Читать книгу Die letzte Sinfonie - Sophie Oliver - Страница 4
Kapitel 2 – Mayfair – Lord Philip
ОглавлениеNicht viele Londoner Stadthäuser konnten sich damit rühmen, über einen eigenen Konzertsaal zu verfügen. Ballsäle, ja. Billardzimmer, Orangerien, Bibliotheken, selbstredend. Tiermenagerien und andere Überspanntheiten hoben die reichen Exzentriker sich für ihre Landhäuser auf. Und konzertante Veranstaltungen fanden üblicherweise in Gärten, auf Terrassen oder in einem der zahlreichen ohnehin vorhandenen Räume statt. Niemand baute deswegen gleich ein privates Theater. Außer Fletcher Markward, finanzkräftiger Förderer der schönen Künste. In seinem Palais in Mayfair gab es eine Bühne, die bei Schauspielern, Musikern sowie dem Publikum keine Wünsche offenließ. Markwards Vermögen war ererbt. Es stammte aus Afrika. Diamantminen. Oder Gold? Lord Philip erinnerte sich nicht daran, womit Markwards Großvater, ein einfacher Mann ohne Titel und Herkunft, reich geworden war. Der Mittsechziger selbst war im Luxus aufgewachsen, und hatte keinen einzigen Tag seines Lebens gearbeitet. Lieber gab er sein Geld mit beiden Händen aus, was ihm einen Harem an Schmarotzern und Schöntuern bescherte, der ihn auf Schritt und Tritt umschwirrte wie Fliegen einen Kothaufen.
Er tat Lord Philip leid. Nie konnte er sich sicher sein, ob er wegen seines Geldes oder seines Charakters gemocht wurde. Aber er hatte sich selbst in diese Lage manövriert. Was sprach dagegen, in vornehmem Understatement zu leben? Markward war ein unruhiger Geist, ständig darauf aus, neue Talente zu entdecken und sich deren immerwährende Dankbarkeit zu sichern. Vor allem dann, wenn sie es zu Ruhm und Ehre gebracht hatten. Was sich bei dem Mäzen nie einstellte, war ein Zustand der Zufriedenheit. In Philips Augen ein häufiges Problem derer, die zu schnell an Geld gekommen waren. Sie standen unter dem Zwang, nach außen hin etwas darstellen zu müssen. Was illusorisch und äußerst anstrengend war, denn die wankelmütige Masse – sogar die der sozial Gleichgestellten – änderte ihre Präferenzen unablässig. Wer heute als à la mode galt, konnte morgen schon wieder reizlos sein. Alten Familien hingegen war egal, was jeder Tom, Dick and Harry über sie dachte. Sie hatten Traditionen, die ihnen Würde aufzwangen. Jahrhundertealte Landsitze, Burgen und Schlösser, die bewahrt werden mussten und Zeit und Unsummen verschlangen, was wiederum für Beschäftigung sorgte. Und wenn man sich wie Philip als Vorsitzender eines detektivisch tätigen Herrenclubs für einen anderen Weg entschied, kannte man die Gebräuche, mit denen man brach. Ein Zurückfallen darauf war jederzeit möglich.
»Lord Philip«, begrüßte Markward ihn mit Bassstimme, in der ein weicher südafrikanischer Akzent mitschwang. »Was für eine Freude, dass Sie es heute Abend einrichten konnten. Noch dazu in reizender Begleitung.« Er war ein imposanter Mann. Das graumelierte Haar aus der breiten Stirn gekämmt, überragte er all seine Gäste. Sein Handschlag war fest und als er lächelte, entblößte er eine Reihe perfekter Zähne, die ein wenig zu weiß strahlten, um echt zu sein.
Nachdem Philip Annabel vorgestellt hatte, die in ihrem nachtblauen Abendkleid wahrhaft atemberaubend aussah, meinte sie: »Wenn Tschaikowski gespielt wird, kann ich nicht widerstehen. Ich bin eine große Bewunderin seiner Kunst und besonders das heutige Programm hat es mir angetan.«
Markward nickte schwärmerisch. »Ja, die vierte Sinfonie. Faktum, Schicksal, hat der Meister sie genannt. Und wie treffend ist dieser Name. Mir ist klar, dass sie den Rahmen eines bescheidenen Hauskonzerts etwas sprengt, aber ich habe mir persönlich vom Dirigenten gewünscht, dass sie Teil der Europatournee ist.«
Das Boston Orchestra, in unablässiger Konkurrenz zum Boston Symphony Orchestra und chancenlos dagegen aus dessen übermächtigem Schatten zu treten, war Markwards neueste Entdeckung. Er bezahlte die Konzertreise und hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Ensemble endlich europaweit bekannt zu machen. Dazu hatte er an diesem Abend die Spitze der Londoner Gesellschaft geladen. Lord Philip wusste, dass es sich bei den Musikern um eine begabte Truppe aus unterschiedlichen Ländern handelte. In einem eigens aufgelegten Heft, das Markward seinen Gästen vorab hatte zukommen lassen – ebenso wie der Presse – stellte er die Künstler und deren bisherigen Werdegang vor. Mit Interesse hatte Philip vernommen, dass der Dirigent, Raphael Wilfried, ein in die Vereinigten Staaten ausgewanderter Brite war. Was dort besser sein sollte als in England, fragte sich der Vorsitzende des Sebastian Clubs zwar, aber möglicherweise ergab sich nach dem Konzert die Gelegenheit zu einem Plausch, bei dem er nachfragen konnte.
Markwards Konzertsaal beeindruckte ihn. Allein im Parkett fanden an die sechzig Personen Platz, dazu kamen die beiden umlaufenden Ränge.
»Es wundert mich, dass er sich keine Königsloge hat einbauen lassen«, flüsterte Annabel Lord Philip zu.
»Dafür hat er bei der Ausstattung an Opulenz nicht gespart.« Er wies auf die kristallenen Lüster und den üppigen Stuck. Sie saßen auf ihren Plätzen und ließen das Sehen und Gesehen werden über sich ergehen. Das Ehepaar Shrewsbury, zwei Reihen links hinter ihnen, steckte die Köpfe zusammen und tuschelte, dabei warfen sie auffällige Blicke in ihre Richtung. Lord Philip, der sie aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, grüßte freundlich. Die Tochter der Shrewsburys hatte sich eine Zeit lang darum bemüht, ihn in den Hafen der Ehe zu steuern, sich aber zügig umorientiert, als ihre Anstrengungen nicht zielführend waren. Er hatte gehört, dass Mabel mittlerweile nicht nur verheiratet, sondern Mutter eines kleinen Sohnes war.
Endlich wurde die Beleuchtung gedimmt.
Im Dunkel des Zuschauerraums nahm Lord Philip Annabels Hand und drückte sie sanft. Der Moment, bevor das Orchester einsetzte, war wie ein tiefes Atemholen. Gespannte Stille legte sich über alle Anwesenden, der Dirigent hob mit theatralisch zackiger Geste den Taktstock und die bombastischen Klänge der Blechbläser eroberten augenblicklich den Raum. Hörner, Posaunen und Trompeten bildeten den Auftakt. Die Holzbläser übernahmen und ein ruhigerer Musikfluss stellte sich ein, bis schließlich die Streicher in karamellweicher Nostalgie an die russische Seele des Komponisten erinnerten, die in jedem einzelnen Takt spürbar war.
Annabel Arnholtz, den Blick gebannt nach vorne gerichtet, schien kaum zu atmen. Im Profil sahen ihre gerade Nase und die hohe Stirn besonders klassisch aus, wie die Renaissanceschönheiten der italienischen Maler. Sie genoss die Musik und Lord Philip fand ihren Gesichtsausdruck dabei geradezu sinnlich. Zwei Plätze weiter saß Lew Melnikow, ein Exilrusse und Künstler, der seit Jahrzehnten in London lebte. Er wischte sich verstohlen eine Träne weg. Sodann richtete auch Lord Philip seine Aufmerksamkeit vollends auf die Bühne und genoss die Mischung aus Glück und Schwermütigkeit des ersten Satzes. Die Musiker spielten brillant, es war eine Freude, ihnen zuzuhören.
Zu Beginn des zweiten Satzes, gerade als das Solo der Oboe endete und vom Orchester wieder aufgegriffen wurde, sprang einer der Trompeter unvermittelt von seinem Platz auf und ließ sein Instrument fallen. Er torkelte ein paar Schritte, stieß dabei seinen Notenständer um und kippte gegen den ersten Klarinettisten, an dem er sich abstützte. Er fasste nach Luft ringend an seine Brust. Die anderen Musiker bemerkten, dass etwas nicht in Ordnung war und der Wohlklang der Töne verwandelte sich in Chaos. In Panik oder Schmerz, von seiner Position aus konnte Lord Philip es nicht exakt benennen, stolperte der Trompeter weiter durch die Reihen der Holzbläser. Als auch der letzte Musiker sein Instrument erschrocken sinken ließ, brach der Mann auf Höhe der Bratschen mit einem lauten Gurgeln auf dem Bühnenboden zusammen und blieb liegen. Es wurde noch stiller als zu Beginn des Konzerts.
Einem Augenblick der Schockstarre folgte Tumult, der ähnlich unisono losbrach, wie zuvor die Musik, gerade so, als hätte der Dirigent den Einsatz dazu gegeben. Zwei seiner Kollegen versuchten dem Trompeter zu helfen, sie beugten sich über ihn, um ihm aufzuhelfen. Was ihnen nicht gelang, denn er schien das Bewusstsein verloren zu haben. Fletcher Markward erklomm die Bühne und tastete nach einem Puls, zuerst am Handgelenk, dann am Hals. Mit Schweiß auf der Stirn lief er nach vorne an den Bühnenrand und spähte hinab in den Zuschauerraum, bis sein Blick auf den von Lord Philip traf. Er winkte den Vorsitzenden des Sebastian Clubs zu sich. Auch Annabel blieb nicht auf ihrem Platz, sondern kämpfte sich mit ihm durch die wild durcheinanderredenden Menschen. Das gestaltete sich kompliziert, denn mittlerweile waren die meisten Zuschauer aufgestanden, verstopften die Durchgänge und Reihen oder drängten nach vorne, um besser sehen zu können.
Von der Bühne aus winkte Mister Markward nun seinem Personal, das jedoch am entgegengesetzten Ende des Konzertsaals keine Chance hatte, zu ihm vorzudringen.
»Ruhe!«, brüllte er schließlich über die Köpfe aller hinweg. Und dann noch einmal, »Ruhe, Ladies und Gentlemen, ich bitte Sie!«
Das Licht ging endlich an und tatsächlich verebbte das Stimmengewirr so weit, dass der Hausherr weitersprechen konnte.
»Offensichtlich handelt es sich hier um einen Notfall, der meine Aufmerksamkeit braucht. Aber seien Sie beruhigt, ein Arzt ist bereits unterwegs. Ich bin mir sicher, die Situation wird sich in Kürze klären. Ich darf Sie bitten, meinem Personal hinüber in den Salon zu folgen, wo Erfrischungen gereicht werden.«
Es dauerte etwas, bis sich der Saal soweit geleert hatte, dass Lord Philip und Annabel auf die Bühne klettern konnten.
Die Musiker hatten einen Kreis um den Bewusstlosen gebildet. Einzig Dirigent Wilfried stand wie versteinert hinter seinem Pult, den Taktstock noch immer in der Hand und die schreckgeweiteten Augen auf den Tumult gerichtet.
»Welchen Arzt haben Sie informiert?«, fragte Lord Philip.
Fletcher Markward schob einen Geiger zur Seite, um Platz für ihn zu machen. »Keinen, wo denken Sie hin? Das habe ich nur gesagt, um für Ruhe zu sorgen.«
Lord Philip kniete sich auf den Boden und kontrollierte ebenfalls zuerst den Puls des Trompeters. »Wenn Sie möchten, schicke ich nach Doktor Pebsworth. Er wohnt in der Nähe und ist sehr diskret. Allerdings wird er für den bedauernswerten Herrn hier nichts mehr tun können, denn er ist tot.«
Markward nickte.
»Ich werde auch gleich Chief Inspector Woodard von Scotland Yard alarmieren«, setzte Lord Philip hinzu.
Er ließ Annabel kurz allein, um die beiden Telefonate zu führen. Als er zurückkam, saß sie inmitten der Musiker, die sich mittlerweile, wahrscheinlich auf Geheiß von Markward, im Zuschauerraum niedergelassen hatten. Er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, und verharrte selbst wartend am Bühnenrand.
Außer Atem und mit zerzaustem Haar traf Doktor Pebsworth wenig später ein. Sicher war er mit überhöhter Geschwindigkeit durch Londons Straßen gebraust.
»Wie heißt der Mann?«, fragte er, nachdem er den Trompeter untersucht hatte.
»Carl Belami«, antwortete Raphael Wilfried von seinem Platz in der ersten Reihe. Er hatte sich wohl wieder gefangen.
»Und Sie sind der Dirigent?«
»Dirigent und Generalmusikdirektor.«
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Mister Belami höchstwahrscheinlich keines natürlichen Todes starb.«
Markward stieß einen erstickten Laut aus, Wilfried schlug eine Hand vor den Mund und ein Raunen ging durch die wartenden Musiker. Wie zu erwarten, wirkten alle erschüttert. Besonders ein dunkelhaariger Herr mit rundem Gesicht und dicken Lippen machte einen betroffenen Eindruck. Mit geschultem Blick erfasste Lord Philip die zitternden Hände, die eine Posaune umklammert hielten. Irgendwie kam er sich vor wie in einem Theaterstück, einer Inszenierung.
Doktor Pebsworth schnupperte am Leichnam und unterzog ihn einer eingehenden Musterung, sein Kollege sah ihm dabei zu. Der Tote war sicherlich nicht älter als Mitte vierzig gewesen, groß und von schlanker Statur, mit gepflegt gestutztem Vollbart, dichtem Haar und einer dominanten Nase. Als er mit seiner Beschau fertig war, winkte er Lord Philip zu sich.
»Gift?«, fragte der leise.
Der Arzt nickte. »Ich vermute Arsen, aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Darüber hinaus hat noch eine Darmentleerung stattgefunden, im Augenblick als der Muskeltonus erstarb.«
Der Auftritt von Chief Inspector Alwin Woodard, im wallenden Mantel, den Hut in die Stirn gezogen und mit ein paar uniformierten Polizisten im Schlepptau, läutete gewissermaßen den zweiten Akt ein. Wie immer sah der Beamte zerknautscht aus, an diesem Abend mehr noch als sonst, fand Lord Philip. Mit Tränensäcken und blutunterlaufenen Augen machte er einen geradezu miserablen Eindruck.
»Meine Tochter und ihr Mann sind zu Besuch«, raunte er zur Begrüßung, den Blick seines Gegenübers korrekt deutend. »Zusammen mit meinem Enkelkind. Der Junge ist vier Monate alt und hat ständig Blähungen, er schläft so gut wie überhaupt nicht. Genau wie wir.«
Lord Philip klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter und erklärte rasch die Situation. Woodard notierte mit, runzelte dann die Stirn und fragte: »Und warum, meine Herren, sind Sie schon wieder vor Ort?«
»Mister Markward hat mich und Mrs Arnholtz zum Konzert geladen. Ich habe Doktor Pebsworth informiert, als Mister Belami kollabiert ist.«
Woodard kniff die Augen zusammen und warf einen Blick in den Zuschauerraum. »Aha. Mrs Arnholtz. Ist sie tatsächlich nur als Ihre Begleitung hier? Oder steht zu befürchten, dass der Sebastian Club eine weitere weibliche Ermittlerin aufnimmt?« Er stieß ein amüsiertes Grunzen aus, als Lord Philip rasch verneinte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen nickte der Chief Inspector sodann dem Doktor zu.
»Vermutlich vergiftet«, erklärte der. »Ich würde auf Arsenik tippen, lasse mich aber gerne von Ihrem Pathologen eines Besseren belehren.«
Woodard seufzte. »Es wird sicher nicht notwendig sein, dass Sie die Mitarbeiter von Scotland Yard stören. Ab hier übernehmen wir. Banes!«, er winkte einen der Uniformierten heran. »Begleiten Sie die Musiker in die Garderobe und passen Sie auf, dass niemand abhandenkommt. Das schließt den Dirigenten mit ein. Ich werde einen nach dem anderen vernehmen, wenn es an der Zeit ist. Das Publikum«, er winkte nachlässig in Richtung Salon, »kann nach Hause gehen. Wird lang genug dauern, ein ganzes Orchester zu verhören.«
»Wir reisen kommende Woche weiter nach Karlsbad«, warf Mister Wilfried ein. »Auch wenn es pietätlos klingt, aber wir sind auf Europatournee, die Säle sind gebucht, die Konzertkarten verkauft, wir müssen uns an unseren Zeitplan halten.«
»Wie der aussieht, werde ich Ihnen mitteilen, sobald ich mir ein Bild von der Sachlage gemacht habe«, schnappte Woodard.
Die Musiker entfernten sich. Einzig der Leichnam blieb inmitten von leeren Stühlen liegen, als wäre er Teil eines dramatisch inszenierten Bühnenbilds. Und Annabel, die letzte Zuschauerin des makaberen Spiels, saß auf ihrem Platz und wartete auf Lord Philip.
»Sie können gehen, meine Herren. Und Dame. Falls ich Fragen an Sie habe, weiß ich, wo Sie zu finden sind.« Die Laune des Inspektors war ebenso angegriffen wie sein Aussehen. Es kam ihm klar ungelegen, am Samstagabend zu einem Mord gerufen zu werden. Er widmete seine Aufmerksamkeit dem Gastgeber und drehte Lord Philip demonstrativ den Rücken zu.
»Dann fange ich mal mit Ihnen an. Sie sind Fletcher Markward und dies ist Ihr Haus und Ihre Bühne?«
Es machte keinen Sinn, länger hierzubleiben. Woodard würde nur noch unleidiger werden.
»Warum hast du die ganze Zeit über geschwiegen? War es sehr erschreckend für dich?«, fragte Lord Philip Annabel im Wagen. Der Doktor fuhr sie nach Hause.
»Nein, ich fand es aufregend. Tragisch, natürlich, aber in meinem früheren Leben in Whitchapel habe ich weiß Gott Schlimmeres gesehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, warf der Doktor ein.
»Ehrlich gesagt hatte ich den Eindruck, es wurde von mir erwartet, dass ich mich im Hintergrund halte.« Annabel klammerte sich an den Sitz, als der Wagen holpernd um eine Kurve bog. »Es wäre von den Herren sicherlich nicht gut aufgenommen worden, hätte ich als einzige anwesende Dame das Wort ergriffen.«
Tatsächlich waren außer ihr nur Männer im Konzertsaal gewesen, nachdem das Publikum hinausbefördert worden war. Philip war das nicht aufgefallen, weil er sich zu sehr auf den Todesfall konzentriert hatte. Manchmal kam er sich vor wie ein Bluthund. Sobald es um Mord ging, legte sich in seinem Kopf ein Schalter um, seine Gedanken fokussierten sich und er setzte alles daran, dem Täter auf die Spur zu kommen. Dabei war es die Jagd nach dem Mörder, die ihm am meisten Spaß machte. Er genoss es, wenn sich sein Puls beschleunigte, sobald er Indizien wie Puzzlesteine zusammenfügte. Und er war davon überzeugt, dass Carl Belami einen gewaltsamen Tod gefunden hatte.
»Wer war der Herr neben dir, Annabel? Der mit der Pomadefrisur, der unablässig auf dich eingeflüstert hat?«
»Mister Verbier. Er spielt die zweite Trompete. Und dachte wohl, ich wäre ein verschrecktes Weibchen, das Beistand braucht. Oder vielleicht hat ihn der Vorfall auch selbst derartig schockiert, dass er Redebedarf hatte.«
»Er schien sehr an dir interessiert zu sein.«
Sie lächelte amüsiert. »Das konntest du beobachten, während du mit einer Leiche beschäftigt warst?«
»Es war unübersehbar. Hat er nicht sogar versucht, deine Hand zu halten?«
Nun verzog sie das Gesicht. »Ja. Um mich zu beruhigen, meinte er. Aber wie gesagt, dafür hatte ich keinen Bedarf und ich lasse mich auch nicht von fremden Männern anfassen. Das habe ich ihm klar gemacht. Ab dann schwieg er. Wenig später hat er den Platz gewechselt. Aber auch das ist dir bestimmt nicht entgangen.«
»Wie sicher sind Sie sich bezüglich der Todesursache, Doktor?« Lord Philip wechselte das Thema.
Der Fahrtwind pfiff durchs offene Fahrzeug. Sie fuhren an der Themse entlang stadtauswärts, über ihnen leuchtete ein blassgelber Vollmond, der sich auf dem Wasser spiegelte und sie zu begleiten schien.
»Dass er vergiftet wurde, steht außer Frage. Bei der Art des Giftes bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, da müsste ich ein paar Tests machen. Was mir Scotland Yard mitnichten gestatten wird, wie wir alle wissen. Also wären wir darauf angewiesen, dass uns irgendjemand Einsicht in den Obduktionsbericht gewährt.« Sie saßen eng aneinandergedrängt auf der einzigen Sitzbank des Automobils und Doktor Pebsworth warf Lord Philip einen kurzen Seitenblick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Möchten Sie, dass ich nachhake?«
»Nein. Wir haben keinen Ermittlungsauftrag. Das kann Woodard sicher prima alleine lösen, lassen Sie ihn nur.«
Wie falsch er mit dieser Annahme lag, erfuhr Lord Philip gleich am nächsten Tag, als ein erboster Fletcher Markward im Clubhaus vorsprach und sich lautstark über das Unvermögen von Scotland Yard und Chief Inspector Woodard ausließ. Und die Gentlemenermittler bat, sich der Sache anzunehmen.
»Wie stehe ich denn da?«, klagte er. »Ein spektakulärer und noch dazu dubioser Todesfall in meinem Haus! Während eines Konzerts! Das muss schnellstens aufgeklärt werden.« Er senkte die Stimme. »Lady Treadwell ist in Ohnmacht gefallen und Mister Connelly-Smith hat sich derart aufgeregt, dass ihm seine Herztropfen verabreicht werden mussten. Vor allen Leuten im Salon. Stellen Sie sich das Gerede vor, den Klatsch. Entsetzlich, ganz entsetzlich.«
Ein Gefühl von Genugtuung ließ Lord Philip lächeln. Die ganze Nacht über hatte er spekuliert, was hinter dem Tod des Trompeters stecken könnte. Sein Dahinscheiden war wahrhaft spektakulär gewesen, das sah Mister Markward richtig. Es würde ein interessanter Fall werden.
»Wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung«, informierte er sein Gegenüber.