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4 Der Rahmen wird weiter

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Bisweilen erinnert man sich an etwas, was jemand Monate oder sogar Jahre zuvor sagte und das einen noch immer zum Schmunzeln bringt, und für mich trifft das auf etwas zu, was Poirot irgendwann im weiteren Verlauf dieses Tages zu mir sagte: »Selbst dem scharfsinnigsten Detektiv fällt es schwer, eine Methode zu finden, sich von Signor Lazzari zu befreien. Lobt man sein Hotel nicht hinlänglich, weicht er einem nicht von der Seite, um eigene ergänzende Lobpreisungen beizusteuern; lobt man es in gebührender Ausführlichkeit, weicht er einem nicht von der Seite, um nichts zu verpassen.«

Poirots Bemühungen führten schließlich doch zum Erfolg, und er schaffte es zu guter Letzt, Lazzari dazu zu bewegen, ihn in Zimmer 238 allein zu lassen. Poirot ging zur Tür, die der Hoteldirektor offen gelassen hatte, schloss sie und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wie viel einfacher war es doch, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn einem niemand die Ohren voll plapperte!

Er ging geradewegs zum Fenster. Ein offenes Fenster, dachte er, während er nach draußen starrte. Der Mörder könnte es geöffnet haben, um zu fliehen, nachdem er Richard Negus getötet hatte. Er könnte an einem Baum hinuntergeklettert sein.

Warum sollte er diesen Fluchtweg wählen? Warum sollte er das Zimmer nicht einfach auf die übliche Weise verlassen, über den Korridor? Vielleicht hörte der Mörder draußen Stimmen und wollte nicht riskieren, gesehen zu werden. Ja, das war eine Möglichkeit. Andererseits, als er zur Rezeption spazierte, um die schriftliche Bekanntgabe seiner drei Morde zu hinterlassen, riskierte er durchaus, gesehen zu werden. Mehr noch – er riskierte sogar, dabei ertappt zu werden, wie er belastende Beweismittel zurückließ.

Poirot richtete den Blick auf die Leiche zu seinen Füßen. Kein Schimmer von Metall zwischen den Lippen. Als einzigem von den drei Opfern steckte Richard Negus der Manschettenknopf tief in der Mundhöhle. Das war eine Anomalie. Zu viel an diesem Zimmer war anomal. Aus diesem Grund beschloss Poirot, dass er Zimmer 238 als Erstes durchsuchen würde. Es war ihm – ja, es hatte keinen Sinn, es zu bestreiten –, dieses Zimmer war ihm verdächtig. Von den dreien war es das ihm unangenehmste. Es hatte etwas Unorganisiertes an sich, etwas leicht Renitentes.

Poirot blieb neben Negus’ Leichnam stehen und runzelte die Stirn. Selbst nach seinen anspruchsvollen Maßstäben genügte ein offenes Fenster nicht, um einen Raum chaotisch erscheinen zu lassen, woran lag es also, dass er dieses Gefühl hatte? Er drehte sich langsam auf der Stelle und sah sich um. Nein, er musste sich irren. Hercule Poirot irrte sich nicht oft, aber in sehr seltenen Fällen kam es doch vor, und hier musste ein solcher Fall vorliegen, denn Nummer 238 war ein unbestreitbar tadelloses Zimmer. Es war keinerlei Unordnung oder Schmutz zu sehen. Es war ebenso tadellos aufgeräumt wie Harriet Sippels und Ida Gransburys Zimmer.

»Ich werde das Fenster schließen und sehen, ob das etwas daran ändert«, sagte Poirot zu sich selbst. Er tat es und musterte seine Umgebung erneut. Irgendetwas stimmte nach wie vor nicht. Er verspürte eine Abneigung gegen Zimmer 238. Wenn er im Bloxham Hotel abgestiegen wäre und man ihn in dieses Zimmer geführt hätte, hätte er sich nicht wohlgefühlt …

Plötzlich sprang ihm das Problem ins Auge und bereitete seinen Meditationen ein abruptes Ende. Der Kamin! Eine der Fliesen war nicht exakt ausgerichtet. Sie saß nicht gerade; sie ragte ein Stückchen vor. Eine lockere Fliese; mit so etwas im Zimmer hätte Poirot nicht schlafen können. Er beäugte Richard Negus’ Leichnam. »Wäre ich in deiner Lage, oui, aber ansonsten nicht«, sagte er zu ihm.

Als er sich nach der Fliese bückte, hatte er nichts anderes vor, als sie gerade zu richten und zurückzuschieben, damit sie mit den anderen bündig abschloss. Um künftigen Gästen die Qual zu ersparen, zu spüren, dass mit dem Zimmer irgendetwas nicht stimmte, und nicht herausfinden zu können, was es war – welch einen Gefallen würde er ihnen damit erweisen! Und ebenso Signor Lazzari!

Als Poirot die Fliese berührte, fiel sie heraus, und mit ihr noch etwas anderes – ein Schlüssel mit einer Zahl darauf: 238. »Sacré tonnerre!«, flüsterte Poirot. »So gründlich war die gründliche Durchsuchung also wohl nicht.«

Poirot legte den Schlüssel wieder dorthin, wo er ihn gefunden hatte, und machte sich dann daran, den Rest des Zimmers Zentimeter für Zentimeter zu untersuchen. Er entdeckte weiter nichts von Interesse, also begab er sich zu Zimmer 317 und anschließend zu Zimmer 121, wo ich ihn antraf, als ich, gleichfalls mit aufregenden Neuigkeiten, von meinen Botengängen zurückkehrte.

Da Poirot nun einmal Poirot war, bestand er darauf, mir zuerst seine Neuigkeiten mitzuteilen und von der Entdeckung des Schlüssels zu berichten. Ich kann dazu nur sagen, dass es in Belgien offenbar nicht als unfein gilt, sich zu brüsten. Er war förmlich aufgebläht vor Stolz. »Begreifen Sie, was das bedeutet, mon ami? Nicht Richard Negus öffnete das Fenster, es wurde nach seinem Tod geöffnet! Nachdem er die Tür von Zimmer 238 von innen abgeschlossen hatte, musste der Mörder fliehen. Er tat dies unter Zuhilfenahme des Baums vor Mr Negus’ Fenster, nachdem er den Schlüssel hinter einer lockeren Kaminfliese versteckt hatte. Vielleicht lockerte er sie auch selbst.«

»Warum konnte er ihn nicht einfach einstecken, ihn mitnehmen und das Zimmer auf die übliche Weise verlassen?«, fragte ich.

»Diese Frage habe ich mir schon selbst gestellt – ohne sie vorerst beantworten zu können«, sagte Poirot. »Ich habe mich davon überzeugt, dass es in diesem Zimmer, Nummer 121, keinen versteckten Schlüssel gibt. Ebenso wenig ist in Zimmer 317 ein Schlüssel zu finden. Als der Mörder das Bloxham Hotel verließ, muss er zwei Schlüssel mitgenommen haben – warum also nicht auch den dritten? Warum die unterschiedliche Vorgehensweise bei Richard Negus?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte ich. »Hören Sie, ich habe mich mit John Goode unterhalten, dem Empfangschef …«

»Dem allerzuverlässigsten Empfangschef«, ergänzte Poirot augenzwinkernd.

»Ja, tja … zuverlässig oder nicht, mit seiner Befragung haben wir jedenfalls einen Volltreffer gelandet. Sie hatten recht: Es bestand eine Verbindung zwischen den drei Opfern. Ich habe ihre Adressen gesehen. Harriet Sippel und Ida Gransbury wohnten beide in Great Holling, einem Dorf im Culver Valley.«

»Bon. Und Richard Negus?«

»Er nicht, er wohnte in Devon, in einem Ort namens Beaworthy. Aber eine Verbindung besteht trotzdem: Er hat die drei Hotelzimmer – Idas, Harriets und sein eigenes – gebucht und auch im Voraus bezahlt.«

»Ach, wirklich? Das finde ich sehr interessant …«, murmelte Poirot und strich sich über den Schnurrbart.

»Etwas rätselhaft, wenn Sie mich fragen«, sagte ich. »Wobei das Haupträtsel lautet: Warum, wenn sie doch am selben Tag aus demselben Dorf kamen, reisten Harriet Sippel und Ida Gransbury nicht zusammen? Warum kamen sie nicht zusammen an? Ich bin diesen Punkt mehrmals mit John Goode durchgegangen, und er bleibt eisern dabei: Harriet traf am Mittwoch zwei Stunden – zwei ganze Stunden – vor Ida hier ein.«

»Und Richard Negus?«

Ich beschloss, sämtliche Richard Negus betreffenden Informationen künftig immer als Erstes zu referieren, und wenn auch nur, um mir Poirots ständiges »Und Richard Negus?« nicht weiter anhören zu müssen.

»Er traf eine Stunde vor Harriet Sippel ein, also als Erster von den dreien. Abgefertigt wurde er aber nicht von John Goode, sondern von einem einfachen Rezeptionisten, einem Mr Thomas Brignell. Ich habe außerdem festgestellt, dass die drei mit dem Zug angereist sind, nicht mit dem Wagen. Ich weiß nicht genau, ob Sie das auch wissen wollten, aber …«

»Ich muss alles wissen«, sagte Poirot.

Sein offenkundiger Wunsch, das Kommando zu übernehmen und die Ermittlung zu seiner Angelegenheit zu machen, ärgerte und beruhigte mich zugleich. »Das Bloxham hält ein paar Autos bereit für den Fall, dass Gäste vom Bahnhof abgeholt werden möchten«, erklärte ich ihm. »Es ist nicht billig, aber dafür braucht man sich um nichts zu kümmern. Vor drei Wochen traf Richard Negus bei John Goode Vorkehrungen, damit er, Harriet Sippel und Ida Gransbury abgeholt wurden. Einzeln; von je einem hoteleigenen Auto. Das alles – die Zimmer, die Autos – wurde, und zwar von Negus, im Voraus bezahlt.«

»Ob er ein reicher Mann war?«, fragte sich Poirot laut. »Sehr häufig erweist sich Geld als das Mordmotiv. Was denken Sie, Catchpool, jetzt, wo wir etwas mehr in der Hand haben?«

»Tja …« Da er mich schon fragte, beschloss ich, alle Register zu ziehen. Sich Möglichkeiten zu überlegen war in Poirots Augen etwas Positives, also würde ich meiner Fantasie freien Lauf lassen und, von den Fakten ausgehend, eine Theorie entwickeln. »Richard Negus muss von der Ankunft der zwei Frauen gewusst haben, da er die Zimmer reservierte und bezahlte, aber vielleicht wusste Harriet Sippel nicht, dass auch Ida Gransbury ins Bloxham kommen würde. Und vielleicht wusste Ida nichts von Harriet.«

»Oui, c’est possible.«

Ermutigt fuhr ich fort. »Vielleicht war es für den Plan des Mörders entscheidend, dass weder Ida noch Harriet von der Anwesenheit der anderen etwas ahnte. Wenn es sich aber so verhält und wenn gleichzeitig Richard Negus wusste, dass sowohl er als auch die beiden Frauen Gäste des Bloxham sein würden …« Und hier versiegte der Quell meiner Einfälle.

Poirot sprang ein: »Unsere Gedankengänge verlaufen in ähnlichen Bahnen, mein Freund. War Richard Negus ein nichtsahnender Komplize seines eigenen Mörders? Vielleicht überredete der Täter ihn, die Opfer aus einem vorgespiegelten Grund ins Bloxham Hotel zu locken, während er in Wirklichkeit beabsichtigte, sie alle drei zu ermorden. Die Frage lautet: War es aus welchem Grund auch immer entscheidend, dass Ida und Harriet nichts von der Anwesenheit der jeweils anderen im Hotel wussten? Und falls ja, war das für Richard Negus wichtig, für den Mörder oder für beide?«

»Vielleicht verfolgte Richard Negus einen Plan und der Mörder einen anderen

»Ganz recht«, sagte Poirot. »Als Nächstes müssen wir so viel wie möglich über Harriet Sippel, Richard Negus und Ida Gransbury in Erfahrung bringen. Wer waren sie zu Lebzeiten? Was waren ihre Hoffnungen, ihre Sorgen, ihre Geheimnisse? Das Dorf, Great Holling – dort werden wir nach unseren Antworten suchen. Vielleicht werden wir dort auch Jennie finden und PIJ – le mystérieux

»Einen Gast namens Jennie gab es gestern oder gibt es heute nicht. Ich habe es überprüft.«

»Nein, das hatte ich auch nicht erwartet. Fee Spring, die Kellnerin, erzählte mir, Jennie wohne ›am andern Ende der Stadt‹, von Pleasant’s Coffee House aus betrachtet. Das bedeutet, in London – nicht in Devon und auch nicht im Culver Valley. Jennie braucht kein Zimmer im Bloxham Hotel, wenn sie lediglich ›am andern Ende der Stadt‹ wohnt.«

»Apropos Devon – Henry Negus, Richards Bruder, ist auf dem Weg hierher. Richard wohnte bei Henry und dessen Familie. Und ich habe einige meiner besten Männer dazu abgestellt, die Befragung sämtlicher Hotelgäste durchzuführen.«

»Sie sind sehr effizient gewesen, Catchpool.« Poirot tätschelte mir den Arm.

Ich fühlte mich verpflichtet, Poirot meinen einzigen Misserfolg zu beichten. »Diese Sache mit den Abendessen auf dem Zimmer erweist sich als nicht so leicht auszuknobeln«, sagte ich. »Ich finde niemanden, der persönlich an der Entgegennahme oder der Ausführung der Bestellungen beteiligt gewesen wäre. Da scheint ein gewisses Durcheinander vorzuliegen.«

»Keine Sorge«, sagte Poirot. »Ich werde die nötige Knobelei erledigen, wenn wir uns im Speisesaal versammelt haben. Einstweilen wollen wir einen Spaziergang durch den Hotelgarten machen. Mitunter bewirkt die gemächliche Bewegung der unteren Extremitäten, dass eine neue Idee an die Oberfläche des Denkens aufsteigt.«

Kaum waren wir draußen, fing Poirot an, sich über das Wetter zu beklagen, das eine Wendung zum Schlechteren genommen hatte. »Sollen wir wieder hineingehen?«, schlug ich vor.

»Nein, nein. Noch nicht. Die Veränderung der Umgebung ist gut für die kleinen grauen Zellen, und vielleicht bieten die Bäume einen gewissen Schutz vor dem Wind. Ich habe nichts gegen Kälte, aber es gibt die von der guten und die von der schlechten Sorte, und die heutige ist von der schlechten Sorte.«

Als wir den Eingang des Hotelgartens erreichten, blieben wir stehen. Luca Lazzari hatte hinsichtlich seiner Schönheit nicht übertrieben, dachte ich, während ich die Spalierlinden betrachtete und, am anderen Ende der Anlage, die kunstvollste Formschnitthecke, die ich in London je gesehen hatte. Hier war die Natur nicht lediglich gebändigt, sondern zu staunenerregender Unterwerfung gezwungen. Selbst bei dem beißenden Wind ergötzte der Anblick das Auge ungemein.

»Nun?«, fragte ich Poirot. »Gehen wir hinein oder nicht?« Es würde ein Genuss sein, dachte ich, die grünen Wege zwischen den Bäumen entlangzuschlendern, die so schnurgerade wie Römerstraßen waren.

»Ich weiß nicht.« Poirot runzelte die Stirn. »Dieses Wetter …« Er fröstelte.

»… wird zwangsläufig vor den Grenzen des Gartens nicht haltmachen«, vollendete ich leicht ungeduldig seinen Satz. »Es gibt nur zwei Orte, wo wir uns aufhalten können, Poirot: im Hotel oder außerhalb desselben. Welcher ist Ihnen lieber?«

»Ich habe eine bessere Idee!«, verkündete er triumphierend. »Wir nehmen den Bus!«

»Welchen Bus? Wohin?«

»Nirgendwohin oder irgendwohin! Das spielt keine Rolle! Wir steigen bald wieder aus und kehren mit einem anderen Bus zurück. Das wird uns den Ortswechsel bieten ohne die Kälte! Kommen Sie! Wir werden während der Fahrt aus dem Fenster schauen. Wer weiß, was für Beobachtungen wir möglicherweise machen!« Er marschierte entschlossen los.

Ich folgte ihm kopfschüttelnd. »Sie denken an Jennie, nicht wahr?«, sagte ich. »Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass wir sie sehen …«

»Es ist immer noch wahrscheinlicher, als wenn wir nur hier herumstehen und Grünzeug anstarren!«, sagte Poirot grimmig.

Zehn Minuten später saßen wir in einem Bus, dessen Fenster so beschlagen waren, dass man nichts von der Außenwelt erkennen konnte. Es half auch nur wenig, sie mit dem Taschentuch abzuwischen.

Ich versuchte, Poirot zur Vernunft zu bringen. »Was Jennie anbelangt …«, setzte ich an.

»Oui?«

»Es kann ja sein, dass sie wirklich in Gefahr schwebt, aber im Ernst, mit der Geschichte im Bloxham hat sie nichts zu tun. Nichts deutet auf eine Verbindung hin. Rein gar nichts.«

»Das sehe ich leider anders, mein Freund«, sagte Poirot kummervoll. »Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass eine solche besteht.«

»Überzeugt? Verflixt, Poirot – warum denn?«

»Wegen der zwei höchst ungewöhnlichen Merkmale, die die … Geschichten gemeinsam haben.«

»Und die wären?«

»Sie werden sie schon noch erkennen, Catchpool. Wirklich, Sie können sie nicht übersehen, wenn Sie sich nur öffnen und über das, was Sie wissen, Gedanken machen.«

Auf der Sitzbank hinter uns diskutierten eine bejahrte Mutter und eine Tochter mittleren Alters darüber, was den Unterschied zwischen lediglich gutem und ausgezeichnetem Gebäck ausmache.

»Hören Sie das, Catchpool?«, flüsterte Poirot. »Unterschied! Konzentrieren wir uns nicht auf Gemeinsamkeiten, sondern auf Unterschiede – die werden uns zu unserem Mörder führen.«

»Was denn für Unterschiede?«, fragte ich.

»Diejenigen zwischen zwei der Hotelmorde und dem dritten. Warum sind die Begleitumstände im Fall von Richard Negus so verschieden? Warum schloss der Mörder die Tür von innen statt von außen ab? Warum versteckte er den Schlüssel hinter einer losen Fliese des Kamins, anstatt ihn mitzunehmen? Warum floh er durch das Fenster, mit Hilfe eines Baumes, anstatt das Zimmer auf die übliche Weise, durch die Tür, zu verlassen? Zunächst vermutete ich, er hätte Stimmen auf dem Korridor gehört und nicht riskieren wollen, dabei beobachtet zu werden, wie er aus Mr Negus’ Zimmer herauskam.«

»Das klingt plausibel«, sagte ich.

»Non. Ich glaube jetzt doch nicht, dass das der Grund war.«

»Ach. Und warum nicht?«

»Wegen der Position des Manschettenknopfes in Richard Negus’ Mund, die in diesem Fall ebenfalls abweichend war: statt zwischen den Lippen im hinteren Bereich der Mundhöhle, fast schon im Rachen.«

Ich stöhnte. »Nicht das schon wieder! Ich glaube wirklich nicht …«

»Ah! Moment, Catchpool. Wir wollen doch mal sehen …«

Der Bus hatte angehalten. Poirot reckte den Hals, um die neuen Fahrgäste in Augenschein zu nehmen, und seufzte, als der letzte – ein schmächtiger junger Mann in einem Tweed-Anzug, dem mehr Haare aus der Nase als auf dem Kopf wuchsen – eingestiegen war.

»Sie sind enttäuscht, weil Jennie nicht dabei ist«, sagte ich. Ich denke, ich musste das laut aussprechen, um es selbst zu glauben.

»Non, mon ami. Sie haben recht, was das Gefühl anbelangt, nicht aber, was dessen Ursache betrifft. Die Enttäuschung verspüre ich jedes Mal, wenn ich mir vergegenwärtige, wie verschwindend gering in einer so riesigen Stadt wie London die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich Jennie je wiedersehen werde. Und dennoch … hoffe ich.«

»Dafür, dass Sie in einem fort von wissenschaftlicher Methode reden, sind Sie ein ziemlicher Träumer, nicht?«

»Sie glauben, die Hoffnung sei der Feind der Wissenschaft und nicht vielmehr deren Triebkraft? Falls ja, bin ich anderer Meinung, ebenso wie ich hinsichtlich des Manschettenknopfs anderer Meinung bin. Er stellt einen signifikanten Unterschied dar zwischen Richard Negus’ Fall und dem der zwei Frauen. Die unterschiedliche Position des Manschettenknopfs in Mr Negus’ Mund lässt sich nicht dadurch erklären, dass der Mörder Leute auf dem Korridor hörte und eine Begegnung mit ihnen vermeiden wollte«, sagte Poirot über mich hinweg. »Deshalb muss es eine andere Erklärung dafür geben. Bis wir diese kennen, können wir nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sie nicht auch auf das offene Fenster, den im Zimmer versteckten Schlüssel und die von innen abgeschlossene Tür zutrifft.«

Bei den meisten Kriminalfällen – und keineswegs nur bei solchen, in die Hercule Poirot sich einmischt – kommt der Punkt, an dem man das Gefühl hat, es wäre angenehmer, und übrigens nicht weniger effektiv, nur noch Selbstgespräche zu führen und auf jeden weiteren Versuch zu verzichten, sich mit der Außenwelt zu verständigen.

Schweigend, in meinem Kopf, trug ich einem vernünftigen und verständnisvollen Ein-Mann-Publikum die folgende Argumentation vor: Dass der Manschettenknopf sich in einem geringfügig anderen Bereich von Richard Negus’ Mund befand, hatte nicht die geringste Relevanz. Ein Mund ist ein Mund, und mehr steckte nicht dahinter. Nach seinem eigenen Verständnis hatte der Mörder bei jedem seiner drei Opfer das Gleiche getan: Er hatte deren Münder geöffnet und in jeden von ihnen einen monogrammierten Manschettenknopf gelegt.

Dafür, dass er den Schlüssel hinter der losen Kaminfliese versteckt hatte, konnte ich mir keine Erklärung denken. Es wäre für den Mörder einfacher und weniger zeitraubend gewesen, ihn mitzunehmen oder ihn, nachdem er seine Fingerabdrücke abgewischt hätte, auf den Teppich fallen zu lassen.

Hinter uns hatten Mutter und Tochter das Thema Gebäck inzwischen abgehandelt und waren zum Nierenfett übergegangen.

»Wir sollten langsam daran denken, zum Hotel zurückzukehren«, sagte Poirot.

»Aber wir sind doch gerade erst in den Bus gestiegen!«, protestierte ich.

»Oui, c’est vrai, aber wir sollten uns nicht allzu weit vom Bloxham entfernen. Bald wird unsere Anwesenheit im Speisesaal erforderlich sein.«

Ich atmete langsam aus; ich wusste, dass es keinen Zweck gehabt hätte zu fragen, warum es dann überhaupt nötig gewesen war, das Hotel zu verlassen.

»Wir müssen aus diesem Bus aussteigen und einen anderen nehmen«, sagte er. »Vielleicht wird der nächste bessere Ausblicke bieten.«

So war es dann auch. Zwar sah Poirot, zu seinem großen Bedauern, weiterhin keine Spur von Jennie, ich jedoch beobachtete einige amüsante Szenen, die mir wieder einmal vor Augen führten, warum ich London liebte: einen Mann in einem Clownskostüm, der so schlecht jonglierte, wie ich überhaupt jemanden je habe schlecht jonglieren sehen. Trotzdem warfen Passanten Münzen in den Hut zu seinen Füßen. Weitere Höhepunkte waren ein Pudel, der haargenau das Gesicht eines führenden Politikers hatte, und ein Vagabund, der auf dem Boden saß und aus einem offenen Koffer aß, als wäre das seine private tragbare Imbissbude. »Schauen Sie, Poirot«, sagte ich. »Der Bursche da schert sich kein bisschen um die Kälte – im Gegenteil, er strahlt wie ein Honigkuchenpferd! Poirot, sehen Sie sich den Pudel dort an – erinnert er Sie nicht an jemanden? Jemanden Berühmtes? Kommen Sie, gucken Sie nur hin, es ist nicht zu übersehen!«

»Catchpool«, sagte Poirot streng. »Stehen Sie auf, wir verpassen sonst unsere Haltestelle. Ständig sehen Sie woandershin, auf der Suche nach Zerstreuung!«

Ich stand auf. Als wir ausgestiegen waren, sagte ich: »Sie haben mich doch schließlich auf eine sinnlose Besichtigungsfahrt durch London geschleift. Da dürfen Sie es mir nicht verdenken, wenn ich mich für die Sehenswürdigkeiten interessiere.«

Poirot blieb stehen. »Verraten Sie mir eins. Warum sträuben Sie sich dagegen, die drei Leichen im Hotel anzusehen? Was an dem Anblick ist Ihnen so unerträglich?«

»Nichts. Ich habe mir die Leichen genauso ausgiebig angesehen wie Sie – tatsächlich hatte ich das, als Sie hinzukamen, schon größtenteils erledigt.«

»Wenn Sie mit mir nicht darüber sprechen wollen, brauchen Sie es nur zu sagen, mon ami

»Es gibt nichts darüber zu sagen. Ich kenne niemanden, der einen Toten länger als unbedingt nötig anstarren würde. Mehr steckt nicht dahinter.«

»Mais si«, sagte Poirot leise. »Da steckt mehr dahinter.«

Ich hätte es ihm wohl sagen sollen, und ich weiß bis heute nicht, warum ich es nicht tat. Mein Großvater starb, als ich fünf war. Sein langwieriges Sterben spielte sich bei uns zu Hause ab. Es war mir unangenehm, ihn jeden Tag in seinem Zimmer zu besuchen, aber meine Eltern beharrten darauf, es sei ihm wichtig, also tat ich es ihnen zuliebe und auch seinetwegen. Ich sah und hörte mir an, wie seine Haut immer gelblicher wurde, wie sein Atem immer flacher ging und sein Blick zunehmend unschärfer wurde. Ich empfand es damals nicht als Angst, aber ich erinnere mich, wie ich Tag für Tag die Sekunden zählte, die ich in dem Zimmer verbringen musste, und dabei wusste, dass ich zu guter Letzt würde gehen können, die Tür hinter mir zuziehen und aufhören zu zählen.

Als er starb, fühlte ich mich so, als wäre ich aus dem Gefängnis entlassen worden und könnte endlich wieder ganz lebendig sein. Man würde ihn wegschaffen, und es würde keinen Tod mehr im Haus geben. Und dann sagte meine Mutter zu mir, ich müsse meinen Großvater ein letztes Mal in seinem Zimmer besuchen. Sie werde mit mir kommen, sagte sie. Ich brauche keine Angst zu haben.

Der Arzt hatte ihn zurechtgelegt. Meine Mutter erklärte mir, dass man die Toten aufbahrte. Ich zählte lautlos die Sekunden. Mehr Sekunden als sonst. Mindestens hundertdreißig zählte ich, während ich neben meiner Mutter stand und Großvaters reglosen, geschrumpften Körper ansah. »Halt seine Hand, Edward«, sagte meine Mutter. Als ich sagte, ich wolle nicht, fing sie an zu weinen, als würde sie nie wieder aufhören.

Also hielt ich Großvaters tote, knochige Hand. Ich verspürte den übermächtigen Wunsch, sie loszulassen und wegzulaufen, aber ich hielt sie krampfhaft fest, bis meine Mutter zu weinen aufhörte und sagte, wir könnten jetzt wieder nach unten gehen.

»Halt seine Hand, Edward. Halt seine Hand.«

Die Monogramm-Morde

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