Читать книгу Die letzte Sinfonie - Sophie Oliver - Страница 7
Kapitel 5 – Middlesex – Freddie
Оглавление»Wie großzügig von deinem Onkel, uns alleine ermitteln zu lassen. Für gewöhnlich passt er auf wie ein Schießhund, damit ich dir nicht zu nahe komme.« Crispin beugte sich in der schaukelnden Kutsche zu Freddie und küsste sie. Als sie durch ein Schlagloch rumpelten, wurden sie auseinandergeschleudert und mussten lachen.
»An seiner Stelle wäre ich auch vorsichtig«, antwortete sie neckisch. »Wo wir doch bei jeder Gelegenheit übereinander herfallen.«
»Wenn es nur so wäre!« Er verdrehte theatralisch die Augen und sah dabei sehr jungenhaft aus. »Aber mal ehrlich, Freddie. Wir wissen beide, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Irgendwann werde ich eine ehrbare Frau aus dir machen müssen.«
Sie spürte einen nervösen Stich im Magen, wie immer, wenn das Thema auf ihre unkonventionelle Beziehung kam. Crispin machte zwar gern Scherze darüber, doch ginge es nach ihm, wären sie längst verheiratet. Freddie wusste, dass er lediglich aus Angst vor Zurückweisung die alles entscheidende Frage noch nicht gestellt hatte und dafür war sie ihm dankbar. Das Schlimmste, was sie sich vorstellen könnte, wäre nicht mehr ermitteln zu dürfen. Und wer hatte je von einer verheirateten Frau gehört, die einen Beruf ausübte? Noch dazu unter Männern?
Sie ließen die belebten Straßen der Stadt hinter sich und fuhren hinaus nach Harrow, wo sich auf einer Anhöhe eine bekannte Privatschule samt Nebengebäuden breit machte.
Ein Schaudern durchfuhr Crispin, der selbst äußerst ungern im Internat gewesen war und Freddie allenthalben Geschichten von rüden Erziehungsmethoden in derartigen Instituten erzählte. Sie drückte seine Hand.
»Die Harrow School muss sich neben Eton nicht verstecken. Wusstest du, dass Lord Palmerston, ein früherer Premierminister, hier war?« Seine Stimme klang betont forsch. Mit spitzem Finger wies er auf das rote Ziegelgebäude im neugotischen Stil, das die Bibliothek beherbergte und aussah, als wäre es einem düsteren Traum entsprungen. »Das stand zu seiner Zeit noch nicht, es scheint neu zu sein. Gruselig.«
Beide atmeten auf, sobald sie das weitläufige Gelände mit Kapelle und Schülerwohnheimen passiert hatten. Ein kleiner Laubwald trennte es vom benachbarten Anwesen. Als sie in den Waldweg einfuhren, schien noch die Sonne, beim Verlassen erwarteten sie düstere Gewitterwolken und Wind kam auf.
»Der Wetterumschwung kam aber schnell«, murmelte Freddie und war froh, als der Kutscher sie darüber informierte, dass sie so gut wie am Ziel seien. Vorbei an brach liegenden Pferdekoppeln, deren Zaunbretter morsch und zerbrochen waren, führte sie ihr Weg eine von Pappeln gesäumte Allee entlang zum Landsitz von Colonel Ellingford, von dem sie sich Informationen über Professor Brown erhofften.
Genau in dem Augenblick, als sie das Gebäude erblickten, zuckte ein grellgelber Blitz darüber hinweg, der die Kutschpferde zum Scheuen brachte.
»Gütiger Gott, wer will hier wohnen?«, entfuhr es Freddie. »Das sieht noch schlimmer aus als das Internat.«
Die Fassade mit den kleinen Fenstern wurde von treppenartig auf- und absteigenden Dachgiebeln gekrönt, die an eine Zackenkrone erinnerten. Am grauen Stein hatten sich Flechten festgesetzt, was einen verwahrlosten Eindruck machte. Links und rechts des Eingangsportals standen verwitterte Adlerstatuen, ebenfalls grau. Unter dem Dachgesims spähten bröckelnde Gargoyles auf sie herab und Freddie befürchtete, dass jederzeit ein Stück von den Wasserspeiern abbrechen und auf sie herunterfallen könnte.
Da starker Wind über die Vorfahrt blies und kleine Steinchen mit sich fegte, fuhr der Kutscher mit den Pferden um die schützende Hausecke, nachdem sie ausgestiegen waren, und überließ die beiden Detektive ihrem Schicksal.
Niemand öffnete auf Crispins Klopfen. Erst als er den Klingelzug mehrmals betätigt hatte, hörten sie, wie drinnen der Riegel aufgeschoben wurde.
Das Gesicht eines alten Mannes erschien im Türspalt, mit eingefallenen Wangen und einer Nase, spitz wie ein Rabenschnabel.
»Sie wünschen?«
»Mein Name ist Crispin Fox und das ist Miss Westbrook. Wir würden gern Colonel Ellingford sprechen.«
»Haben Sie sich angemeldet?«
»Ja«, log Crispin.
»Das glaube ich nicht. Sonst wüssten Sie, dass der Colonel nicht hier weilt.«
»Was? Oh nein!« Freddie trat vor und rief gegen den Wind an. »Wir müssen ihn sehen. Es handelt sich um eine äußerst wichtige Angelegenheit. Bitte, guter Mann, wo finden wir ihn?«
Ihr flehentlicher Blick rührte wohl den Alten, denn er trat beiseite und ließ sie aus dem losbrechenden Sturm in die Eingangshalle treten. Auf dem Steinboden lagen ausgeblichene Teppiche, an denen deutlich Nagespuren von Mäusezähnen erkennbar waren. Die Tür knarzte beim Schließen und verschluckte das ohnehin spärliche Licht fast gänzlich.
»Der Colonel leidet an der Schwindsucht und hat sich in ein Sanatorium zurückgezogen. Hier in Ridgeway House sind nur noch die Köchin, der Gärtner und ich. Viel zu viele Leute für ein leer stehendes Gebäude«, brummte er.
»Haben Sie eine Adresse für uns? Dann suchen wir Colonel Ellingford dort auf, falls sein Gesundheitszustand dies erlaubt. Sie würden uns sehr weiterhelfen.« Freddie brachte ein Lächeln zustande, obwohl sie in den muffigen Räumen Beklemmung verspürte.
»Hm. Ich muss nachsehen. Warten Sie hier.« Er deutete auf den Boden, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er exakt diese Stelle meinte, an der sie verharren sollten.
Dann schlurfte er davon, warf nach ein paar Metern einen misstrauischen Blick über die Schulter zurück, als wolle er sichergehen, dass seine beiden Besucher nicht heimlich etwas einsteckten.
Sobald er verschwunden war, durchquerte Freddie die Eingangshalle und stieg die große Freitreppe hinauf, die in die oberen Stockwerke führte.
»Was machst du denn?«, zischte Crispin hinter ihr, folgte ihr aber auf dem Fuß.
Sämtliche Möbel waren mit Tüchern verhängt. Nur die Gemälde an den Wänden nicht. Vor dem lebensgroßen Porträt einer Dame stoppte Freddie. Die blonde Schönheit trug ein weißes Kleid mit ausladendem Reifrock. In Händen hielt sie einen Strauß Kornblumen, deren Blau sich in der Farbe der Augen widerspiegelte. Ihr Haar war zu einer Flechtfrisur gesteckt, wie sie zu Zeiten der jungen Königin Victoria in Mode gewesen war. Im Hintergrund hatte der Künstler eine Pferdekoppel gemalt, auf der Fohlen spielten.
»Was erlauben Sie sich! Sie sollten im Eingang warten!«
Ertappt fuhren die Detektive herum. Wie aus dem Boden gewachsen stand der alte Hausdiener hinter ihnen, die grauen Brauen gerunzelt, mit missbilligend geschürzten Lippen, die fast seine Nasenspitze berührten.
»Bitte verzeihen Sie, aber ich habe dieses Meisterwerk entdeckt und konnte nicht anders. Wer ist die Dame und wer hat sie gemalt?«
»Keine Ahnung, wer das gemacht hat. Es ist das Bild von Leonora Ellingford, der Gattin des Colonels.«
»Dürften wir vielleicht mit ihr sprechen?« Freddies Herz pochte aufgeregt.
Der Alte grunzte. »Madam ist seit vielen Jahren tot.« Er drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Hier haben Sie die Adresse, die Sie wollten. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie raus kommen. Ich muss das Haus dicht machen wegen des Sturms.«
Ohne ein weiteres Wort schob er sie zur Tür und ehe sie protestieren konnten, fanden sich die beiden draußen im Regen wieder. Sie riefen nach dem Kutscher, aber offenbar hatte er sich und seine Tiere in Sicherheit gebracht. Kein Wunder, bei diesem Wetter.
»Nächstes Mal fahren wir mit dem Automobil, das haut wenigstens nicht ab, wenn es ein wenig donnert«, schimpfte Crispin. Wie zur Bestätigung krachte es unmittelbar über ihnen.
»Was machen wir jetzt?« Der Regen drang langsam durch Freddies Kleidung und obwohl es nicht kalt war, brauchten sie einen Unterstand.
»Wir haben nicht viele Möglichkeiten, nachdem uns dieser unfreundliche Hausgeist die Tür vor der Nase zugeknallt hat. Lass uns zurück in Richtung Harrow gehen. An der Hauptstraße habe ich ein Inn gesehen. Vielleicht ist man dort gastfreundlicher.«
Das würde mindestens eine halbe Stunde dauern und sie müssten bei dem Unwetter das Wäldchen durchqueren. Kein verlockender Gedanke.
»Oder wir warten einfach im Pferdestall, bis es aufhört zu regnen. Der steht sowieso leer, wie es aussieht.« Freddie wies auf ein Nebengebäude, dessen Tür knarzend in den Angeln schwang.
»Gute Idee!« Crispin ergriff ihre Hand und gemeinsam rannten sie los. Sicher würde niemand der drei Bediensteten im schlimmsten Unwetter nach draußen kommen. Und selbst falls doch, würde Freddie sich keinen Meter mehr bewegen, beschloss sie, als sie auf einem Strohballen niedersank. Die Pferdeboxen waren allesamt verwaist, lediglich der Geruch erinnerte noch an ihre vormaligen Bewohner. Eine Katze hatte sich ein Nest im Stroh gebaut und öffnete kurz die Augen, um die Neuankömmlinge zu mustern. Unbeeindruckt von der menschlichen Störung sowie vom Gewitter, legte sie gleich darauf den Kopf wieder auf die Pfötchen und schlief weiter. Oben in den Dachbalken flatterten Schwalben.
»Zugig«, konstatierte Crispin. »Aber trocken.« Er wollte aus seiner Jacke schlüpfen, um sie Freddie umzulegen.
»Lass nur. Wir sind beide pitschnass, das würde nichts bringen. Aber lieb von dir.«
»Eigentlich sollten wir unsere Sachen ausziehen.«
Sie grinste ihn an. »Ich denke nicht.«
Er gab sich mit einem Schulterzucken geschlagen und streckte sich auf dem Stroh aus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Die Pferdekoppel auf dem Gemälde hatte neue Zäune. Alles sah frisch und sauber aus. Was ist hier geschehen, um das gesamte Anwesen in diesen verwahrlosten Zustand verfallen zu lassen?«
»Es kümmert sich einfach niemand mehr darum, seit der Hausherr weg ist.«
Freddie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Die morschen Bretter, die Leere. Hier herrscht seit vielen Jahren kein glückliches Leben mehr. Ich kann die Trauer förmlich spüren, die von allem ausgeht.«
»Ist das weibliche Intuition oder kannst du das mit Beweisen stützen, Frau Ermittlerin?«
»Du bist schrecklich, Crispin.« Sie warf eine Handvoll Stroh nach ihm. »Überleg doch mal. Ich wette, die verblichene Mrs Ellingford ist die Frau aus den Briefen des Professors. Die waren von einer Nora. Leonora – Nora – das kann kein Zufall sein. Ich habe sie gelesen, es sind eindeutig Liebesbriefe. An Aristotle Brown. Nora und Aristotle waren ein Paar, da bin ich mir absolut sicher. Warum hat sie diesen Colonel geheiratet? Die flachsblonde Farbe der Haarlocke, die wir gefunden haben, passt überdies.« Sie setzte sich kerzengerade hin. »Ich bin davon überzeugt, Leonora Ellingford war Professor Browns große und tragische Liebe, deren Andenken er bis zu seinem Lebensende aufbewahrt hat.«
Crispin runzelte die Stirn. »Weshalb hat er uns als letzten Auftrag erteilt, dieser Geschichte nachzuspüren, was denkst du?«
»Weil sie voller Leid und Schmerz ist. Wäre sie gut ausgegangen, hätte Mrs Ellingford Mrs Brown geheißen. Und wer weiß, vielleicht wäre sie noch am Leben. Möglicherweise hat Colonel Ellingford seine Gattin in einem Eifersuchtsanfall getötet und wir sollen das beweisen.«
»Ach Freddie. Jetzt geht aber wirklich die Fantasie mit dir durch. Komm her. Leg dich zu mir.« Er breitete einen Arm aus und sie kuschelte sich an seine Schulter. Gemeinsam sahen sie hinauf zum Dachgebälk und hörten dem prasselnden Regen zu, zählten die Sekunden zwischen Blitz und Donnerschlag.
»Gut, dass wir uns nicht auf den Weg in den Ort gemacht haben«, murmelte Crispin an Freddies Ohr. »Ist dir kalt, mein Herz? Soll ich dich wärmen?«
Er neigte den Kopf und küsste sie. Als sie seinen Kuss erwiderte, legte er sich auf sie und begann die Knöpfe ihres Oberteils zu öffnen, einen nach dem anderen. Dabei ging er geschickt vor. Er wusste genau, was er tat, und Freddie fand das sehr erregend. Vorsichtig streifte er das Kleid von ihrer Schulter und überzog ihren Hals mit vielen hingehauchten Küssen, was herrliche Schauer über Freddies Rücken jagte. Sie schlang ein Bein um seine Hüfte und zog Crispin näher an sich. Plötzlich erschien ihr seine Idee, die Kleidung auszuziehen, sehr gut.
Nachdem das Gewitter vorüber war und der Kutscher mitsamt Gefährt nicht wieder auftauchte, dauerte es in der Tat länger als eine halbe Stunde, bis Freddie und Crispin das Wäldchen durchquert und das Inn auf der Hauptstraße erreicht hatten. Die Sonne brach durch und verwandelte die Luft in dampfende Schwaden, die aus den Feldern emporstiegen. Freddies Schuhe waren schlammverschmiert, ihr Haar hatte sich in der Feuchtigkeit gekräuselt, aber sie und Crispin trugen ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Sicherlich boten sie einen abenteuerlichen Anblick, als sie das Gasthaus betraten.
Sie baten den Wirt, eine Kutsche zu bestellen und tranken Applecider und Ale, während sie warteten.
»Du siehst bezaubernd aus«, sagte Crispin mit einem verliebten Blick auf Freddie.
Sie strahlte ihn an. »Du auch.«
»Am liebsten würde ich hierbleiben, allein mir dir. Es wäre wundervoll, wenn wir Zeit zu zweit hätten, ohne Verpflichtungen und andere Menschen.«
Da musste sie ihm aus vollem Herzen beipflichten, obwohl sie sich das nicht laut zu sagen getraute. Sie sehnte sich danach, Crispin nicht nur im Rahmen von Ermittlungen zu sehen, sondern ihr Leben mit ihm zu teilen. Eine erschreckende Erkenntnis, mit der sie im Moment so gar nichts anzufangen wusste.
Freddie räusperte sich und zog vorsichtig die vom Regen durchweichte Visitenkarte aus dem kleinen Beutel, der ihr als Handtasche diente.
»Hospital for Consumption and Diseases of the Chest, Brompton«, las sie vor. »Ich fürchte, wir müssen den ganzen Weg wieder zurück. Und wenn ich mir das Vehikel ansehe, das der freundliche Wirt für uns organisiert hat, wird das eine Weile dauern.«
Ungläubig starrten sie aus dem Fenster des Inns auf den wartenden Ochsenkarren, dessen Kutscher, zweifellos ein örtlicher Bauernjunge, fröhlich zu ihnen hereinwinkte.
Sie teilten sich die Ladefläche mit Äpfeln, die der Junge zum Markt brachte, und holperten gemütlich im Schneckentempo zurück in die Stadt. Die Landschaft sah nach dem Gewitter aus wie frisch gewaschen. Zumindest so lange, bis Londons Schlote in Sicht kamen, die Straßen belebter wurden und die Metropole sie verschluckte. Sobald sie ein Hansom Cab vorbeifahren sahen, hielten Crispin und Freddie es an und stiegen um. Natürlich nicht ohne sich zu bedanken und den Jungen für seine Dienste gebührend zu entlohnen.
»Wohin?«, fragte der Kutscher.
Eigentlich sollten sie sich zuerst saubere und trockene Kleidung anziehen und Freddies Haar benötigte dringend Zuwendung. Aber es war mittlerweile später Nachmittag und wenn sie nicht im Club erscheinen wollten, ohne irgendeinen Erfolg präsentieren zu können …
»Fulham Road, Consumption Hospital«, sagten sie wie aus einem Mund.
Das E-förmig in drei Trakten angelegte Gebäude aus roten Ziegeln und Ancaster Kalkstein sah aus wie der feudale Wohnsitz einer wohlhabenden Familie. Umgeben von Gartenanlagen, gekiesten Wegen und Blumenbeeten wies die Fassade auf die Fulham Road. Als das Krankenhaus vor gut fünfzig Jahren errichtet worden war, hatten seine Planer die wohltuende, feuchte Luft im ländlichen Brompton bedacht, die den lungenkranken Patienten Erleichterung verschaffen sollte. Mittlerweile hatte das große London seine Fühler nach dem Vorort ausgestreckt und die Stadt kroch unvermeidlich näher. Trotzdem verströmte das Hospital noch immer eher ein Flair von Sommerfrische als das von unheilbarer Schwindsucht.
Auch im Inneren setzte sich das gehobene Ambiente fort. Freddie und Crispin zeigten sich beeindruckt. Eine Krankenschwester in gestärkter Schürze führte sie durch lichtdurchflutete Gänge auf die hintere Veranda, an die sich weitere Gärten anschlossen.
»Wie nett, dass Sie nach dem Colonel sehen. Da wird er sich freuen, bekommt er doch so selten Besuch.« Etwas abseits von den anderen Patienten saß ein älterer Herr auf einem Rattanstuhl. Obwohl die Sonne in spätnachmittäglicher Milde schien, trug er eine blau-grün karierte Wolldecke über den Schoß gebreitet.
Er war schmal, mit Tränensäcken und einem fahlen Teint, der nur allzu deutlich verriet, wie es um ihn stand. Helle, wässrige Augen musterten sie eingehend.
»Colonel Ellingford«, sprach die Krankenschwester ihn in einer Lautstärke an, als wäre er schwerhörig statt lungenkrank. »Hier ist Ihr Großneffe, der Sie besuchen kommt.« Sie tätschelte seine Schulter und ließ sie dann allein.
Wortlos zeigte der alte Herr auf einen Stuhl. Crispin zog ihn Freddie heran und rückte ihn für sie zurecht. Er selbst blieb stehen.
»Ich kann zwar kaum mehr atmen, aber mein Gehirn funktioniert noch so gut, dass ich mit Sicherheit weiß, dass ich keinen Großneffen habe. Wer sind Sie?«
»Bitte verzeihen Sie unser unangemeldetes Eindringen, Colonel. Mein Name ist Crispin Fox und das hier ist Miss Westbrook. Wir würden Ihnen gern im Auftrag des Sebastian Clubs ein paar Fragen stellen.«
Ein Röcheln drang aus dem Mund des Herrn. »Browns Handlanger? Dachte, der alte Schnüffler ist tot. Will er mich heimsuchen?«
»Hätte er denn einen Grund dazu?«, fragte Freddie.
Ein stechender Blick musterte sie von oben bis unten. Der Colonel war kein warmherziger Mann, das spürte sie nur allzu deutlich. In seinen Augen lag eine allumfassende Kälte, die ihr Schaudern über den Rücken trieb. Wie schrecklich mochte eine Ehe mit ihm gewesen sein? Hatte Nora gelitten?
»Sie waren mit Sicherheit sein Liebling.« Er ignorierte die Frage. »Groß, blond, blauäugig, hübsch. Ganz genau wie …«
»Nora?«
Er zuckte zusammen. »Woher kennen Sie den Namen meiner Frau? Hat Brown von ihr erzählt? Alles Lügen!« Ein Hustenanfall schüttelte seinen Oberkörper und Colonel Ellingford presste rasch ein Taschentuch vor den Mund.
»Was meinen Sie?«
»Stehlen wollte er sie mir, Ihr feiner Herr Professor. Dachte, mit seinem akademischen Getue und ein paar schönen Worten könnte er sie beeindrucken. Aber sie wollte mich. Von Anfang an. Darüber ist er nie hinweggekommen.«
»Wie ist Ihre Frau gestorben?«, fragte Crispin vorsichtig.
»Das geht Sie nichts an. Lassen Sie mich in Frieden.« Ein neuerlicher Hustenanfall durchzuckte den mageren Körper und blutiger Schaum trat in die Mundwinkel. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sich Colonel Ellingford aus seinem Stuhl zu erheben.
»Gehen Sie!«
Erschrocken sprang Freddie auf. Der alte Herr echauffierte sich extrem, hoffentlich schadete dies seiner Gesundheit nicht noch zusätzlich. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine herbeieilende Krankenschwester.
»Verzeihen Sie, Colonel. Auf Wiedersehen.« Sie zupfte Crispin am Ärmel und die beiden suchten rasch das Weite. Die Schwester drückte den noch immer hustenden Patienten wieder in den Rattanstuhl und wischte das Blut ab. Als sie die Decke zurück auf seinen Schoß legen wollte, stieß er sie unwirsch weg.
»Sie haben kein Recht, alles einfach aufzuwühlen«, keuchte er ihnen nach. Die raue Stimme ging Freddie durch und durch. Was hatten sie getan? Offensichtlich war zwischen Aristotle Brown und Alfred Ellingford etwas vorgefallen, das mit der geheimnisvollen Nora zu tun hatte und noch immer große persönliche Wellen schlug. Nur was?
»Das lief nicht so gut«, konstatierte Crispin lakonisch, als sie zurück im Club am Berkeley Square waren. »Ich hätte mir etwas mehr Information gewünscht.«
»Pfffft«, machte Freddie. »Kurzzeitig habe ich befürchtet, er fällt um, weil er sich so aufregt.«
Sie saßen im Besprechungsraum, fernab der anderen Clubmitglieder, und warteten auf die Rückkehr von Lord Philip und Doktor Pebsworth. Crispin blätterte in den Unterlagen, die auf dem Tisch lagen. »Wir sollten mit Merrit Fraser reden. Vielleicht kann der Licht ins Dunkel bringen.«
»Der Studienfreund des Professors? Natürlich! Bestimmt weiß er mehr.«
Crispin seufzte. »Allerdings bezweifle ich, dass dein Onkel dem Priorität einräumt. Sicher wäre ihm lieber, wenn auch wir uns wieder auf die Musiker konzentrieren. Das ist immerhin unser aktueller Fall.«
Hin und her gerissen studierte Freddie das Porträt des ehemaligen Clubvorsitzenden an der Wand. Seine braunen, väterlich warmen Augen hatte der Maler gut getroffen. Professor Brown fehlte ihr jeden Tag. Viel mehr als der tote Trompeter beschäftigte sie das persönliche Drama um ihren verstorbenen Freund und Mentor, an das sie soeben gekratzt hatten. Stets beherrscht, hatten in ihm Leidenschaften geschlummert, ebenso wie Schmerz und Verlust, an dem er niemanden hatte teilhaben lassen. Aber Freddie wusste, wie wichtig es Brown gewesen wäre, dass sie die Wahrheit aus ihrem Dornröschenschlaf weckten, dass endlich ans Licht kam, was zu lange verborgen war.
Sie griff sich einen der beiden Briefe, die sie im Haus des Professors gefunden hatten. »Das hier«, sie hielt ihn Crispin hin, »sind die wundervollen Worte einer Frau, die mit Leib und Seele in den jungen Aristotle verliebt ist. Er hätte ihr Herz niemals stehlen können, weil es ihm längst gehörte. Ihm und niemandem sonst, davon bin ich überzeugt. Etwas Schreckliches muss geschehen sein, dass sie ihn verließ und Ellingford heiratete. Und wir werden nicht eher ruhen, bis wir herausgefunden haben, was. Das sind wir dem Professor schuldig.«