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3 Verloren

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In jedem Augenblick entscheidest du dich für dich selbst, aber entscheidest du dich auch für dein Selbst? Körper und Seele enthalten tausend Möglichkeiten, aus denen du viele „Ichs“ aufbauen kannst. Aber nur eines von ihnen befindet sich in Übereinstimmung mit dem, der sich dafür entscheidet, und dieses eine wirst du niemals finden, wenn du nicht alle jene oberflächlichen Gefühle und Möglichkeiten des Seins und des Handelns ausschließt, mit denen du aus Neugier, Abenteuerlust oder Gier spielst und die dich daran hindern, Anker zu werfen in dem Erlebnis des Mysteriums des Lebens und in dem Bewusstsein des dir anvertrauten Talents und in dem Wunder deines Selbst, das dein wahres „Ich“ ist.“

Dag Hammarskjöld


Lunas Tagebuch, Dienstag, 20. August 1985 (Luna ist 17)

Leere! Passivität. Dominanz von Heuchelei und Lügen, völlige geistige Stagnation. Phantasien, die meine kühnsten Träume nicht hergeben wollen, verschiedene Sphären eines Traumes, von bizarrer Realität. Hoffnungslosigkeit, Aufgabewillen, Zukunftsangst, Selbstmordgedanken, Abdriften. Aus mir heraus um mich anzuschauen. Wo lebe ich? Traumwelt? Apathie. Scheinwelt? Ein Traum, den ich selber inszeniere? Ist mein Tod dann das Erwachen des Träumenden von eben diesem Traum, in dem ich der Protagonist bin? BIN ich also gar nicht? „Cogito ergo sum“ besitzt hier keine Relevanz! Woher weiß ich, daß diese Personen, die meine Träume begleiten, genauso denken wie ich???

Ich träume. Ich BIN ein Traum. Mein Tod ist Erwachen und Untergang gleichzeitig. Was geschieht mit einer Traumfigur? Sie verschwindet beim Erwachen, ist aber weiterhin in der Vorstellungskraft existent. Sie ist unnahbar, unangreifbar, unhörbar und trotzdem existiert sie. Ich habe Angst.

ICH HABE ANGST!!

Damals hätte Luna ihr Leben gegeben für Schutzengel wie Giorgio und Gitty. Ihre Situation hat sich nur ein wenig verlagert. Aber Verzweiflung und Dunkelheit sind geblieben. Luna liest sich durch ihre alten Tagebücher und ihr wird übel. Vor lauter Angst und Sorge um sich selbst. Das, was sie geschrieben hat, ist geblieben – es ist nur noch viel mehr dazu gekommen.

Luna erhebt sich mit Mühe von ihrem Stuhl, wendet den Blick ab vom Monitor in den Garten hinaus. Sie öffnet die Balkontür und zündet sich eine Zigarette an. Sie raucht nicht im Haus. Die Sonne wirft goldene Strahlen über den Rasen, zerteilt sich zwischen den Ästen hindurch. Sie sieht es, kann es beschreiben, aber nicht fühlen. Also geht sie wieder hinein und gießt sich einen Wodka-Orange ein. Sie kippt ihn hinunter und lässt einen zweiten folgen. Jetzt merkt sie den Alkohol in ihrem Magen. Er macht ein warmes Gefühl. Ein dritter Wodka. Sie geht wieder hinaus, zündet sich noch eine Zigarette an. Sie registriert die Sonne in den Bäumen, aber sieht die Bäume nicht. Sie registriert das Grün der Koniferen, aber sie sieht den Garten nicht wirklich. Sie weiß, dass der Alkohol ihr die falsche Wahrnehmung beschert. Aber sie ist auch nicht bereit, etwas daran zu ändern. Das Telefon klingelt. Endlos. Sie geht nicht dran. Es klingelt wieder. Sie möchte mit niemandem reden. Denn wer immer am anderen Ende ist könnte ihr sagen, dass es nicht gut ist, was sie tut. Dass Alkohol keine Lösung ist. Sie weiß es selber und schüttet sich den vierten Wodka ein.

Es klingelt wieder und auf ihrem Monitor sieht sie, dass es Giorgio ist. Sie kann nicht dran gehen, alles in ihr sperrt sich dagegen. Wenn sie die Zuneigung hört, die Menschlichkeit, wenn sie die Möglichkeit von Sanftheit in sich verspürt, dann muss sie sich dagegen wehren. Denn sie ist es nicht wert, Liebe zu empfangen. Nicht wert, dass sie jemandem wichtig ist. Weil sie vieles in ihrem Leben falsch gemacht hat. Sie hat vieles zugelassen, was nicht hätte sein dürfen. Und sie erinnert sich, erinnert sich zurück an ihre Kindheit:

Nimm ihn in die Hand“, sagt er zu ihr, „er beißt nicht!“ Und sie kann sich kaum dazu überwinden und tut es trotzdem, weil sie ihm immer noch vertraut. Er gehört zu ihr, ist ihr Beschützer, jemand, der auch von ihr beschützt werden will, so fühlt sie das. Sie hält seinen Penis in der Hand, in völliger Unkenntnis. Weiß damit nichts anzufangen. Er zeigt ihr, was sie tun muss, wie sie ihre Hand bewegen muss. Der Lohn ist ein Stöhnen von ihm, was sie als schmerzlich und dreckig empfindet. Sie schafft es dieses erste Mal nicht, ihm Befriedigung zu verschaffen. Ihr Handgelenk schmerzt. Sie strengt sich an. „Das macht nichts“, sagt er, „das nächste Mal geht es besser.“ Ein nächstes Mal ist für sie unvorstellbar, aber sie nimmt es hin. Denn er ist doch immer noch ihr Bruder für sie, ein so wichtiger Mensch.

Am nächsten Morgen fährt sie zur Arbeit. Wie immer. Es ist wieder ein schöner Tag. Ein sonniger, klarer Tag, der die Brücke über dem Fluss glänzen lässt. Heute fährt sie nicht zu schnell, sie gibt Vorrang, winkt freundlich und lächelt den LKW-Fahrer an, der verzweifelt versucht, die Spur zu wechseln. Sie fühlt sich gut, klar, geläutert. Alles, was sie an Sorgen hatte, scheint vergessen. Sie sieht die Schafherde auf den Flusswiesen und stellt sich vor, eines dieser kleinen, dunkelbraunen Lämmer könne sie mitnehmen, für den Garten. Um es lieb zu haben. Und um nur geben zu dürfen und nichts nehmen zu müssen. Sie biegt rechts ab, zu ihrer Arbeitsstätte und freut sich auf diesen Tag. Mit den Menschen, die ihr vertrauen, Menschen, die ihr wichtig sind. Sie startet in den Tag mit einem Kaffee, den ihre Arbeitskollegin frisch gemahlen und gekocht hat und freut sich an der Menge der Arbeit, die auf sie zukommt. Bis zum späten Vormittag arbeitet sie ununterbrochen. Hat Freude daran, die Kunden zufrieden zu stellen, ein Lächeln für die erledigte Arbeit zu empfangen und sich eloquent und amüsant zu unterhalten. Mittags isst sie einen Salat, er wird ihr gut tun, denn er wird dem geschundenen Körper ein paar Vitamine zuführen. Gegen halb drei Uhr nachmittags kommt der plötzliche Absturz. Sie fängt an, am ganzen Körper zu zittern. Kann nicht sprechen, verhaspelt sich und sucht die richtigen Worte. Sie denkt an die Zigaretten, die sie raucht und an einen möglichen Schlaganfall. Die Angst hat sie im Griff und lässt sie nicht mehr gehen. Die Extrasystolen kommen und mit ihnen die Verzweiflung. Das Endzeit-Gefühl. Sie denkt an Entzugserscheinungen wegen des Alkohols, meint aber zu wissen, dass es nicht so ist. Sie hat Angst, Treppen zu laufen, weil sie sich an einen Traum erinnert:

Sie geht die Treppe hinab, stolpert und fällt, fällt endlos. Hände strecken sich nach ihr aus, helfende Hände. Aber sie greifen ins Leere. Und sie fällt bis zum Ende der Treppe und schlägt mit dem Kopf an der Wand auf. Sie hört das Brechen der Schädelknochen, fühlt die Wärme des Blutes und die kommende Ohnmacht.

Sie steht immer noch am Fuße der Treppe und wagt sich nun hinunter, mit der Hand am Geländer, Schritt für Schritt. Sie taumelt, der Kreislauf reagiert empfindlich auf die erste Zigarette, die sie im Treppenhaus geraucht hat. Sonst tut sie das nicht. Sie raucht normalerweise eine zusammen mit den Kollegen, gegen 13:30. Draußen. Heute ist es anders. Sie zieht sich am Geländer hoch, mit dem Gedanken an die noch kommenden Stunden. Sie strafft ihren Körper, hebt den Kopf und schreitet hinein ins Büro. Nichts ist an ihr anders, keiner darf es merken. Dass sie eigentlich nicht mehr kann. Dass die Angst sie beherrscht. Die Angst vor so Vielem. Vor Tod, Verlust, Zerstörung, Realitätsverlust. Heute ist es das erste Mal, dass Luna darüber nachdenkt, etwas gegen ihre Ängste zu tun. Etwas zu tun gegen ihren Selbstverletzungswillen, gegen die Suizidgedanken, gegen die Lebensangst.

Heute spürt sie ganz intensiv, dass da noch jemand in ihr ist. Sie ist die große Luna, sie delegiert, ist verantwortungsvoll, pflichtbewusst, verlässlich. Sie meistert ihr Leben. Und da ist die kleine Luna, sie nennt sie Lunetta. Kommt von ihr das Flüstern, das sie manchmal hört? Lunetta ist der schöpferische Quell, sie ist schutzbedürftig, aber sicher in ihrem Sein. Die beiden unterhalten sich manchmal. Luna weiß nicht, ob sie in Konkurrenz stehen, oder sich ergänzen. Zu oft verspürt sie diese Ambivalenz, die Änderung ihres körperlichen Ausdrucks, die Art, zu schreiben oder sich zu geben. Sogar die Art, zu reden. Und die Dissoziationen, das „Abschalten“, die minuten- bis stundenlangen „Ausfälle“, wenn sie nicht mehr weiß, was sie getan hat. Ob sie überhaupt etwas getan hat.

An Giorgio:

Verloren nicht nur in der Zeit, obwohl man meinen möge, sie hält die Welt in ihrer Achse, Verloren nicht nur im Hier und Jetzt, obwohl Lunetta arge Orientierungsschwierigkeiten hat, Verloren nicht nur auf dem Wege zum Tod, weil Luna den effektivsten Weg noch finden muss, Verloren nicht nur in der Vergangenheit, obwohl sie der großen und der kleinen Luna Rettung ist.

Verloren in mir und meinen Gefühlen zu anderen, in meiner Obsession, Menschen spüren zu wollen und nicht zu können, Verloren in der Wärme, Zuneigung, Zuwendung anderer Menschen ohne diese annehmen zu können, Verloren in der alles umfassenden Angst, Menschen, die man liebt, nicht halten zu können, Verloren in jeder Geste, jedem Wort, in jeder Unterschwelligkeit, in jedem Versuch, sich anzuvertrauen.

Denn was zu viel ist, ist zu viel. So viele Versprechen, die Luna hält, um´s Verrecken hält, und so viele fehlgeleitete Gedanken, die Luna nicht fassen kann und doch unter Verschluss hält, so viele Wünsche, Forderungen, Bedürfnisse, Begierden, die nicht nach außen drängen dürfen.

Die große Luna und die kleine Lunetta werden sie eines Tages sammeln und sie alle zusammen vernichten. Damit Ruhe herrscht. Aber erst müssen die beiden sich finden, hat Giorgio gesagt! Und so langsam kann ich sie beide von außen betrachten, beide sind da, be- und verurteilen mich, halten die Balance, oder drängen in die eine oder andere Richtung.

Ich fasse sie beide an der Hand! Eine rechts, eine links und nehme sie mit. Ich, die ich in der Mitte stehe und noch keinen Namen habe!

Meine Seele, die nicht ist, ist wertvoll. Für mich nicht. Für andere. Ich schenke sie Euch. Allen. Lunas Seele hat einen Freiflug, einen ewigen Freiflug gewonnen.

Arrivederci Seele!“

Luna schreibt diese Zeilen spät abends. Sie ist müde und angeschlagen von der halben Flasche Cognac, die sie im Laufe des Abends getrunken hat. Die Euphorie ist dahin, was bleibt ist die unhaltbare Sehnsucht nach dem Tod, nach dem Ende der Quälerei, des Ungewissen. Und sie möchte, dass das angstvolle Warten ein Ende hat. So angstvoll, wie sie auch in ihrer Kindheit gewartet hat, wenn sie in ihrem Kinderzimmer im Bett lag und nie wusste, ob sich heute Abend noch die Tür öffnen würde.

Und der Schlag im Magen, der Druck auf ihrer Brust, wenn sie sich dann wirklich öffnete und er hereinkam. Und immer hat sie sich bereitwillig ausgezogen, sich ausziehen lassen, streckte und räkelte sich vor ihm, ließ ihn seinen, für sie schweren Körper, auf ihr arbeiten oder auch ruhen.

„Ist das schön?“ fragt er. Sie bejaht, denn sie weiß, dass ihn diese Antwort stolz macht. Sie weiß, dass es für ihn wichtig ist. Aber in ihr zieht sich alles zusammen, sie spürt wieder den säuerlichen Geschmack in ihrem Mund, die Vorboten der Übelkeit.

Und oft musste sie diese Dinge tun, ihn befriedigen, ihn sie berühren lassen, sie erforschen lassen, während sie angestrengt und voller Angst auf jedes Geräusch außerhalb ihres Zimmers lauschte. Was, wenn die Eltern es hören würden? Es gar sehen würden? Wenn sie früher als sonst nach Hause kämen? Die Schande und Scham wären unvorstellbar…

Denn Luna ist in einem guten Hause aufgewachsen. Ihre Mutter war eine herzliche, liebevolle, gebildete, impulsive Frau. Für ihre Familie tat sie alles. Ihr Vater, von Luna immer beneidet, ist ein sachlicher, intelligenter und gebildeter Mensch, der im Leben viel erreicht hat. Ihm hat Luna immer nachgeeifert. Denn als Luna klein war, wollte sie nichts lieber, als ein Junge sein. Oft wünscht sie es sich heute noch. In ihren Augen haben Männer es im Leben leichter, erreichen mehr. Wenn ein Mann sich in eine Frau verliebt ist das romantisch, spannend, er begehrt sie. Wenn eine Frau sich in einen Mann verliebt, bedeutet das für sie Unterwürfigkeit, Kriechen, Schwäche, ja, so fühlt Luna das. Sie ist überzeugt davon, dass sie mit der Musik als Mann mehr hätte erreichen können.

Sie hat ihre Maxime und verteidigt sie. So, wie sie schon immer Schwächere verteidigt hat, verbal und körperlich. Oft spürt sie die Aggressivität in sich, kann sie aber ihre ganze Kindheit über hinunterschlucken. Sie gilt nach außen hin als friedfertig und außergewöhnlich vernünftig.

Als Luna sich jetzt daran erinnert, fragt sie sich verzweifelt, wo ihr Leben geblieben ist. Manchmal wünscht sie sich, ihrem jetzigen Partner sexuelle Erfüllung bieten zu können. Aber meistens ist sie nur froh, dass er es nicht ständig verlangt. Schon das Abweisen der seltenen Versuche ist für sie eine Qual. Es darf keine Küsse, keine Umarmung geben, denn sie hat Angst, er könne weitergehen wollen. Und das würde sie nicht ertragen.

Und mit diesen Gedanken greift sie wieder zur Cognacflasche und leert zwei Gläser schnell hintereinander. Sie merkt wie schwer es ihr fällt, Giorgios Mail zu lesen. Ihr Blick trübt sich, sie lässt den Kopf auf ihre Arme sinken. Sie merkt, wie sie vom Stuhl auf den Boden rutscht und alle Dämme in ihr brechen. Die Flut der Tränen kommt mit verzweifelter Intensität, sie kann sich nicht mehr halten und bricht auf dem Boden zusammen. Ihr Lebensgefährte ist bei ihr, stützt sie, spricht mit ihr und sie beichtet ihm jetzt, erst nach vielen Jahren des Zusammenseins, was sie als Kind erduldet hat. Welche Schuld sie mit sich trägt. Aber wer es ihr angetan hat, das verschweigt sie.

Er redet mit ihr, wie mit einem kleinen Kind, bringt sie ins Bett. Luna fühlt sich unendlich verlassen.

Giorgios Mail:

Wir wünschen Dir eine gute Nacht, Kleines!

Lehne Dich an unsere Schultern, vergiss Deine schlimmen Gedanken, lass Dich trösten und stützen!

Das Leben war nie von alleine gut zu Dir, Du musstest Dir alles im Leben erkämpfen, Du musstest Dir das Leben zurechtbiegen, das hat Dich erschöpft und müde gemacht. Jetzt kommt die Phase der Erholung, der Neubesinnung und Regeneration.

Deswegen ist es keine Schwäche, kein Egoismus, sondern Nahrung für die Seele, wenn Du Dich von uns tragen lässt. Tragen ohne Schuldgedanken, ohne Gedanken warum, wodurch habe ich das verdient, wie kann ich das wieder gutmachen!

Nimm es einfach an und verwende es für Dich!“

Diese Worte trägt Luna in sich wenn sie sich im Bett immer wieder herumdreht. Der Alkohol lässt sie nicht schlafen, aber die Worte trösten sie ein wenig, berühren ihr Herz, von dem sie nicht weiß, ob es noch fühlen kann. Und sie fragt sich, wie sich Liebe anfühlt. Wie man Liebe erlebt. Denn sie weiß es nicht.

Nein, sie weiß es immer noch nicht!


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