Читать книгу Die Monogramm-Morde - Sophie Hannah - Страница 5
2 Mord in drei Zimmern
ОглавлениеSo fing es an, am Abend des 7. Februar 1929, einem Donnerstag, mit Poirot und Jennie und Fee Spring; zwischen den krummen, teekannenbefrachteten Regalen in Pleasant’s Coffee House.
Oder vielleicht sollte ich besser sagen: So schien es anzufangen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass Geschichten im wirklichen Leben einen Anfang oder auch ein Ende haben. Von welcher Warte aus man sie auch betrachtet, wird man erkennen, dass sie endlos weit in die Vergangenheit zurückreichen und sich unaufhaltsam in die Zukunft hinein ausdehnen. Man kann eigentlich nie sagen: »Das war’s also«, und einen Schlussstrich ziehen.
Wohl aber haben wahre Geschichten, zum Glück, Helden und Heldinnen. Selbst kein Held und ohne die Hoffnung, jemals einer zu werden, bin ich mir umso eindringlicher ihrer Tatsächlichkeit bewusst.
An jenem Donnerstagabend im Coffee House war ich nicht dabei. Mein Name fiel – Edward Catchpool, Poirots Freund von Scotland Yard, nicht viel älter als dreißig (zweiunddreißig, um genau zu sein) –, doch ich selbst war nicht da. Dennoch habe ich beschlossen, die Lücken in meinem eigenen Erleben aufzufüllen und Jennies Geschichte schriftlich festzuhalten. Zum Glück kann ich mich dabei auf die Zeugenaussage Hercule Poirots stützen, und es gibt keinen besseren Zeugen als ihn.
Ich schreibe ausschließlich zu meinem eigenen Vergnügen. Ist mein Bericht erst abgeschlossen, werde ich ihn lesen und immer wieder lesen, bis ich imstande bin, die Augen über diese Worte gleiten zu lassen, ohne die Erschütterung zu verspüren, die ich jetzt verspüre, während ich sie niederschreibe – bis der Gedanke »Wie kann das nur geschehen sein?« einem »Ja, genau so geschah es« weicht.
Irgendwann werde ich mir einen besseren Titel ausdenken müssen; »Jennies Geschichte« klingt nicht gerade griffig.
Hercule Poirot begegnete ich zum ersten Mal sechs Wochen vor dem geschilderten Donnerstagabend, als er ein Zimmer in einer Londoner Pension bezog, die Mrs Blanche Unsworth gehört. Es ist ein geräumiges, tadellos sauberes Gebäude mit einer eher strengen Fassade, während das Interieur kaum weiblicher sein könnte; überall Rüschen und Plüsch und Volants. Mitunter befürchte ich, eines Morgens zur Arbeit aufzubrechen und festzustellen, dass sich eine lavendelfarbene Fransenborte von irgendeinem Salonmöbel an meinen Ellbogen oder meinen Schuh geheftet hat.
Anders als ich gehört Poirot nicht zum festen Inventar des Hauses, sondern ist nur ein zeitweiliger Gast. »Ich werde wenigstens einen Monat geruhsamer Untätigkeit genießen«, erklärte er mir an dem Abend, als er zum ersten Mal erschien. Er sagte dies mit großer Entschlossenheit, als rechnete er damit, ich könnte versuchen, ihn davon abzuhalten. »Mein Verstand, er wird zu betriebsam«, erläuterte er. »Das Rasen der vielen Gedanken … Hier, bin ich zuversichtlich, werden sie langsamer werden.«
Ich fragte ihn, wo er lebte, und erwartete die Antwort »in Frankreich«; etwas später erfuhr ich, dass er Belgier ist, kein Franzose. Zur Beantwortung meiner Frage trat er ans Fenster, zog die Spitzengardine beiseite und zeigte auf ein breites, elegantes Gebäude, das höchstens dreihundert Yards entfernt lag. »Sie leben dort?«, sagte ich. Ich hielt das für einen Scherz.
»Oui. Ich wünsche nicht, mich weit von zu Hause zu entfernen«, erklärte Poirot. »Es ist mir eine große Freude, es zu sehen: ein schöner Anblick!« Er betrachtete das herrschaftliche Haus voll Stolz, und schon fragte ich mich, ob er vergessen hatte, dass ich auch da war. Dann sagte er: »Reisen ist eine wunderbare Sache. Es ist stimulierend, aber nicht entspannend. Doch wenn ich keinen Ortswechsel vornehme, wird es für Poirots Verstand nie vacances geben! Störungen werden sich in der einen oder anderen Form einstellen. Zu Hause ist man zu leicht zu finden. Ein Freund oder ein Fremder kommt mit einer Angelegenheit von großer Wichtigkeit, comme toujours – es ist immer alles von größter Wichtigkeit! –, und wieder einmal bekommen die kleinen grauen Zellen zu tun und können ihre Kräfte nicht sparen. Also ist Poirot offiziell eine Weile nicht in London, und in der Zwischenzeit ruht er sich an einem Ort aus, den er gut kennt, wo er vor jeder Unterbrechung geschützt ist.«
Das alles sagte er, und ich nickte dazu, als wäre es vollkommen einsichtig, und fragte mich, ob Menschen mit dem Alter immer sonderbarer werden.
Am Donnerstag kocht Mrs Unsworth nie Abendessen – an dem Abend besucht sie die Schwester ihres verstorbenen Mannes –, und so kam es, dass Poirot Pleasant’s Coffee House entdeckte. Er erklärte mir, er könne nicht riskieren, in einem seiner Stammlokale gesehen zu werden, solange er offiziell nicht in der Stadt weilte, und fragte, ob ich ihm etwas empfehlen könne – »ein Lokal, das jemand wie Sie, mon ami, frequentieren könnte –, wo aber die Küche exzellent ist«. Ich erzählte ihm vom Pleasant’s: eng, ein wenig exzentrisch, aber die meisten kamen nach dem ersten Besuch immer wieder.
An diesem bestimmten Donnerstagabend – dem Abend von Poirots Begegnung mit Jennie – kam er um zehn nach zehn nach Hause, viel später als gewohnt. Ich saß im Salon, nah am Kamin, aber unfähig, mich aufzuwärmen. Ich hörte Blanche Unsworth – Sekunden, nachdem sich die Eingangstür geöffnet und wieder geschlossen hatte – mit Poirot flüstern; sie musste ihn im Flur abgepasst haben.
Ich konnte zwar nicht hören, was sie sagte, aber ich konnte es mir denken: Sie machte sich Sorgen, und der Gegenstand ihrer Besorgnis war ich. Sie war um halb zehn von ihrer Schwägerin zurückgekehrt und hatte entschieden, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich sähe beängstigend aus – als ob ich nichts gegessen hätte und nicht schlafen würde. Das alles hatte sie mir selbst gesagt. Ich weiß – das nur am Rande – nicht genau, wie jemand es schafft, so auszusehen, als hätte er nichts gegessen. Vielleicht war ich ja seit dem Frühstück an dem Morgen abgemagert.
Sie inspizierte mich aus einer Vielzahl von Blickwinkeln und bot mir alles an, was ihr an möglichen Stärkungsmitteln einfiel, angefangen mit dem in derlei Situationen Nächstliegenden: Essen, Trinken, ein geneigtes Ohr. Nachdem ich alle drei so höflich wie möglich zurückgewiesen hatte, ging sie zu ausgefalleneren Vorschlägen über: einem mit Kräutern gefüllten Kissen, etwas Übelriechendem, aber anscheinend Wohltuendem in einer blauen Flasche, das ich in mein Badewasser gießen sollte.
Ich lehnte dankend ab. Sie ließ ihre Blicke hektisch im Salon wandern auf der Suche nach entlegenen Dingen, die sie mir mit dem Versprechen, dass sie alle meine Probleme lösen würden, aufschwatzen könnte.
Jetzt flüsterte sie Poirot höchstwahrscheinlich zu, er möchte mich drängen, die übel riechende blaue Flasche oder das Kräuterkissen anzunehmen.
An Donnerstagabenden ist Poirot gewöhnlich um neun Uhr vom Pleasant’s zurück und sitzt bereits im Salon und liest. Als ich um Viertel nach neun – fest entschlossen, nicht an das zu denken, was ich im Bloxham Hotel gesehen hatte – heimgekehrt war, hatte ich mich sehr darauf gefreut, Poirot in seinem Lieblingssessel vorzufinden und mit ihm, wie wir es häufig taten, über amüsante Belanglosigkeiten plaudern zu können.
Er war nicht da. Seine Abwesenheit bewirkte, dass ich mich auf seltsame Weise von allem entrückt fühlte, als wäre der Boden unter meinen Füßen weggebrochen. Poirot ist ein Gewohnheitsmensch, der es nicht schätzt, von seinen Ritualen abzuweichen – »Es ist das unveränderliche Einerlei des Alltags, Catchpool, was einen ausgeruhten Geist bedingt«, hatte er mir mehr als einmal gesagt –, und dennoch verspätete er sich schon um eine volle Viertelstunde.
Als ich um halb zehn die Haustür gehen hörte, hoffte ich, er wäre es, aber es war Blanche Unsworth. Ich stöhnte um ein Haar auf. Wenn man eigene Sorgen hat, ist das Letzte, was man gebrauchen kann, die Gesellschaft von jemandem, dessen Lieblingszeitvertreib darin besteht, viel Aufhebens um nichts zu machen.
Ich hatte Angst, ich könnte es nicht über mich bringen, am nächsten Tag zum Bloxham Hotel zurückzukehren, und ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte. Das war es, woran ich nicht zu denken versuchte.
Und jetzt, dachte ich bei mir, ist Poirot endlich da, und er wird sich ebenfalls um mich Sorgen machen, weil Blanche Unsworth ihm gesagt hat, dass er sich sorgen sollte. Ich stellte fest, dass ich auf beide gern verzichtet hätte. Wenn es nicht möglich war, über etwas Unverfängliches und Unterhaltsames zu sprechen, zog ich es vor, überhaupt nicht zu sprechen.
Poirot erschien im Salon, noch immer in Hut und Mantel, und schloss die Tür hinter sich. Ich erwartete schon eine Breitseite von Fragen, aber stattdessen sagte er mit mutloser Miene nur: »Es ist spät. Ich wandere und wandere durch die Straßen und suche, und ich erreiche nichts, als mich zu verspäten.«
Er machte sich tatsächlich Sorgen, aber nicht um mich und darum, ob ich gegessen hatte oder zu essen gedachte. Ich war ungeheuer erleichtert. »Sie haben etwas gesucht?«, fragte ich.
»Oui. Nach einer Frau, Jennie, die, wie ich inständig hoffe, noch am Leben ist und nicht ermordet wurde.«
»Ermordet?« Wieder hatte ich dieses Gefühl, als bräche der Boden unter mir weg. Ich wusste, dass Poirot ein berühmter Detektiv war. Er hatte mir von einigen Fällen erzählt, die er aufgeklärt hatte. Trotzdem, es hatte doch geheißen, er gönne sich jetzt eine Pause von alldem, und es wäre mir lieber gewesen, ebendieses Wort nicht gerade in dem Moment, und dazu noch in so ominöser Weise ausgesprochen, aus seinem Mund hören zu müssen.
»Wie sieht sie aus, diese Jennie?«, fragte ich. »Beschreiben Sie sie mir. Vielleicht habe ich sie gesehen. Ganz besonders, wenn sie ermordet worden ist. Heute Abend habe ich sogar zwei ermordete Frauen gesehen, und dazu noch einen Mann, Sie könnten also Glück haben. Der Mann sah zwar nicht direkt so aus, als könnte er Jennie heißen, aber was die anderen zwei …«
»Attendez, mon ami!« Poirots ruhige Stimme unterbrach mein verzweifeltes Geschwafel. Er legte seinen Hut ab und begann seinen Mantel aufzuknöpfen. »Dann hat sie also recht, Madame Blanche, Sie sind bekümmert? Ah, wie konnte ich das nicht sofort erkennen! Sie sind blass. Meine Gedanken, sie waren woanders. Sie beeilen sich, woanders zu sein, wenn Madame Blanche im Anzug ist! Aber bitte erzählen Sie Poirot immédiatement: Wo liegt das Problem?«
»Das Problem sind drei Morde«, sagte ich. »Und alle drei von einer Art, wie ich sie nie erlebt habe. Zwei Frauen und ein Mann. Jeweils in einem anderen Zimmer.«
Natürlich war ich schon oft mit dem gewaltsamen Tod in Berührung gekommen – ich war seit fast zwei Jahren bei Scotland Yard und seit fünf bei der Polizei –, aber die meisten Morde erweckten den deutlichen Anschein von Affekthandlungen: Jemand hatte in einem Wutanfall zugeschlagen oder hatte ein Gläschen zu viel gekippt und war ausgerastet. Diese Sache im Bloxham war völlig anders. Wer immer in dem Hotel dreimal getötet hatte, hatte die Sache – monatelang, wie ich vermutete – geplant. Jeder der drei Tatorte war ein makabres Kunstwerk mit einer verborgenen Bedeutung, die ich nicht zu entschlüsseln vermochte. Es erfüllte mich mit Grauen, daran zu denken, dass ich es diesmal nicht mit einem unbeherrschten Rohling von der gewohnten Sorte zu tun hatte, sondern vielleicht mit einem kaltblütigen, methodischen Verstand, der sich keine Niederlage gestatten würde.
Mein Trübsinn war zweifellos übertrieben, aber ich schaffte es nicht, meine düsteren Vorahnungen abzuschütteln. Ein Ensemble von drei Leichen: Schon die bloße Vorstellung ließ mich erschaudern. Ich sagte mir, dass ich keine Phobie entwickeln durfte; ich musste den Fall so angehen wie jeden anderen auch, wie besonders er nach außen hin auch erscheinen mochte.
»Jeder der drei Morde in einem anderen Zimmer desselben Wohnhauses?«, fragte Poirot.
»Nein, im Bloxham Hotel. In Richtung Piccadilly Circus. Sie kennen es wohl nicht?«
»Non.«
»Ich war vor heute Abend auch noch nie dort. Ist nicht die Sorte Hotel, die jemand wie ich frequentieren würde. Es ist recht feudal.«
Poirot saß mit sehr geradem Rücken da. »Drei Morde im selben Hotel, und jeder in einem anderen Zimmer?«, sagte er.
»Ja, und alle heute Abend, innerhalb einer kurzen Zeitspanne verübt.«
»Heute Abend? Und trotzdem sind Sie hier. Warum sind Sie nicht im Hotel? Der Mörder ist schon gefasst worden?«
»Schön wär’s. Nein, ich …« Ich verstummte und räusperte mich. Die nackten Fakten des Falls zu referieren war nicht weiter schwierig, aber Poirot zu erklären, wie sehr das, was ich gesehen hatte, mir auf die Stimmung geschlagen war, oder ihm zu gestehen, dass ich nach lediglich fünf Minuten im Bloxham dem übermächtigen Drang nachgegeben hatte, das Hotel zu verlassen – darauf hatte ich keine Lust.
Die formelle Art, wie alle drei abgelegt worden waren: auf dem Rücken ausgestreckt liegend, Arme an den Seiten, Handflächen auf dem Fußboden, Beine zusammen …
Wie aufgebahrt. Das Wort drängte sich in mein Bewusstsein, begleitet von der Vision eines dunklen Zimmers von vor vielen Jahren – eines Zimmers, das ich als kleines Kind nur unter Zwang betreten hatte und das in meiner Vorstellung zu betreten ich mich seither immer geweigert hatte. Ich war fest entschlossen, mich bis zum Ende meiner Tage weiter zu weigern.
Leblose Hände, die Innenflächen nach unten.
»Halt seine Hand, Edward.«
»Keine Sorge, da wimmelt’s von Polizisten«, sagte ich rasch und laut, um die unwillkommene Vision zu verscheuchen. »Wenn ich morgen früh wieder hingehe, ist es noch früh genug.« Da ich sah, dass er auf eine erschöpfendere Antwort wartete, fügte ich hinzu: »Ich musste meinen Kopf frei bekommen. Offen gestanden habe ich in meinem ganzen Leben nichts so Sonderbares wie diese drei Morde gesehen.«
»In welcher Hinsicht sonderbar?«
»Jedes der Opfer hatte etwas im Mund – alle dasselbe.«
»Non.« Poirot wedelte tadelnd mit dem Finger. »Das ist nicht möglich, mon ami. Dasselbe Ding kann sich nicht in drei verschiedenen Mündern gleichzeitig befinden.«
»Drei gleiche Dinge, alle identisch«, stellte ich richtig. »Drei Manschettenknöpfe, dem Aussehen nach aus massivem Gold. Mit einem Monogramm. Auf allen dreien dieselben Initialen: PIJ. Poirot? Ist was mit Ihnen? Sie sehen …«
»Mon Dieu!« Er war aufgesprungen und hatte angefangen, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Sie begreifen nicht, was das bedeutet, mon ami. Nein, Sie begreifen es ganz und gar nicht, weil Sie die Geschichte von meiner Begegnung mit Jennie nicht kennen. Ich muss Ihnen schnell erzählen, was passiert ist, sodass Sie verstehen.«
Poirots Vorstellung davon, wie man eine Geschichte schnell erzählt, unterscheidet sich beträchtlich von der landläufigen. Jedes Detail ist ihm wichtig, ob es nun eine Feuersbrunst ist, in der dreihundert Menschen umkommen, oder das Grübchen am Kinn eines Kindes. Er lässt sich unter keinen Umständen dazu drängen, direkt zum Kern der Sache zu kommen, also machte ich es mir in meinem Sessel bequem und ließ ihn auf seine eigene Weise erzählen. Als er damit fertig war, hatte ich das Gefühl, die ganze Begebenheit aus eigener Anschauung zu kennen – und dies sogar noch deutlicher als viele Ereignisse, die ich tatsächlich persönlich miterlebe.
»Was für ein ungewöhnliches Erlebnis!«, sagte ich. »Und das auch noch am selben Abend wie die drei Morde im Bloxham. Wirklich ein seltsamer Zufall.«
Poirot seufzte. »Ich betrachte das nicht als einen Zufall, mein Freund. Es ist unbestreitbar, dass sich von Zeit zu Zeit eine coïncidence ereignet, aber hier liegt ein eindeutiger Zusammenhang vor.«
»Sie meinen, auf der einen Seite Mord, auf der anderen die Angst, ermordet zu werden?«
»Non. Das ist auch eine Verbindung, ja, aber ich spreche von etwas anderem.« Poirot hörte auf, im Salon auf und ab zu spazieren, und wandte sich mir zu. »Sie sagen, dass im Mund Ihrer drei Mordopfer drei goldene Manschettenknöpfe mit dem Monogramm PIJ gefunden wurden?«
»Das ist richtig.«
»Mademoiselle Jennie, sie sagte klar und deutlich zu mir: ›Versprechen Sie mir eins: Wenn man mich tot auffindet, werden Sie Ihrem Freund dem Polizisten sagen, dass er nicht nach meinem Mörder suchen soll. Ach, bitte, niemand darf den Mund öffnen! Dieses Verbrechen darf niemals aufgeklärt werden.‹ Was glauben Sie, was meinte sie mit ›Ach, bitte, niemand darf den Mund öffnen‹?«
Machte er Witze? Anscheinend nicht. »Nun«, sagte ich, »das ist doch eigentlich klar, oder? Sie befürchtete, ermordet zu werden, wollte nicht, dass ihr Mörder bestraft würde, und hoffte, dass niemand etwas sagte, was auf dessen Spur führen könnte. Sie ist davon überzeugt, sie sei diejenige, die eine Strafe verdient.«
»Sie wählen die Bedeutung, die vom Kontext her offensichtlich erscheint«, sagte Poirot. Er klang enttäuscht. »Fragen Sie sich jetzt, ob diese Worte ›Ach, bitte, niemand darf den Mund öffnen‹ nicht eher etwas anderes bedeuten müssten. Denken Sie an Ihre drei goldenen Manschettenknöpfe.«
»Das sind nicht meine!«, sagte ich mit Nachdruck und wünschte in dem Moment, ich könnte den ganzen Fall weit von mir schieben. »Na schön, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber …«
»Was verstehen Sie?«
»Na ja … ›bitte, niemand darf den Mund öffnen‹ könnte, mit viel gutem Willen, auch bedeuten: ›Bitte lassen Sie nicht zu, dass irgendjemand die Münder der drei Mordopfer im Bloxham Hotel öffnet.‹« Ich kam mir wie ein Idiot vor, diese hanebüchene Theorie auszusprechen.
»Exactement! ›Bitte lassen Sie nicht zu, dass irgendjemand ihre Münder öffnet und die goldenen Manschettenknöpfe mit den Initialen PIJ findet!‹ Ist es nicht möglich, dass Jennie in Wirklichkeit das meinte? Dass sie von den drei Morden im Hotel wusste und dass sie wusste, dass der Mörder es auch auf sie abgesehen hatte?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, spann Poirot seine Idee weiter. »Und die Buchstaben PIJ, die Person, die diese Initialen hat, sie spielt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte, n’est-ce pas? Jennie weiß das. Sie weiß, wenn Sie diese drei Buchstaben finden, dann sind Sie auf dem besten Weg, auch den Mörder zu finden, und das will sie verhindern. Alors, Sie müssen ihn fassen, bevor es für Jennie zu spät ist, denn andernfalls wird Hercule Poirot es sich niemals verzeihen!«
Ich erschrak, als ich das hörte. Ich verspürte ohnehin schon etwas wie eine moralische Verpflichtung, diesen Mörder zu fassen, und wollte nicht auch noch dafür verantwortlich sein, dass Poirot sich irgendetwas niemals verzieh. Betrachtete er mich als einen Mann, der die Fähigkeit besaß, einen Mörder mit einer derartigen Psyche zu überführen – einer Psyche, die auf die Idee verfiel, Toten Manschettenknöpfe mit Initialen in den Mund zu legen? Ich bin schon immer ein geradliniger Mensch gewesen, und am besten komme ich mit geradlinigen Problemen zurecht.
»Ich glaube, Sie müssen ins Hotel zurück«, sagte Poirot. Er meinte stante pede.
Ich erschauderte bei der Erinnerung an diese drei Zimmer. »Morgen früh ist früh genug«, sagte ich, dem Blick seiner funkelnden Augen geflissentlich ausweichend. »Ich sollte Ihnen der Ehrlichkeit halber sagen, dass ich nicht beabsichtige, mich zum Narren zu machen, indem ich diese Jennie ins Spiel bringe. Das würde nur alle verwirren. Sie sind auf eine mögliche Bedeutung von Jennies Aussage gekommen und ich auf eine andere. Ihre ist interessanter, aber meine ist mit zwanzigfacher Wahrscheinlichkeit die richtige.«
»Ist sie nicht«, widersprach er.
»Dann werden wir darüber unterschiedlicher Meinung bleiben müssen«, sagte ich bestimmt. »Wenn wir hundert Leute fragten, würden sie, wie ich vermute, alle mir und nicht Ihnen recht geben.«
»Das vermute ich auch.« Poirot seufzte. »Gestatten Sie mir, Sie dennoch, wenn ich kann, zu überzeugen. Im ersten Moment ist auch mir, wie ich gestehen muss, die richtige Deutung nicht eingefallen. Dies mag zum einen daran liegen, dass mir der, wie ich behaupte, eigentliche Kontext von Jennies Aussage – der Dreifachmord im Bloxham Hotel – nicht bekannt war. Vor allem aber muss ich mir selbst die Schuld daran geben, besser gesagt: meiner trotz allem unvollkommenen Kenntnis der englischen Sprache, die …«
»Oh, Ihr Englisch ist ganz hervorragend!«, beeilte ich mich, ihm zu versichern.
»Danke, mon ami, ich schmeichle mir in der Tat, die Feinheiten der englischen Grammatik recht zufriedenstellend zu beherrschen. Jedoch offenbart sich der wahrhaft große Geist im Bewusstsein der eigenen Grenzen, und selbst ein Hercule Poirot muss solche anerkennen. Was mir mitunter noch immer Schwierigkeiten bereitet, ist jener Bereich der englischen Sprache, der sich jeglicher Ordnung und Gesetzmäßigkeit entzieht: Ich spreche von der Idiomatik.«
An dieser Stelle muss mein Blick schon etwas Glasiges gehabt haben, denn Poirot sagte beschwichtigend:
»Entschuldigen Sie, mon ami, ich komme sofort zu meinem eigentlichen Argument. Nun – wir haben bislang beide so getan, als hätte Jennie gesagt: ›bitte, möge doch niemand den Mund aufmachen‹; was sie aber sagte, war: ›den Mund öffnen‹! Hierin liegt ein kleiner, aber entscheidender Unterschied, und es wundert mich doch ein wenig, dass er Ihnen als gebürtigem Engländer mit guter Schulbildung nicht gleich aufgefallen ist!«
»›Aufmachen‹, ›öffnen‹, ich bitte Sie, Poirot – das ist doch Jacke wie Hose!«
»Im wörtlichen Sinne ja – wenngleich ich persönlich es stets vorziehe, eine Tür zu öffnen, und nicht etwa, sie ›aufzumachen‹. Aber stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie hätten es mit einem verstockten Verdächtigen zu tun: Würden Sie ihn im Verhör vielleicht auffordern, ›endlich den Mund zu öffnen‹? Sehen Sie? Mademoiselle Jennie verwendete aber dieses Verb, und da sie in ihrer ganzen Rede bewies, dass sie eine gepflegte Ausdrucksweise und ein umfangreiches Vokabular besitzt – so verwendete sie etwa mir gegenüber im Zusammenhang mit ihrem Tod, ihrer Ermordung, das Wort ›unausweichlich‹ –, behaupte ich, Hercule Poirot, dass sie niemals gesagt hätte, ›niemand darf den Mund öffnen‹, wenn sie damit meinte, ›niemand darf der Polizei gegenüber etwas sagen, was zur Ergreifung des Täters führen könnte‹. Voilà!«
Ich starrte ihn mit schmerzendem Nacken von unten herauf an, zu verwirrt und zu erschöpft, um etwas zu erwidern. Hatte er mir nicht selbst gesagt, dass Jennie schier kopflos vor Angst gewesen war? Nach meiner Erfahrung pflegen Menschen in Todesangst ihre Worte eher selten auf die Goldwaage der Grammatik oder meinetwegen der »Idiomatik« zu legen!
Ich hatte Poirot stets für einen der intelligentesten Menschen überhaupt gehalten, aber möglicherweise hatte ich mich geirrt. Wenn dieser ausgemachte Unfug eine Probe seines Scharfsinns sein sollte, dann war es kein Wunder, dass er zu der Überzeugung gelangt war, seine »kleinen grauen Zellen« bräuchten eine längere Erholungspause.
»Natürlich werden Sie mir jetzt sagen, dass Jennie in Panik war und deswegen nicht auf ihre Ausdrucksweise achtete«, fuhr Poirot fort. »Doch es ist auffällig, dass Jennie, außer in diesem einen Fall, durchweg grammatikalisch und idiomatisch korrekt sprach – es sei denn, ich habe recht und Sie unrecht, weil sie dann ausnahmslos richtige Sätze verwendete!«
Er klatschte in die Hände und schien von seiner abschließenden Feststellung so befriedigt zu sein, dass ich nicht umhinkonnte, ziemlich scharf zu entgegnen: »Wunderbar, Poirot. Ein Mann und zwei Frauen sind ermordet worden, und es ist meine Aufgabe, die Sache aufzuklären, aber ich freue mich natürlich wie ein Schneekönig zu erfahren, dass Jennie, wer immer sie auch sei, sich selbst unter schwerster psychischer Belastung keine sprachlichen Schnitzer zuschulden kommen ließ.«
»Und Poirot ist gleichfalls froh wie ein Schneekönig«, sagte mein schwer zu entmutigender Freund, »weil ein kleiner Fortschritt gelungen ist, eine kleine Entdeckung. Non.« Sein Lächeln verflog, und seine Miene wurde ernster. »Mademoiselle Jennie verwendete nicht das falsche Verb. Was sie sagen wollte, war: ›Bitte lassen Sie nicht zu, dass jemand die Münder der drei Ermordeten öffnet.‹«
»Wenn Sie darauf bestehen«, brummelte ich.
»Morgen nach dem Frühstück werden Sie wieder ins Bloxham Hotel gehen«, sagte Poirot. »Ich sehe Sie dann später dort, nachdem ich nach Jennie gesucht habe.«
»Sie?«, sagte ich einigermaßen beunruhigt. Worte des Protests nahmen in meinem Kopf Gestalt an, aber ich wusste, sie würden nie Poirots Ohr erreichen. Berühmter Detektiv hin oder her, seine bisherigen Ideen zu dem Fall waren, ganz ehrlich, lachhaft gewesen, aber wenn er mir seine Gesellschaft anbot, würde ich sie nicht ausschlagen. Er war sehr selbstsicher, und ich war es nicht – damit war die Situation auf den Punkt gebracht. Schon spürte ich, welchen Auftrieb mir sein Interesse gab.
»Oui«, sagte er. »Drei Morde sind verübt worden, die ein äußerst ungewöhnliches Merkmal gemeinsam haben: den monogrammierten Manschettenknopf im Mund. Ganz gewiss werde ich ins Bloxham Hotel kommen!«
»Hieß es nicht, Sie müssten intellektuelle Reize meiden und Ihrem Gehirn etwas Ruhe gönnen?«, fragte ich.
»Oui. Précisément.« Poirot funkelte mich an. »Es ist für mich kein Ausruhen, den ganzen Tag in diesem Sessel zu sitzen und daran zu denken, dass Sie niemandem von meiner Begegnung mit Mademoiselle Jennie erzählen – einem Detail von allergrößter Wichtigkeit! Es ist für mich kein Ausruhen, mir vorzustellen, dass Jennie durch London irrt und ihrem Mörder jede Gelegenheit bietet, sie zu töten und ihr seinen vierten Manschettenknopf in den Mund zu legen.«
Poirot beugte sich in seinem Sessel vor. »Bitte sagen Sie mir, dass Ihnen wenigstens dieser Gedanke schon gekommen war: dass Manschettenknöpfe immer paarweise auftreten? In den Mündern der Toten im Bloxham Hotel haben Sie drei. Wo ist der vierte, wenn nicht in der Tasche des Mörders, wo er darauf wartet, in den Mund Mademoiselle Jennies zu gelangen, sobald auch sie tot ist?«
Ich muss gestehen, ich lachte. »Poirot, das ist schlicht blühender Blödsinn. Ja, Manschettenknöpfe treten in der Tat normalerweise paarweise auf, aber die Sache ist ganz simpel: Er wollte drei Menschen töten, also verwendete er lediglich drei Manschettenknöpfe. Sie können keinen hypothetischen vierten Manschettenknopf dazu verwenden, irgendetwas zu beweisen – mit Sicherheit nicht einen Zusammenhang zwischen den Hotelmorden und dieser Jennie.«
Poirots Gesicht hatte einen störrischen Zug angenommen. »Wenn Sie ein Mörder sind, der beschließt, Manschettenknöpfe zu diesem Zweck zu verwenden, mon ami, dann legen Sie den Gedanken an das Paar, an die Zweiheit nahe. Es ist der Mörder, der uns die Idee des vierten Manschettenknopfes und des vierten Opfers in den Kopf gesetzt hat, nicht Hercule Poirot!«
»Aber … woher wissen wir dann, dass er nicht sechs Opfer im Auge hat oder acht? Wer kann ausschließen, dass die Tasche dieses Mörders fünf weitere Manschettenknöpfe mit dem Monogramm PIJ enthält?«
Zu meiner Verblüffung nickte Poirot und sagte: »Das ist ein gutes Argument.«
»Nein, Poirot, das ist kein gutes Argument«, sagte ich mutlos. »Das habe ich mir nur so aus dem Stegreif ausgedacht. Sie mögen Freude an meinen Spinnereien haben, aber meine Vorgesetzten bei Scotland Yard, das versichere ich Ihnen, mit Sicherheit nicht.«
»Ihre Vorgesetzten mögen es nicht, dass Sie das Mögliche in Betracht ziehen? Nein, natürlich nicht«, beantwortete sich Poirot die Frage selbst. »Und das sind die Leute, denen die Aufgabe anvertraut ist, diesen Mörder zu fassen! Die – und Sie. Bon. Und ebendeswegen muss Poirot morgen ins Bloxham Hotel gehen.«