt eine elegante Robe ab, die Ihre Vorzüge optimal zur Geltung bringt.«

Mary Ann war so enttäuscht, dass sie kaum ein Wort hervorbrachte. Auch die Modellzeichnungen, die die Schneiderin nun vor ihr ausbreitete, trugen nicht dazu bei, sie in bessere Laune zu versetzen. »Ich halte es nicht für klug, Ihren, nun, sagen wir, wohlgeratenen Busen noch durch eine Perlenstickerei zu betonen. Nein, im Gegenteil: Sehen Sie nur, Miss Rivingston. Die Taille rutscht tiefer.« Sie deutete mit spitzem Finger auf eine vor ihr liegende Zeichnung. »Was ich sagen will, ist, dass die Mode nicht mehr eine unter den Busen geschobene Taille zwingend vorschreibt. Es scheint, als würde sich in den nächsten Jahren die Taille wieder ihrer natürlichen Höhe anpassen. Dies wollen wir vorwegnehmen. Ich stelle mir vor, dass ein enges Leibchen mit gekreuzten Bändern hübsch aussehen müsste. Ich werde Ihnen ein Band in derselben Farbe für Ihre Haare mitgeben. Na, was sagen Sie dazu? Ist dies nicht schlicht und elegant?« Sie blickte Mary Ann so erwartungsvoll entgegen, dass diese sich um ein Lächeln bemühte. Und doch war ihr eher zum Weinen zumute. Das sollte das Traumkleid werden, in dem sie Reverend Westbourne bezaubern sollte? Dieses einfache Kleid, ohne Stickerei, ohne Rüschen als Aufputz? Das war ja nicht viel besser als ihre verhassten grauen Schulkleider. Da konnte sie ja gleich in dem alten weinroten Abendkleid den Ball besuchen.

Für Mrs. Millcock war die Enttäuschung ihrer Kundin nur zu offensichtlich. Beruhigend tätschelte sie ihr die Hand: »Warten Sie nur ab, Miss Rivingston. Lassen Sie mich nur machen. Ich verstehe mein Handwerk, glauben Sie mir. Sie werden hinreißend aussehen.«

Die Maße waren rasch notiert, und zehn Minuten vor vier Uhr trat Mary Ann aus dem Salon auf die Straße hinaus. Harris wartete bereits ungeduldig. Er hatte das Rad, das der Schmied auf der Landstraße provisorisch repariert hatte, in der Werkstätte ordentlich herrichten lassen. Nun stand nicht mehr zu befürchten, dass ihnen auf dem Heimweg, bei einbrechender Dunkelheit, dasselbe Missgeschick noch einmal passieren würde. Der alte Mann stieg vom Kutschbock und öffnete den Schlag. »Nun aber rasch, Miss Mary Ann. Zum Glück sind es nur wenige Meter bis zum Postamt. Ich hoffe, Sie können dort Ihre Angelegenheit schnell erledigen. Es ist schon verflixt dunkel geworden. Zeit, dass wir nach Hause kommen.«

Vor der Poststation stand die große, weit ausladende Postkutsche aus Bristol. Die letzten Fahrgäste stiegen aus dem Wageninneren. Schwere Koffer und Hutschachteln wurden unter lautem Geschrei und Rufen vom Dach geladen. Das passt ja großartig, dachte Mary Ann im Stillen. Jetzt konnte Al Brown behaupten, er sei soeben mit der Postkutsche angekommen, ohne einen Verdacht zu erregen. Durch die niedrige Tür betrat sie den Innenraum des Hauses, dicht gefolgt von Harris. Keinesfalls wollte er das Mädchen in dieser Ansammlung fremder Menschen der niedrigsten Stände alleine lassen. Mary Ann sah sich um: Wo war Al Brown? Sie konnte ihn nirgends entdecken.

»Sehen Sie nur, Miss Mary Ann.« Der Diener deutete auf einen der beiden Postschalter. »Dort hinten können Sie Ihren Brief aufgeben. Es steht zwar eine größere Menschenmenge vor dem Schalter, aber es scheint, als würde sie rasch abgefertigt. Dort drüben, Miss, sehen Sie?«

Natürlich sah Mary Ann die Schlange vor dem Schalter. Allein, sie hatte keine Lust, sich anzustellen. Wo war Al? Die große Uhr an der Stirnseite des Raumes zeigte fünf Minuten vor vier. Der Bursche müsste längst da sein. Halbherzig reihte sie sich in die Reihe der Wartenden ein. Immer und immer wieder glitt ihr Blick über die anwesenden Personen.

»Die Postkutsche nach Wells und Glastonbury ist einsteigebereit!«, rief ein kleiner Mann mit schwarzer Uniform von der Eingangstüre her. »Kaufen Sie sich rasch Ihre Fahrkarten. Wir fahren in zehn Minuten. Diese Auskunft gilt für die Postkutsche nach Wells und Glastonbury!«

Die Menschenschlange vor ihr wurde immer kürzer. Mary Ann blickte verzweifelt durch den großen Raum. Wo blieb der Bursche bloß? Und dann war sie an der Reihe. Schweren Herzens gab sie Mrs. Cliffords Brief an Lady Farnerby in die Hände des Schalterbeamten. Nun würden sie also doch noch einen Pferdeknecht aus Myladys Stall bekommen. Sie hatte sich das alles so schön ausgedacht. Sie hatte sich schon so auf Kittys Gesicht gefreut, wenn sie ihr mitteilen konnte, dass sie selbst einen Pferdeknecht gefunden hatte. Mit bedrückter Miene folgte sie Harris zur Kutsche. Was für ein misslungener Nachmittag: Zuerst der Unfall mit der Kutsche, das Kleid, das so gar nicht ihren Träumen entsprach, und dann hatte sie auch noch einen großen Teil des Geldes für einen treulosen Pferdeknecht ausgegeben – Kittys Geld.

Traurig und mutlos blickte sie aus dem schmutzigen, grauen Fenster der Kutsche, während sich Harris vorsichtig den Weg durch die Menschenmenge bahnte. Mit einem letzten Funken Hoffnung erwartete sie, plötzlich Al Browns groß gewachsene Gestalt in der Menge zu entdecken. Vergeblich.

Schneegestöber

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