Читать книгу Schwester des Mondes - Teil meines Lebens - Sorella Di Luna - Страница 7

1 Dezember 2007

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Vielleicht besteht die Liebe darin, dass ich dich sanft und liebevoll zu Dir selbst zurückführe.“ Antoine de Saint-Éxupery

Luna ist müde. Müde von allem, müde vom Reden müssen, müde vom Denken müssen. Will sie Erkenntnisse gewinnen? Hat sie noch die Kraft dazu? Sie legt ihren Kopf ganz vorsichtig auf die Tischplatte vor ihr, fühlt die Kühle des Holzes und verdammt sie. Die Kühle. So gerne möchte sie reflektieren, analysieren, sich selbst verstehen. Aber ihre Seele lässt es nicht zu. Sie ist traurig um die Menschen, die ihr genau dies ermöglichen wollen, traurig darum, dass sie nicht weiß, wie es weitergehen soll. Denn Luna selber hat keine Idee, kein Empfinden, kein Tor zu ihrer Seele, das sich im Moment von ihr öffnen ließe.

Immer, immer hat sie sich selbst hinterfragt, hat andere einbezogen in ihre Gedanken, hat, wenn auch insgeheim, versucht, alles, was sie empfängt, auf einen Nenner zu bringen. Hat versucht, Dinge für sich zu ordnen, zu strukturieren, zu hinterfragen. Aber jetzt ist der Moment gekommen, in dem sie nicht mehr weiß, was sie tun soll. Denn sie hat Angst, Glück zu empfinden, hat Angst, Gefühle zu haben, Angst zu verlieren, Angst zu gewinnen. Warum sie immer eines von beidem haben muss, das fragt sie sich nicht. Denn sie ist es gewöhnt, dass Dinge den Weg gehen, den sie sich vorgestellt hat. Jetzt ist sie an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr weiß, ob sie will oder kann. Ob sie leben will oder nur leben kann. Für wen es einen Sinn hat. Denn für sie hat es schon lange keinen Sinn mehr.

Januar 2008

Und Wochen später ist Luna immer noch müde. Sie schlägt die offene Handkante auf die Kante ihres Schreibtisches. So lange bis es schmerzt. Obwohl es lange dauert bis sie den Schmerz spürt.

Denn alles in ihr verwehrt sich dagegen. Sie meint zu wissen, dass es ihre Schuld ist, dass sie diesen Schmerz spürt. Sie kennt keine Liebe, keine wahre Sehnsucht. Nur dieses Unerfüllte, Strebende in ihr. Und sie meint auch zu wissen, dass es dafür keine Lösung gibt. Kein Ende. Nichts, was ihre schmerzende, jetzt schwellende Hand rechtfertigen würde. Und sie tut es weiter, denn je mehr sie schlägt, desto unfühlbarer wird der körperliche Schmerz. Er hinterlässt nur ein dumpfes Gefühl, wie es auch in ihrer Seele vorherrscht. Es ist ein dumpfer, anhaltender Schmerz, der irgendwann nicht mehr nach außen dringt. Und er ist nicht mehr beherrschbar, denn wenn er das wäre, wäre er fühlbar.

Es ist eine Welt, wie es viele andere Welten in ihr waren oder noch immer sind. Erst stechend, dann dumpf. Erst erlebbar, dann kaum noch fühlbar. Und nicht wirklich erwünscht, eher ersehnt um darüber liegendes abzutöten. Ob es gelingt, kann Luna nicht sagen. Kann sie nicht fühlen. Denn sie fühlt im Moment immer nur eines. Oder nichts.

Und wieder legt sie ihre Stirn auf das kühlende Holz. Und sie findet das Bodenlose. Das, wovon andere sagen, es sei das Leben. Das woraus andere Inspiration ziehen. Und sie sieht nur das Dunkel. Das Unbestimmte. Das für sie Unerreichbare.

Am nächsten Tag erwacht Luna, sie hat tief geschlafen und kann sich an ihre Träume nicht erinnern. Sie folgt ihren früh morgendlichen Ritualen, also dem genauen Ablauf von Waschen, Zähne putzen, Anziehen. Immer in der gleichen Reihenfolge. Immer mit den gleichen Gedanken. Schon jetzt erschöpft und müde setzt sie sich hinter das Steuer ihres Wagens, legt die CD ein, die sie immer hört, seit Monaten schon. Drückt weiter um immer wieder das gleiche Lied morgens zu hören. Die Fahrt zur Arbeit ist Routine, trotzdem lauern immer wieder Gefahren für sie auf dem Weg. Nicht nur von außen, auch in ihr drinnen lauert oft ein böser Wunsch. Besonders, wenn sie über diese Brücke fährt. Achtzig Stundenkilometer sind erlaubt und sie liebt es, am frühen Morgen auf leerer Straße zu beschleunigen, sich vorzustellen, sie durchbricht dann das Brückengeländer. Hat dann ein, zwei Sekunden Zeit nachzudenken... was käme ihr wohl in den Sinn? Bevor sie mit dem Auto auf das Wasser aufschlagen würde? Sie liebt das Wasser. Sie hat keine Angst davor. Nur vor den schnellen Gedanken hat sie Angst, die Gedanken, die sie nur kennen wird, wenn sie es wagt! Sind Gedanken, die solche Angst machen, überhaupt wert gedacht zu werden? Luna weiß es nicht und sie hat Angst vor diesen Gedanken. Die Brücke ist nun überwunden und Luna ist wieder einmal erleichtert über sich selbst...

In der Firma angekommen folgt sie weiter ihren Ritualen. Immer das gleiche. Viele Menschen um sie herum, Menschen, die sie mag, Menschen, die sie mögen. Manchmal fühlt es sich gut an, dort zu sein. Mit dem innigen Wunsch, geliebt und unersetzbar zu sein. Sie weiß, dass es nur ein Wunsch ist, eine Spinnerei, eine Fantasie. Die Welt ist nicht perfekt. Auch ihre Welt nicht.

Die Kunden kommen und gehen. Luna weiß, dass sie mit Offenheit und Freundlichkeit vieles erreichen kann. Warum kann sie es nicht in ihr Leben transponieren? Warum kann sie diese Offenheit und Herzlichkeit nicht in sich spüren? Es hat für sie nur den Wert eines Geschäftsgebarens. Es ist ein Mittel zum Zweck. Sie wünschte, diese Gefühle würden ihre Seele streicheln, aber sie wartet vergebens darauf. Oder hat sie da nur wieder einmal Angst vor Gefühlen?

Nachmittags, auf dem Weg nach Hause, wieder das gleiche Lied. Und böse Wünsche tief in ihr. Und viel mehr Sehnsucht, sie erfüllt zu sehen. Hier und jetzt sind ihre Tage austauschbar. So lange schon kann sie keinen Unterschied mehr sehen. Durchbrochen wird die Gewohnheit manchmal mit einem E-mail-Austausch, mit einem chat, mit Giorgio und seiner Frau Gitty. Für sie die einzigen Freunde, die sie hat. Die einzige Freude, die sie verspüren kann. Denn die Welt ist anders zu ihr, wenn sie dort ist. Die Welt in ihr ist anders. Aber jetzt, abends zu Hause, ist ihre Welt wieder die alte. Verkehrt, dumpf, abwartend, ängstigend, lauernd.

Lunas Tagebuch:

"Ich bin ganz allein in einem mehrstöckigen, großen Haus. Das Haus steht leer. Es ist umgeben von einer großen, parkähnlichen Anlage mit vielen großen und alten Bäumen.

Es muss Sommer sein, die Bäume tragen dichtes Blattwerk. Das kann ich aus den Fenstern heraus sehen. Auch trage ich nur ein T-Shirt, kurze Hosen und Turnschuhe.

Ich weiß, dass ich aus diesem Haus heraus muss, ich muss nach Hause. Wo auch immer "zu Hause" ist. Ich irre eine ganze Weile in dem Haus herum, fühle dass jemand mich verfolgt, sehe und höre aber niemanden. Im obersten Stock klettere ich von einem Balkon an der Regenrinne hinunter auf eine Terrasse im Erdgeschoss. Von da aus irre ich eine Weile in dem Park herum, bis ich ein Loch im Zaun finde durch das ich auf die Straße gelange. Eine Straße, die mir bekannt vorkommt, mir aber nicht bewusst bekannt ist. Ich fange an zu laufen, weil jemand hinter mir ist. In dem Moment weiß ich, dass es der gewalttätige Erzeuger meines Sohnes ist, denn ich spüre seinen Atem hinter mir, auch wenn ich ihn gerade nicht sehen kann weiß ich, dass es Aidan ist. Aber jetzt höre ich sein schweres Atmen hinter mir. Und ich weiß, er hat wieder einmal das Messer in der Hand. Ich will rennen, möchte weg fliegen, aber komme nicht vorwärts. Inzwischen ist es stockdunkel geworden und mein Weg endet an einer ewig hohen Mauer. Ich kann nicht weiter, drehe mich um, um mich mit den Händen zu schützen. Und ich höre seinen Atem, der pervers lustvoll klingt, sehe ihn aber in der Dunkelheit nicht richtig, und spüre dann das erste Mal den Schmerz des Messers, das er mir in die Hände sticht. Ich halte die Hände vor mein Gesicht und in dem Moment, in dem er das Messer in meinen Unterleib und meine Genitalien rammt, wache ich entweder auf oder werde mir bewusst, dass ich träume. Wenn ich mir dessen bewusst bin, dann schüttle ich mich im Traum, versuche, das Kopfschütteln auf die Realität zu übertragen und es gelingt mir manchmal, dadurch aufzuwachen. Und ich wache auf und merke, wie ich immer noch den Kopf schüttle, voller Panik und meine Hände schützend auf meinen Unterleib gelegt habe...

Auch jetzt, wo ich es das erste Mal ausführlich beschrieben habe, höre ich ihn, spüre ich die Dunkelheit. Es ist im Traum alles sehr real, es gibt nichts, was wirklich widersinnig oder unmöglich wäre. Das ist das Schlimme daran. Im Traum bin ich ICH und beobachte mich gleichzeitig. Ich sehe das Messer in meinem Leib und spüre gleichzeitig den Schmerz.

Ab und zu verändert sich der Traum ein wenig, das Messer trifft meine Brüste, oder ich kann eine Weile schnell rennen um dann wieder vor der Mauer zu enden. Manchmal irre ich auch sehr lange auf der noch hellen Straße umher. Aber im Endeffekt ist es immer der gleiche Traum und er endet immer mit für mich realem Schmerz, im Traum spürbar. Ich habe eine wahnsinnige Angst vor diesem Messer.

Am folgenden Morgen erinnert Luna sich an ihren Traum. Obwohl sie es nicht möchte. Sie schwitzt, hat einen schalen Geschmack im Mund. Rastlos dreht sie sich von einer Seite auf die andere. Eigentlich hat sie noch eine Stunde Zeit, bis sie aufstehen muss. Aber sie erträgt den in ihr nachhallenden Traum nicht mehr, steht auf und ihr Leben geht den gewohnten Gang. Früher als sonst ist sie bei der Arbeit, verbringt die erste Stunde damit, auf ihren Monitor zu starren in banger Erwartung eines wie auch immer gearteten Wunders, das ihr all diese Last abnehmen soll. Heute möchte sie gerne etwas an ihrem Leben ändern. Aber mit der Frage nach dem „Was“ ist sie schon völlig überfordert, sie kann nur weinen, kann nur hoffen, dass man ihr wieder diese Verantwortung abnimmt.

Giorgio sagt:

Meine liebe Luna,

Du bist ein lieber Mensch, bitte vergiss das nicht! Du bist frei geflogen als Kind und wurdest dann grausam in einen Käfig gesperrt!

Luna saugt diese Worte von Giorgio in sich auf. Sie geben ihr einen kurzen Halt, einen momentanen Trost. Sie tun gut, und wenn es auch nur Sekunden währt. Und sie versucht, sich zu erinnern, was damals geschehen ist. Wie sah ihr Käfig aus? Ja, sie konnte frei fliegen, hatte vieles, großes vor. Ihr sicherer Platz, ihre Höhle, ihr Rückzugsort verwandelte sich dann mit einem Mal in einen Käfig. Sie war erst neun Jahre alt. Und sie wollte ihre Liebe weitergeben, sie zurückgeben. Wollte tun, was man von ihr erwartet. Auch wenn es seltsame, unbestimmte Gefühle in ihr auslöste. Auch wenn sie trotz ihrer kindlichen Unschuld fühlte, dass es falsch war. Sie tat es trotzdem und sieht heute noch immer ihre Schuld darin. Kein Wort zu jemandem, sich nichts anmerken lassen. Luna tat, was sie tun musste, so wie sie es sich schon immer auferlegt hatte, genauso wie sie es auch schon immer im Guten wollte. Sie konnte es nicht vom Bösen trennen, dafür war sie zu sehr Kind, zu vertrauensvoll...

Sie sitzt ratlos zu Hause an ihrem Schreibtisch.. Versucht, sich diese ersten Bilder in Erinnerung zu rufen. Draußen ist es dunkel und windig. Es wird bald regnen. Seltsamerweise weiß sie, dass der erste Missbrauch an einem sonnigen und kühlen Herbsttag stattfand. Sie sucht, geht tief in sich.

Luna sieht die Matratze auf dem Boden, die ihr Bruder und sie vom Bett genommen haben. Sie sieht sich nackt darauf liegen. Es ist ein Kriminalspiel, das sie spielen wollen! Sie weiß, dass sie gut spielen kann. Sich in andere hineinversetzen. Jetzt muss sie gerade nicht viel tun, denn sie spielt eine Leiche. Eine nackte Leiche. Sie darf sich nicht bewegen, muss alles mit sich geschehen lassen, denn sie ist ja tot! Die Hände ihres Bruders erkunden ihren Körper an Stellen, die sie selber noch nicht kennt. Nicht kennen möchte. Sie kann nicht unterscheiden, ob es sich gut oder bedrückend anfühlt. Beide Gefühle wechseln sich ständig ab. Sie hat nur eine Idee davon, wie falsch es ist, was sie hier geschehen lässt. Die Hände erforschen ihre Arme, ihre Beine, ihre Brüste und ihre Genitalien. Was geschieht mit ihr? Sie weiß, dass es in dem Film, den sie neulich zusammen gesehen haben, nicht so war. Und sie weiß auch, dass der tote Körper dort sicherlich nicht diese zwiespältigen Gefühle hatte! Sie denkt sich weit weg. Sucht ihre unsichtbaren Freunde, findet sie und gesellt sich zu ihnen. Jetzt! Jetzt muss sie wieder spielen, ein kurzes Intermezzo: Sie ist der Assistent des Kommissars. Aber es währt nicht lange. Und schon ist sie wieder eine Leiche. Eine nackte Leiche. Sie wird hochgehoben, hinweg getragen und verscharrt.

Meine liebe Luna,

lasse uns bitte daran arbeiten, dass Du das nicht mehr in Dir verscharren musst, sondern dass Du Deinen Kopf wieder frei nach oben recken kannst, Deine Flügel ausbreiten und Du im unbeschwerten Flug über den Abgrund gleiten kannst. Lasse Dich zurückführen zu Dir selbst, besinne Dich auf Dich, werde wieder Du!

Ich werde Dich gerne dabei begleiten, mit Dir fliegen und Dich dabei auffangen, wenn Deine Flügel einmal lahmen sollten und ich werde Dich erden, falls Du den Boden unter den Füßen verlieren solltest …

Dein Giorgio

Schwester des Mondes - Teil meines Lebens

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