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1 Ausreißer-Jennie

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»Ich mag sie nich, mehr sag ich ja gar nich«, flüsterte die Kellnerin mit dem fliegenden Haar. Es war ein lautes Flüstern, gut zu verstehen für den einsamen Gast in Pleasant’s Coffee House. Er fragte sich, ob die diesmal zur Diskussion stehende »sie« eine weitere Kellnerin war oder ein Stammgast gleich ihm.

»Ich muss sie doch nich mögen, oder? Siehst du das anders? Tu dir keinen Zwang an.«

»Ich fand sie eigentlich ganz nett«, sagte die kleinere Kellnerin mit dem runden Gesicht und klang nicht mehr so sicher wie noch kurz zuvor.

»So ist die, wenn sie grad einen Dämpfer gekriegt hat. Kaum hat sie Oberwasser, fängt sie wieder an, Gift zu verspritzen. Das ist verkehrt rum. Hab schon jede Menge von der Sorte gekannt gehabt – denen ist nich zu trauen.«

»Was soll das heißen, ›das ist verkehrt rum‹?«, fragte die rundgesichtige Kellnerin.

Hercule Poirot – um kurz nach halb acht an diesem Donnerstagabend im Februar der einzige Essensgast im Coffee House – wusste, was die Kellnerin mit dem fliegenden Haar meinte. Er lächelte in sich hinein. Es war nicht das erste Mal, dass sie eine scharfsinnige Beobachtung machte.

»Man kann jedem verzeihen, dem was rausrutscht, wenn er grad Ärger hat – ist mir selbst auch schon passiert, ich geb’s gern zu. Und wenn’s mir gut geht, da möcht ich, dass es den andern auch gut geht. So gehört sich das. Aber dann gibt’s die wie die, wo dich noch mieser behandeln, wenn für die alles nach Plan läuft. Das sind die, wo du dich in Acht nehmen musst.«

Bon, dachte Hercule Poirot. C’est là la vraie sagesse.

Die Tür des Coffee House flog auf und knallte gegen die Wand. Eine Frau in einem hellbraunen Mantel und einem mittelbraunen Hut stand in der Tür. Sie hatte blondes Haar. Ihr Gesicht konnte Poirot nicht sehen. Es war abgewandt, als blickte sie über die Schulter nach jemandem, der nachkommen sollte.

Ein paar Sekunden bei offener Tür, und die kalte Abendluft hatte sämtliche Wärme aus dem kleinen Raum vertrieben. Normalerweise hätte dies Poirot in Rage versetzt, aber die Person, die einen so theatralischen Auftritt gehabt hatte und sich nicht darum zu kümmern schien, ob sie sich unbeliebt machte, hatte sein Interesse geweckt.

Er legte die Hand flach auf seine Kaffeetasse in der Hoffnung, wenigstens die Wärme seines Getränks zu retten. Dieses winzige windschiefe Etablissement in der St. Gregory’s Alley – in einem Teil von London, der ansonsten jede Menge Wünsche offenließ – servierte den besten Kaffee, den Poirot je irgendwo auf der Welt gekostet hatte. Normalerweise pflegte er nicht vor und nach dem Essen eine Tasse zu trinken – ja unter gewöhnlichen Umständen hätte ihn schon die bloße Vorstellung entsetzt –, aber jeden Donnerstagabend, wenn er Schlag halb acht das Pleasant’s betrat, machte er eine Ausnahme von dieser Regel. Mittlerweile betrachtete er diese wöchentliche Ausnahme als eine kleine Tradition.

Andere Coffee-House-Traditionen bereiteten ihm da schon weniger Vergnügen: Besteck, Serviette und Wasserglas auf seinem Tisch, wo er alles grundsätzlich schief und krumm vorfand, ordentlich ausrichten zu müssen. Die Kellnerinnen meinten offenbar, es genügte, wenn sich die Sachen irgendwo – gleichgültig, wo – auf dem Tisch befanden. Poirot war da anderer Ansicht und legte Wert darauf, gleich bei seiner Ankunft Ordnung zu schaffen.

»’tschuldigung, Miss, hätten Sie was dagegen, die Tür zuzumachen, wenn Sie reinkommen?«, rief Fliegendes Haar der Frau im braunen Hut und Mantel zu, die sich, noch immer zur Straße gewandt, mit einer Hand am Türpfosten festhielt. »Oder auch wenn Sie nicht reinkommen. Wir haben hier keine Lust, uns was abzufrieren.«

Die Frau betrat den Raum. Sie schloss die Tür, entschuldigte sich aber nicht dafür, sie so lange offen gelassen zu haben. Man hörte sie quer durch den Raum laut atmen. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass auch andere Leute da waren. Poirot grüßte sie mit einem leisen »Guten Abend«. Sie drehte sich halb in seine Richtung, sagte aber nichts. Ihre aufgerissenen Augen sprachen von ungewöhnlicher Angst – intensiv genug, um einen Unbeteiligten geradezu leibhaftig zu packen.

Poirot war nicht mehr so ruhig und zufrieden wie zuvor, als er das Lokal betreten hatte. Seine heitere Stimmung war dahin.

Die Frau hastete ans Fenster und spähte nach draußen. Wonach sie auch Ausschau hält, sie wird es nicht sehen, dachte Poirot bei sich. Wenn man aus einem hell erleuchteten Zimmer in die Schwärze der Nacht starrt, ist es unmöglich, viel mehr als das in der Scheibe gespiegelte Bild des Zimmers zu erkennen. Dennoch starrte sie noch eine geraume Weile weiter nach draußen, offenbar entschlossen, die Straße im Blick zu behalten.

»Ach, Sie sind’s«, sagte Fliegendes Haar mit einem Anflug von Ungeduld. »Was gibt’s? Ist irgendwas passiert?«

Die Frau im braunen Hut und Mantel drehte sich um. »Nein, ich … « Die Worte kamen als ein Schluchzen heraus. Dann schaffte sie es, sich zusammenzureißen. »Nein. Darf ich den Tisch in der Ecke nehmen?« Sie zeigte auf den, der am weitesten von der Tür zur Straße entfernt war.

»Sie haben die freie Auswahl, abgesehen vom Tisch, an dem der Herr sitzt. Sind alle eingedeckt.« Mit diesen Worten erinnerte sie sich an ihn, und Fliegendes Haar sagte zu Poirot: »Ihr Abendessen brutzelt brav vor sich hin, Sir.« Poirot hörte das gern. Das Essen war im Pleasant’s fast ebenso gut wie der Kaffee. Ja wenn er beides zusammen nahm, konnte Poirot kaum glauben, was er doch mit Sicherheit wusste: dass alle, die hier in der Küche arbeiteten, Engländer waren. Incroyable.

Fliegendes Haar wandte sich wieder zu der verängstigten Frau. »Ist auch bestimmt alles in Ordnung, Jennie? Sie sehen so aus, als hätten Sie den Leibhaftigen gesehen.«

»Mir geht es gut, danke. Eine Tasse starker, heißer Tee ist alles, was mir fehlt. Wie immer, bitte.« Jennie hastete zu einem Tisch in der hinteren Ecke, ohne Poirot, als sie an ihm vorbeikam, eines Blickes zu würdigen. Poirot drehte seinen Stuhl leicht herum, sodass er sie beobachten konnte. Es bestand überhaupt kein Zweifel, dass sie etwas auf dem Herzen hatte; offensichtlich war es etwas, das sie mit den Coffee-House-Kellnerinnen nicht besprechen wollte.

Ohne Hut oder Mantel abzulegen, setzte sie sich auf einen Stuhl, der von der Eingangstür abgewandt war, doch kaum hatte sie das getan, drehte sie sich wieder um und sah über die Schulter zurück. Als er jetzt Gelegenheit hatte, ihr Gesicht mit mehr Muße zu betrachten, schätzte Poirot sie auf etwa vierzig. Ihre großen blauen Augen waren aufgerissen und starr. Sie sahen so aus, überlegte Poirot, als böte sich ihnen ein entsetzlicher Anblick – als »sähen sie den Leibhaftigen«, wie Fliegendes Haar bemerkt hatte. Doch soweit Poirot feststellen konnte, war da nichts, was Jennie einen solchen Anblick hätte bieten können – lediglich der quadratische Raum mit seinen Tischen, Stühlen, seinem hölzernen Garderobenständer in der Ecke und seinen krummen Regalen mit ihrer Fracht von Teekannen in vielen verschiedenen Farben, Größen und Dekors.

Diese Regale ließen einen wahrhaft schaudern! Poirot sah keinen Grund, weshalb ein verzogenes Regal nicht einfach durch ein gerades ersetzt werden konnte, ebenso wie er nicht nachvollziehen konnte, warum jemand eine Gabel auf einen rechteckigen Tisch legte und sich nicht vergewisserte, dass sie parallel zur Tischkante lag. Indes hatte nicht jeder dieselben Vorstellungen wie Hercule Poirot; er hatte sich mit dieser Tatsache längst abgefunden – mit den Vorteilen ebenso wie mit den Nachteilen, die sie mit sich brachte.

Auf ihrem Stuhl verrenkt, starrte die Frau – Jennie – mit einem wilden Gesichtsausdruck auf die Tür, als erwartete sie, dass jeden Augenblick jemand hereinstürmen würde. Sie zitterte, zum Teil vielleicht vor Kälte.

Nein – Poirot änderte seine Meinung –, vor Kälte ganz und gar nicht. Im Coffee House war es schon wieder warm. Und da es Jennie so wichtig war, die Tür zu beobachten, und sie sich dennoch von ihr abgewandt und sich möglichst weit weg gesetzt hatte, blieb nur ein einziger logischer Schluss.

Poirot nahm seine Tasse Kaffee in die Hand, stand auf und begab sich an den Tisch, an dem sie saß. Er bemerkte, dass sie keinen Ehering trug. »Würden Sie gestatten, dass ich mich kurz zu Ihnen setze, Mademoiselle?« Am liebsten hätte er ihr Besteck, ihre Serviette und ihr Wasserglas so ordentlich positioniert, wie er es mit seinen getan hatte, aber er widerstand dem Impuls.

»Wie bitte? Ja, von mir aus.« Ihr Ton verriet, wie gleichgültig es ihr war. Nur eins interessierte sie: die Eingangstür. Sie starrte sie noch immer eifrig an, noch immer auf ihrem Stuhl verdreht.

»Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist … äh … « Poirot verstummte. Wenn er ihr seinen Namen nannte, würden Fliegendes Haar und die andere Kellnerin ihn hören, und er würde aufhören, ihr anonymer »ausländischer Herr« zu sein, der pensionierte Polizist vom Kontinent. Der Name Hercule Poirot übte auf manche Menschen eine starke Wirkung aus. Während der letzten paar Wochen, seit er in einen höchst erquicklichen Zustand der Winterstarre getreten war, hatte Poirot zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder den unbeschwerten Zustand genossen, niemand Besonderes zu sein.

Es hätte schwerlich offensichtlicher sein können, dass Jennie sich weder für seinen Namen noch für seine Anwesenheit interessierte. Eine Träne war ihrem Augenwinkel entschlüpft und rann ihr jetzt über die Wange.

»Mademoiselle Jennie«, sagte Poirot in der Hoffnung, es durch Verwendung ihres Vornamens eher zu schaffen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich war früher Polizist. Jetzt bin ich im Ruhestand, aber vor meiner Pensionierung bin ich im Zuge meiner Arbeit vielen Menschen begegnet, die sich in ähnlichen Erregungszuständen wie dem Ihrigen befanden. Ich meine damit nicht die unglücklichen Menschen, wenngleich diese in jedem Land im Überfluss vorhanden sind. Nein, ich spreche von Menschen, die glaubten, sich in Gefahr zu befinden.«

Endlich drang er zu ihr durch. Jennie heftete ihre aufgerissenen, angsterfüllten Augen auf ihn. »Ein … ein Polizist?«

»Oui. Ich schied vor vielen Jahren aus dem Dienst aus, aber …«

»In London können Sie also nichts tun? Sie können … ich meine, Sie haben keine Vollmacht hier? Verbrecher festzunehmen oder sonst was in der Art?«

»Das ist korrekt.« Poirot lächelte sie an. »In London bin ich ein älterer Herr, der seinen Ruhestand genießt.«

Sie hatte seit fast zehn Sekunden nicht mehr nach der Tür gesehen.

»Habe ich recht, Mademoiselle? Glauben Sie, in Gefahr zu sein? Sehen Sie sich deswegen fortwährend um, weil Sie den Verdacht haben, die Person, vor der Sie sich fürchten, sei Ihnen bis hierher gefolgt und könne jeden Augenblick hereinkommen?«

»Oh, und ob ich in Gefahr bin!« Sie schien mehr sagen zu wollen. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch noch irgendeine Art Polizist sind?«

»Nichts in der Art«, versicherte ihr Poirot. Weil sie aber nicht glauben sollte, er hätte überhaupt keinen Einfluss, fügte er hinzu: »Ich habe allerdings einen Freund, der Ermittler bei Scotland Yard ist, falls Sie die Hilfe der Polizei benötigen sollten. Er ist sehr jung – nicht viel älter als dreißig –, aber er wird es bei der Polizei, glaube ich, weit bringen. Er wäre glücklich, da bin ich mir sicher, sich mit Ihnen zu unterhalten. Was mich betrifft, so kann ich Ihnen …« Poirot verstummte, als die rundgesichtige Kellnerin mit einer Tasse Tee nahte.

Nachdem sie diese vor Jennie hingestellt hatte, verschwand sie in der Küche. Fliegendes Haar hatte sich bereits dorthin zurückgezogen. Da er wusste, wie gern sie sich über das Verhalten ihrer Stammgäste ausließ, vermutete Poirot, dass sie in dem Moment versuchte, eine lebhafte Diskussion über den Ausländischen Herrn und seinen unerwarteten Besuch an Jennies Tisch in Gang zu bringen. Mit anderen Gästen im Pleasant’s sprach Poirot normalerweise nicht mehr als unbedingt nötig. Außer wenn er zusammen mit seinem Freund Edward Catchpool – dem Scotland-Yard-Beamten, in dessen Pension er vorübergehend wohnte – hier zu Abend aß, beschränkte er sich, ganz im Geiste der hibernation, auf seine eigene Gesellschaft.

Der Klatsch der Coffee-House-Kellnerinnen tangierte Poirot nicht; er war für ihre Abwesenheit dankbar. Er hoffte, dadurch würde Jennie vielleicht eher bereit sein, offen mit ihm zu sprechen. »Es würde mich freuen, Ihnen meinen Rat anbieten zu dürfen, Mademoiselle«, sagte er.

»Sie sind sehr freundlich, aber mir kann keiner helfen.« Jennie wischte sich die Augen. »Ich wünschte, jemand würde mir helfen – ich wünsche es mir mehr als alles andere! Aber es ist zu spät. Ich bin schon tot, verstehen Sie, oder werde es bald sein. Ich kann mich nicht ewig verstecken.«

Schon tot … Ihre Worte hatten eine neue Art von Kälte in den Raum getragen.

»Also ist mir nicht zu helfen«, fuhr sie fort, »und selbst wenn, würde ich die Hilfe nicht verdienen. Aber … jetzt, wo Sie an meinem Tisch sitzen, fühle ich mich schon ein bisschen besser.« Sie hatte die Arme um sich geschlagen, entweder um sich Mut zu machen oder in dem vergeblichen Versuch, ihr Zittern zu bändigen. Sie hatte ihren Tee nicht angerührt. »Bitte bleiben Sie. Solange ich mit Ihnen spreche, wird nichts passieren. Das ist wenigstens ein kleiner Trost.«

»Mademoiselle, das ist äußerst besorgniserregend. Noch sind Sie am Leben, und wir müssen alles Erforderliche tun, damit es dabei bleibt. Bitte erzählen Sie …«

»Nein!« Ihre Augen weiteten sich, und sie schreckte vor ihm zurück. »Nein, das dürfen Sie nicht! Nichts darf unternommen werden, um das aufzuhalten. Es ist nicht aufzuhalten, das ist unmöglich. Unausweichlich. Bin ich erst einmal tot, wird endlich dem Recht Genüge getan sein.« Wieder sah sie über die Schulter nach der Tür.

Poirot runzelte die Stirn. Jennie fühlte sich vielleicht ein bisschen besser, seit er an ihrem Tisch saß, aber er selbst fühlte sich ganz entschieden schlechter. »Verstehe ich Sie richtig? Wollen Sie damit sagen, dass jemand Sie verfolgt, der Sie ermorden will?«

Jennie heftete ihre tränenerfüllten blauen Augen auf ihn. »Zählt es als Mord, wenn ich mich füge und es geschehen lasse? Ich bin es so leid, wegzulaufen, mich zu verstecken, ständig so grauenvolle Angst zu haben! Wenn es schon geschehen soll, dann möchte ich es schnell hinter mir haben, und es wird geschehen, weil es geschehen muss! Es ist die einzige Möglichkeit, die Sache wieder ins rechte Lot zu bringen. Es ist das, was ich verdiene.«

»Das kann nicht sein«, sagte Poirot. »Ohne die näheren Umstände Ihrer Situation zu kennen, widerspreche ich Ihnen. Mord kann niemals recht sein. Mein Freund, der Polizist – Sie müssen ihm erlauben, Ihnen zu helfen.«

»Nein! Sie dürfen ihm kein Wort davon sagen, und auch niemandem sonst! Versprechen Sie mir, dass Sie das nicht tun werden!«

Hercule Poirot hatte nicht die Angewohnheit, Dinge zu versprechen, die er nicht halten konnte.

»Was könnten Sie getan haben, das nur durch einen Mord geahndet werden kann? Haben Sie selbst jemand ermordet?«

»Und wenn’s so wäre, wäre es auch nicht schlimmer! Mord ist schließlich nicht das einzig Unverzeihliche. Ich nehme nicht an, dass Sie je etwas wirklich Unverzeihliches getan haben – oder?«

»Sie hingegen schon? Und Sie glauben, Sie müssten mit Ihrem Leben dafür bezahlen? Non. Das ist nicht richtig. Wenn ich Sie überreden könnte, mich zu meiner Pension zu begleiten – sie liegt ganz in der Nähe. Mein Freund von Scotland Yard, Mr Catchpool …«

»Nein!« Jennie sprang von ihrem Stuhl auf.

»Bitte setzen Sie sich, Mademoiselle.«

»Nein. Ach, ich habe schon zu viel gesagt! Wie dumm ich bin! Ich habe es Ihnen nur erzählt, weil Sie so gütig aussehen, und ich dachte, Sie könnten ohnehin nichts unternehmen. Wenn Sie nicht gesagt hätten, dass Sie im Ruhestand sind und Ausländer, hätte ich nie ein Wort gesagt! Versprechen Sie mir eins: Wenn man mich tot auffindet, werden Sie Ihrem Freund dem Polizisten sagen, dass er nicht nach meinem Mörder suchen soll.« Sie kniff die Augen zu und faltete die Hände. »Ach bitte, niemand darf den Mund öffnen! Dieses Verbrechen darf niemals aufgeklärt werden. Versprechen Sie mir, dass Sie das Ihrem Freund von der Polizei sagen und ihn davon überzeugen? Wenn Ihnen Gerechtigkeit etwas bedeutet, dann tun Sie, worum ich Sie bitte!«

Sie stürmte zur Tür. Poirot stand auf, um ihr zu folgen, als er aber sah, welche Strecke sie in der Zeit zurückgelegt hatte, die er allein benötigte, um seine Beine unter dem Tisch hervorzuziehen, setzte er sich mit einem tiefen Seufzer wieder hin. Es hatte keinen Sinn. Jennie war entkommen, hinaus in die Nacht. Er würde sie nie einholen.

Die Küchentür öffnete sich, und Fliegendes Haar erschien mit Poirots Abendessen. Der Geruch ließ seinen Magen rebellieren; er hatte jeglichen Appetit verloren.

»Wo ist Jennie?«, fragte Fliegendes Haar, als wäre er dafür verantwortlich, dass sie verschwunden war. Und er fühlte sich tatsächlich verantwortlich. Wenn er schneller reagiert, wenn er seine Worte sorgfältiger gewählt hätte …

»Das ist ja wohl die Höhe!« Fliegendes Haar knallte Poirots Teller auf den Tisch und marschierte zur Küchentür zurück. Indem sie sie aufstieß, brüllte sie: »Diese Jennie hat sich verdrückt, ohne zu zahlen!«

»Aber wofür genau muss sie eigentlich zahlen?«, murmelte Hercule Poirot in sich hinein.

Eine Minute später, nach dem kurzen, erfolglosen Versuch, Interesse für sein Rippensteak mit Vermicelli-Soufflé aufzubringen, ging Poirot zur Küchentür und klopfte an. Fliegendes Haar machte nur einen Spaltbreit auf, sodass außer ihrer schlanken Gestalt in der Türöffnung nichts zu sehen war.

»Was nicht in Ordnung mit Ihrem Essen, Sir?«

»Gestatten Sie mir, für den Tee zu bezahlen, den Mademoiselle Jennie stehen gelassen hat«, bot Poirot an. »Wären Sie als Gegenleistung so freundlich, mir eine oder zwei Fragen zu beantworten?«

»Dann kennen Sie also Jennie? Ich hab Sie beide vorher nie zusammen gesehen.«

»Non. Ich kenne sie nicht. Deswegen frage ich Sie ja.«

»Warum haben Sie sich dann zu ihr gesetzt?«

»Sie hatte Angst und war in großer Not. Ich fand es beunruhigend, es mit anzusehen. Ich hoffte, ihr meinen bescheidenen Beistand anbieten zu können.«

»Solchen wie Jennie ist nich zu helfen«, sagte Fliegendes Haar. »Also schön, ich beantworte Ihre Fragen, aber zuerst hab ich eine: Wo genau waren Sie Polizist?«

Poirot versagte sich den Hinweis, dass sie ihm bereits drei Fragen gestellt hatte. Das war die vierte.

Sie musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Irgendwo, wo die französisch reden – aber nicht Frankreich, stimmt’s?«, sagte sie. »Ich hab gesehen, was für’n Gesicht Sie machen, wenn die anderen Mädchen ›der Franzose‹ sagen.«

Poirot lächelte. Vielleicht würde es nicht schaden, wenn sie seinen Namen wusste. »Ich bin Hercule Poirot, Mademoiselle. Aus Belgien. Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er reichte ihr die Hand.

Sie ergriff sie. »Fee Spring. Eigentlich Euphemia, aber alle nennen mich Fee. Wenn die meinen ganzen Namen sagen würden, kämen die gar nich mehr dazu, das zu sagen, was sie eigentlich sagen wollten, nich? Nich, dass es schade drum wäre …«

»Kennen Sie Mademoiselle Jennies vollständigen Namen?«

Fee nickte in Richtung von Poirots Tisch, wo von seinem vollen Teller noch immer Dampf aufstieg. »Essen Sie Ihr Essen. Ich bin in null Komma nix bei Ihnen.« Sie zog sich abrupt zurück und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Poirot ging wieder an seinen Tisch. Vielleicht sollte er Fee Springs Rat annehmen und einen zweiten Versuch mit seinem Steak wagen. Wie wohltuend war es, sich mit jemandem zu unterhalten, der auf Details achtete! Hercule Poirot begegnete solchen Menschen nicht oft.

Kurz darauf erschien Fee wieder, in der Hand eine Tasse. Sie trank schlürfend daraus, als sie sich Poirot gegenüber hinsetzte. Poirot schaffte es, bei dem Geräusch nicht zusammenzuzucken.

»Viel weiß ich von Jennie ja nun nich«, sagte sie. »Grad, was ich mir so zusammengereimt hab aus Sachen, die sie gelegentlich sagt. Sie arbeitet bei einer Lady mit einem großen Haus. Wohnt da. Deswegen ist sie regelmäßig hier, um Kaffee und Kuchen für ihre Ladyschaft abzuholen, für der ihre schicken Essen und Feten und so. Kommt ganz vom andern Ende der Stadt – hat sie mal gesagt. Viele von unseren Stammgästen kommen von ziemlich weit her. Jennie bleibt immer auf eine Tasse. ›Wie ümmer, bütte‹, sagt sie, wenn sie hier eintrudelt, wie wenn sie selbst ’ne Lady wär. Die Stimme ist für wenn sie vornehm tut, möcht ich wetten. Das ist nich die, mit der sie geboren ist. Vielleicht sagt sie deswegen nie viel, weil sie weiß, dass sie das Getue nicht lang durchhält.«

»Verzeihen Sie«, sagte Poirot, »aber woher wissen Sie, dass Mademoiselle Jennie nicht schon immer auf diese Weise gesprochen hat?«

»Schon mal ’n Dienstboten so geschniegelt reden gehört? Also ich nicht.«

»Oui, mais … Dann ist es also nur Spekulation?«

Fee Spring gab widerwillig zu, es nicht mit Sicherheit zu wissen. Solange sie sie kannte, hätte Jennie »wie ’ne richtige Lady« gesprochen.

»Aber eins muss ich Jennie lassen: Sie trinkt Tee, also ist sie zumindest nich ganz meschugge.«

»Trinkt Tee?«

»Genau.« Fee schnüffelte in Richtung von Poirots Kaffeetasse. »Wer Kaffee trinkt, wo er Tee trinken könnte, hat nich alle Tassen im Schrank, wenn Sie mich fragen.«

»Sie wissen nicht den Namen der Lady, bei der Jennie arbeitet, oder die Adresse des großen Hauses?«, fragte Poirot.

»Nö. Jennies Nachnamen auch nicht. Ich weiß, dass sie vor vielen, vielen Jahren ein furchtbares ›Herzeleid‹ hatte. Das hat sie mal gesagt.«

»Herzeleid? Sagte sie Ihnen auch, von welcher Art?«

»Gibt nur eine«, sagte Fee bestimmt. »Die Sorte, wo einem das Herz zerbricht.«

»Ich meine damit, dass ein gebrochenes Herz viele Ursachen haben kann: unerwiderte Liebe, den Verlust eines geliebten Menschen in tragisch jungen Jahren …«

»Ach, die Geschichte dazu hat’s nie gegeben«, sagte Fee mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Wird’s auch nie. Ein Wort, ›Herzeleid‹, zu mehr hat’s nicht gereicht. Sehen Sie, die Sache mit Jennie is, die redet nicht. Sie könnten ihr nich mehr helfen, wenn sie noch vor Ihnen sitzen würde, wie jetzt, wo sie Ihnen abgehauen is. Die is ganz in sich eingeschlossen, das is das Problem mit Jennie. Suhlt sich am liebsten da drin, was immer das nun grade sein mag.«

Ganz in sich eingeschlossen … Die Worte riefen eine Erinnerung in Poirot wach – an einen anderen Donnerstagabend im Pleasant’s, Wochen zuvor, und an Fee, die über einen Gast sprach.

Er sagte: »Sie stellt keine Fragen, n’est-ce pas? Sie ist nicht interessiert an geselligem Umgang oder Konversation? Ihr liegt nichts daran zu erfahren, was es Neues im Leben eines anderen gibt?«

»Haargenau!« Fee sah beeindruckt aus. »Die hat nich einen Funken Neugier in sich. Ich hab noch nie jemand getroffen, der so sehr nur mit seinem eigenen Kram beschäftigt ist wie die. Sieht einfach die Welt nich oder uns andere. Nie fragt sie einen, wie’s einem so geht oder was man so erlebt hat.« Fee legte den Kopf zur Seite. »Sie kapieren schnell, was?«

»Was ich weiß, weiß ich nur durch das Mithören Ihrer Gespräche mit den anderen Kellnerinnen, Mademoiselle.«

Fee wurde rot. »Wundert mich, dass Sie sich die Mühe machen mitzuhören.«

Poirot wünschte nicht, sie noch weiter in Verlegenheit zu bringen, also verriet er ihr nicht, dass er sich immer auf ihre Charakterisierungen der Leute freute, die er für sich kollektiv als »das Coffee-House-Personarium« bezeichnete – Mr Nicht Ganz beispielsweise, der jedes Mal, sobald er hereinkam, etwas zu essen bestellte, um dann sofort seine Bestellung zu widerrufen, weil er entschieden hätte, es wäre nicht ganz das, was er wollte.

Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um zu eruieren, ob Fee auch für Hercule Poirot einen Namen im Stil von Mr Nicht Ganz hatte, den sie in seiner Abwesenheit verwendete – vielleicht einen, der auf seinen vollendeten Schnurrbart Bezug nahm.

»Mademoiselle Jennie wünscht also nicht, von den Angelegenheiten anderer Leute zu erfahren«, sagte Poirot nachdenklich, »aber anders als viele, die sich nicht für das Leben und die Gedanken der Menschen in ihrer Umgebung interessieren und die immer nur unermüdlich über sich selbst reden, tut sie auch das nicht – ist es nicht so?«

Fee hob die Augenbrauen. »Hut ab vor Ihrem Gedächtnis. Stimmt wieder haargenau. Nein, Jennie ist keine, die über sich redet. Antwortet, wenn man sie fragt, aber kein Wort zu viel. Will nich zu lang von dem abgelenkt werden, was ihr durch den Kopf geht, was immer das nun ist. Ihr verborgener Schatz – nur macht sie das nich glücklich, wo sie drüber grübelt. Ich hab’s längst aufgegeben, aus der schlau werden zu wollen.«

»Sie grübelt über das Herzeleid«, murmelte Poirot. »Und die Gefahr.«

»Hat sie gesagt, sie wär in Gefahr?«

»Oui, Mademoiselle. Ich bedaure, nicht schnell genug gewesen zu sein, um sie zurückzuhalten. Sollte ihr etwas zustoßen …« Poirot schüttelte den Kopf und wünschte, er könnte die Gelassenheit wiederfinden, die ihn bei seiner Ankunft erfüllt hatte. Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und teilte ihr seinen Entschluss mit. »Ich werde demain matin wiederkommen. Sie sagen, sie ist häufig hier, n’est-ce pas? Ich werde sie finden, bevor die Gefahr mir zuvorkommt. Diesmal wird Hercule Poirot schneller sein!«

»Schnell oder langsam spielt keine Rolle«, sagte Fee. »Jennie findet keiner, und wenn sie direkt vor seiner Nase sitzen würde, und keiner kann ihr helfen.« Sie stand auf und nahm Poirots Teller. »Kein Grund, deswegen gutes Essen kalt werden zu lassen«, sagte sie abschließend.

Die Monogramm-Morde

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