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1. Ist es möglich, nicht zu philosophieren?

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Im Jahr 632 unseres Zeitalters stirbt Mohammed in Medina. Er wurde zweiundsechzig Jahre alt. Mit vierzig Jahren, im Jahr 610, wurde er zum Propheten, als er mit seiner Mission, den Glauben an einen einzigen Gott zu verbreiten, erklärte, dass er der Träger einer Botschaft sei, Träger des ihm offenbarten Korans, des Wortes Gottes selbst. Aus diesem Wort ist trotz der Verfolgungen, der Verbannung, des erzwungenen Exils und der Versuche, ihn militärisch zu vernichten, eine Religion entstanden, der Islam, der darauf abzielte, die alten Stammesverbindungen aufzulösen und stattdessen eine Gemeinschaft zu errichten, die auf radikal anderen Regeln des individuellen und kollektiven Lebens gründet als das bisher Dagewesene. Der Koran wurde als Inspiration verstanden, aus der diese Gemeinschaft entstand und sich entwickelte. Doch das von Mohammed offenbarte Wort, in dem Gott sagt, wer er ist und welche Bedeutung seine Schöpfung hat, welchen Ursprung und Zweck der Mensch hat, bildet keine Abhandlung über das Regieren oder ein Rechtssystem. Man braucht übrigens nur einen Blick auf die Gestalt des Korantextes zu werfen – der 6236 Verse enthält (oder 6219, je nach Aufteilung), die unterschiedliche Themen behandeln, die wiederum nach ihrem Umfang in 114 Kapitel unterteilt sind, die nach dem Tod des Propheten von seinen engsten Vertrauten zusammengestellt wurden –, um sich davon zu überzeugen, dass man in diesen Versen, bei denen man von einer Erzählung zu einer Ermahnung, von einer Gesetzgebung zu mystischen Vergleichen übergeht, weder eine Abhandlung noch ein System finden kann. Dazu kommt, dass der Korantext, der sehr oft über sich selbst spricht, darauf hindeutet, dass manche seiner Stellen nichts Explizites haben für diejenigen, die sich an ihre bloß buchstäbliche Bedeutung halten wollen, sondern da sind, um diejenigen zum Denken zu bringen, die nachdenken können.

Mohammed brachte prophetische Klarheit in die Fragen, die entstehen konnten, solange er im Kreise seiner Gefährten lebte, die er selbst ausbildete, an der Spitze jener ersten muslimischen Gemeinschaft, deren Anführer er dreiundzwanzig Jahre lang war, in denen die Offenbarung sich in Versen enthüllte, die oft den Umständen geschuldet waren, um ihre Bedeutung zu erhellen, aber auch über sie hinaus gingen. „Wie soll man diese Koranstelle verstehen?“, fragte ein Gefährte. Mohammed machte es deutlich. Was soll man in dieser Situation tun? Er antwortete. Aber er hatte verboten, ihm Probleme reiner Spekulation vorzulegen, sich Situationen in einer Kasuistik auszudenken und zu fabrizieren, die sich selbst zum Gegenstand nimmt und somit von der Bewegung des Lebens löst, das allein die wirklichen Fragen aufwirft. Der Sinn dieses Verbotes ist klar: Man muss die Zukunft offen lassen und darf nicht versuchen, sich Möglichkeiten nur deshalb auszumalen, um sie zu erschöpfen und somit zu verschließen.

Der Tod des Propheten bedeutete gerade die beängstigende Erfahrung dieser Offenheit. Es blieben zwar seine Deklarationen, die manche gesammelt hatten, und die Taten, die er unter vielen Umständen gesetzt hatte; all das bildete seine Tradition, seinen Brauch: seine Sunna, wie der Araber sagt. Wenn man eine Entscheidung, eine Interpretation, eine Meinung bestätigen konnte, indem man auf einen Ausspruch des Propheten (Hadith) zurückgriff, war es, als habe dieser selbst gesprochen. Doch es musste auch einen Ausspruch geben, der auf den in Frage stehenden Fall anwendbar war, und dieser Hadith musste auch authentisch sein. (Als später die Wissenschaft der Traditionen, der Hadithe sich ausbildete, waren die Fragen, für die man Antworten finden musste, um zu entscheiden, ob ein Hadith gut etabliert sei oder nicht, von folgender Art: Welche mündliche Überlieferungskette besteht für diesen Hadith? Ist sie glaubwürdig? Bis zu welchem Punkt?) Und wenn es keinen Hadith gab? Und wenn mehrere Aussprüche, die auf den fraglichen Fall angewandt werden können, in unterschiedliche Richtungen führten? Der Botschaft des Propheten treu zu bleiben, indem man seine Sunna, seinen Brauch weiterführt und somit jede Erneuerung vermeidet, die eine Abweichung von dem Weg darstellt, den er vorgezeichnet hatte, war natürlich das, was es zu tun galt. Doch wenn das Leben selbst ohne Unterlass in Erneuerung begriffen war, wie galt es, diese Treue zu verstehen? Was verlangte sie unter den ständig sich erneuernden Umständen, die die Bewegung des Lebens mit sich bringt?

Der Prophet war noch nicht begraben, als die fürchterliche Erfahrung der Optionen, die sein Tod offenhielt, sich der Gemeinschaft, die er um den Koran und seine eigene Person zusammengeschweißt hatte, auferlegte. Hatte er, als er in seinen letzten Tagen krank gewesen war und seinen Freund und treuen Gefährten Abu Bakr gebeten hatte, die gemeinschaftlichen Gebete zu leiten, nicht damit anzeigen wollen, dass dieser sein Nachfolger (Kalif) an der Spitze der neuen Nation sein solle? Es sei denn, die zahlreichen Bezeugungen der Zuneigung gegenüber seinem Cousin, Adoptivsohn und Schwiegersohn Ali bedeuteten, dass ihm und seiner Nachkommenschaft mit der jüngsten Tochter des Propheten, Fatima, die Rolle des Imams (Führer) der Gläubigen zukomme? Hatte er nicht seine Beziehung zu ihm mit der zwischen Aaron und Moses verglichen? Diejenigen, die erklären, die Partei Alis zu bilden, die Schia Ali, anders gesagt, die Schiiten, standen somit in der Frage, wem es zukommt, die islamische Gemeinschaft zu leiten, denjenigen gegenüber, die entschieden, an ihre Spitze Abu Bakr zu stellen (von 632 bis 634), dann Umar (von 634 bis 644), einen anderen Freund und Gefährten des Propheten, dann Uthman (von 644 bis zu seiner Ermordung 656), ebenso ein Getreuer, der zwei Mal sein Schwiegersohn war, dann Ali selbst (von Uthmans Tod bis zu seiner eigenen Ermordung 662). Jene, die später daran festhielten, dass diese vier ersten Kalifen des Islam alle „rechtgeleitet“ (raschidin) auf dem Weg der Sunna des Propheten waren, nannten sich Sunniten. Die Hauptspaltung im Islam, diejenige zwischen den mehrheitlichen Sunniten und den minderheitlichen Schiiten, war also durch eine politische Frage, die auch zu einer theologischen werden sollte, entstanden, durch die Frage nach dem „Befehlshaber der Gläubigen“. Und doch hielt jede Partei die Frage durch die Treue zum Propheten und zur von ihm verkündeten Botschaft für gelöst. Man wollte, dass die Entscheidung der Diskussion, der Kontroverse, der Spekulation entzogen sei, dass sie sozusagen automatisch aus dem Koran und der Tradition folge. Die Treue erwies sich jedoch selbst als Gegenstand der Spekulation. Wie sollte man vor diesem Hintergrund nicht philosophieren?

Wer soll regieren? Was bedeutet es, eine Gemeinschaft als Nachfolger eines Propheten zu leiten, das heißt eines Gesetzgebers, der im Namen Gottes gesprochen hatte? Eine philosophische Reflexion hatte sich also um diese Fragen zu kümmern. Führen wir sie weiter, bis zu uns heute, wo sie unseren Problemen begegnen, und wir ziehen die Konsequenzen daraus, dass die Frage „Wer soll regieren?“ vom Gesetzgeber offengelassen worden war. Handelt es sich also nicht um eine ausschließlich menschliche Angelegenheit, die als solche in allen ihren Aspekten zu behandeln ist? Wenn nämlich die ursprüngliche muslimische Gemeinschaft ihre vier ersten Kalifen gemäß vier unterschiedlichen Verfahren gewählt hatte (den ersten durch Konsens einer Versammlung der wichtigsten Gefährten, den zweiten durch das Testament des ersten, den dritten durch die „Wahlmänner“, die von seinem Vorgänger bestimmt worden waren, und der letzte war gleichsam gezwungen worden, das Amt des Kalifen in einer Zeit des Aufruhrs und des Bürgerkriegs anzunehmen), dann kann die Lehre daraus gezogen werden, dass es den muslimischen Gesellschaften freisteht, die Form ihrer Staaten und die Verfahren zu entwickeln, denen gemäß sie ihre Vertreter bestimmen. Woher nimmt man nur die Vorstellung, dass man im Islam Religion und Staat nicht trennen könne?! Die Vorstellung, dass die Demokratie nicht als Organisationsform muslimischer Gesellschaften vorstellbar sei?!

Aber auch andere Fragen stellten sich, die mit dem Verständnis des Korantextes selbst verbunden sind, wie etwa die Frage der Prädestination bzw. des freien Willens. Handelt der Mensch gemäß seinem freien Willen oder ist er im Gegenteil von Gott determiniert und also prädestiniert, eher die eine Richtung einzuschlagen als die andere? Ich habe nicht von selbst gehandelt, erklärt al-Chidr3 Moses, als er, bevor er ihn verlässt, ihm die Bedeutung der Handlungen erklärt, die Moses völlig unverständlich, unmoralisch oder völlig unsinnig erschienen waren: Nur wer, indem er den Standpunkt Gottes einnimmt, die weit in der Zukunft liegenden Konsequenzen der unternommenen Handlungen sehen kann, erfasst, wie alles in der unendlichen göttlichen Weisheit vorher angeordnet wurde. Andererseits scheint gerade die koranische Erzählung des Erscheinens des Menschen anzuerkennen, dass er über einen Schatz verfügt, den nur er an den Tag bringen kann: die Freiheit. Die Möglichkeit, die die Engel erschreckt, die fürchten, dass durch die Ankunft des Menschen Unordnung und Gewalt in die Schöpfung gelangen, ist gerade das Zeichen dafür, dass mit Adam und Eva die Macht in die Welt gelangt, Nein zu sagen, etwas anders zu machen, die Negativität in die Fülle des Seins zu bringen. Deshalb war die Freiheit des Menschengeschöpfs, die ihm vorausgeht und ihn ankündigt, für Satan/Iblis die Gelegenheit, seine Fähigkeit zur Revolte zu entdecken und durch seinen Fall, das heißt dadurch, dass er „der Gesteinigte“ wurde, den Preis für seine Weigerung zu zahlen, dem Gebot zu gehorchen – das er als eine Erniedrigung ansah –, einem anderen als Gott zu huldigen.4 In Iblis’ Kenntnis der Namen, mit denen Gott genannt werden möchte, wenn es darum geht, die Reue des einzigen Wesens zu akzeptieren, das zu ihm zurückkommen kann, weil es das einzige ist, das sich aus freiem Willen von ihm entfernen oder abwenden kann, findet die Freiheit des Menschen, Nein zu sagen, ihre Entsprechung. Freier Wille oder Prädestination – das lässt sich nicht mit Zitaten entscheiden. Viele Koranverse lassen sich finden, die in die eine, ebenso viele, die die andere Richtung weisen. Man muss also wieder philosophieren.

Wenn das Menschenwesen in seinen Handlungen über einen freien Willen verfügt und also autonom ist, bedeutet das nicht eine Beschränkung der Macht Gottes? Wenn er aber nicht in sich selbst die Fähigkeit hat, seinem freien Willen gemäß zu handeln, beraubt man damit nicht die Gerechtigkeit Gottes jeden Sinns? Denn welchen Sinn hätte es, in dieser und/oder in der anderen Welt den oder die zu belohnen oder zu bestrafen, der/die nur eine unverantwortliche Marionette wäre? Diejenigen, die die Ereignisse und Handlungen, die in der Welt geschehen, für vorherbestimmt hielten, die darin den Zwang (dschabr) am Werk sahen, bildeten die sogenannte dschabritische, das heißt deterministische Denkströmung. Nach den Aufständen, Bürgerkriegen und Schismen und mit der Etablierung der Umayyadendynastie (Erbdynastie von 662 bis 750) nach dem Tod des vierten Kalifen Ali mochte es moralisch bequem sein, zu entscheiden, dass die Brüderkämpfe zwischen den Jüngern des Propheten deshalb stattgefunden hätten, weil das Schicksal den Lauf der Dinge entschieden und sie gegeneinander aufgebracht hatte. Der Fatalismus, den der Glaube an die Prädestination entwickelt, kam einer Macht zugute, die sich mehr durch ihre Fähigkeit, Ordnung und Frieden zu errichten, durchgesetzt hatte, als sie legitimiert gewesen wäre durch ein willkürliches dynastisches Prinzip. Die Umayyaden unterstützten unfehlbar solche Interpretationen, die in die Richtung dieses konservativen Glaubens gehen, dass alles bereits geschrieben steht: Das Politische war in der philosophischen Spekulation wie immer auch mit im Spiel. Die Thesen, die sich den dschabritischen entgegenstellen und behaupten, dass das Vermögen des Menschen zu handeln (qadar) notwendig für die Gerechtigkeit selbst sei, wurden qadaritisch genannt. Es ist nicht erstaunlich, dass unter der Abbasidendynastie (750–1258), die der Umayyadendynastie in einer Revolte ein Ende bereitete, die qadaritische These, die den freien Willen behauptet, in der Gunst der politischen Macht stand: Manche Vertreter der Abbasidendynastie machten den freien Willen, wie wir sehen werden, zu einem Element der offiziellen Lehre.

Mit der Frage Prädestination oder freier Wille stellte sich den denkenden Geistern auch die Frage nach der Beziehung des göttlichen Wesens zu den Prädikaten, die ihm im Koran zugeschrieben werden. Wenn es sich klarerweise um Anthropomorphismen handelt, wenn im Hinblick auf Gott von seinem „Gesicht“ und seiner „Hand“ die Rede ist oder wenn es heißt, er „setze sich auf den Thron“, dann lag hier ein Problem vor. Man wird zum Beispiel die „Hand“ als Bezeichnung für „Macht“, das „Gesicht“ als das „Wesen selbst“ deuten und annehmen, dass „sich auf den Thron setzen“ ein Ausdruck für die Erhabenheit des Herrn der Welten ist. Doch in der Frage liegt mehr als nur die Möglichkeit dieser „Übersetzungen“: Es geht um den Sinn der Einheit Gottes selbst. Der Anthropomorphismus von Ausdrücken wie „das Gesicht“ oder „die Hand“ Gottes und anderer Attribute, die scheinbar einfacher zu verstehen sind – wie „allwissend“, „der alles hört“, „der alles sieht“, „der Lebendige“, „der Entlohnende“, „der Verzeihende“, „der Erste“, „der Letzte“, „der Offenbare“, „der Versteckte“ und so weiter –, führt von diesem Gesichtspunkt aus Vielfalt in die Einheit ein. Bedeutet, diese Einheit zu verstehen, nicht auch, zu verstehen, dass kein Attribut geeignet ist, das unteilbare und transzendente Wesen Gottes zu beschreiben? Gibt es einen anderen Weg, um von Gott zu sprechen, als den negativen, der darin besteht, zu sagen, was er nicht ist? Doch wie legt man in diesem Fall Rechenschaft von all diesen Attributen ab, wenn der offenbarte Text, der Koran selbst sie zu „den schönen Namen“ Gottes macht? Eine mögliche Antwort besteht darin, zu behaupten, dass dies eben Weisen, über Gott zu reden, sind, die ganz und gar nicht an Gottes Weise, eins zu sein, heranreichen. Der Text hat also die Sprache der Menschen gesprochen, über die hinausgehend die göttliche Einheit zu denken bleibt: Die Thora spricht die Sprache der Kinder Adams, wird später den Talmud wiederholend der jüdische Philosoph Maimonides, dessen Denken auch von dieser islamisch-spekulativen Tradition genährt ist, sagen. In anderen Worten: Gott hat einen Text für die Menschen geschaffen, in der Sprache, die ihrer Vernunft zugänglich ist, welche also dazu eingeladen ist, ihn zu deuten und all ihre Fähigkeiten der freien Untersuchung dieses Textes zu widmen. Er hat ihn geschaffen, das heißt, dass dieser Text, wie die anderen Attribute, nicht mit ihm in der Weise verbunden ist, dass der Text die Ewigkeit Gottes teilte.

Der Koran erklärt in einem der zahlreichen Verse, in denen der Text sich auf sich selbst bezieht (41:2–3): „Dies ist eine Offenbarung von dem Allerbarmer, dem Barmherzigen. Ein Buch, dessen Verse ausführlich dargelegt sind, als ein arabischer Qur’an, für Leute, die Wissen besitzen“5. Ein „arabischer Koran“? Man kann diesen Ausdruck auf zweierlei Arten verstehen. Entweder schwelgt man darin, die arabische Sprache zu preisen, die Sprache der Offenbarung, geheiligt unter allen anderen, weil sie gewählt wurde, das Wort Gottes auszusprechen. Die andere Möglichkeit, die wahrscheinlich mehr dem entspricht, was im Koran selbst gesagt wird, besteht darin, den Ausdruck so zu verstehen: Gott hat sie gewählt, um sein Wort in einer menschengerechten – einfach in einer menschlichen – Sprache auszudrücken, die sich in ihrer Menschlichkeit durch nichts vor anderen Sprachen auszeichnet, wenn es darum geht, Gottes Koran erklingen zu lassen. Im Übrigen erinnert Gott, um sich verständlich zu machen, daran, dass er alle Sprachen der Kinder Adams ausgezeichnet hat, indem er ihnen, wo immer sie sich auch aufhalten, einen Boten schickte, der wie sie spricht: „Wir schickten keinen Gesandten, es sei denn mit der Sprache seines Volkes, auf dass er sie aufkläre.“ (14:4). Wenngleich es eine Sprache des Korans gibt, so gibt es dessen ungeachtet keine bestimmte Sprache des Islam, oder aber alle menschlichen Sprachen sind Sprache des Islam. Man hört oft, dass der Koran eine besondere innere Beziehung zum Arabischen, in dem er verkündet wurde, unterhält, die ihn unübersetzbar macht. Entweder ist das eine bloße Binsenwahrheit – nichts ist wirklich von einer Sprache in eine andere übersetzbar –, oder aber Obskurantismus: Denn weshalb sollte sich die Offenbarung an die Menschen richten, ohne auch mit ihnen zu sprechen?

Prädeterminismus, Sinn der menschlichen Verantwortung, Beziehung der Attribute zum göttlichen Wesen, erschaffener oder unerschaffener Koran: Das sind die Fragen, aus deren unterschiedlichen Antworten ebenso viele philosophische Denkschulen entstanden sind, die sich der Notwendigkeit verdanken, das Wort (Kalam) Gottes zu verstehen. Die „Wissenschaft von diesem Wort“, auf Arabisch ilm al-kalam oder ganz einfach Kalam, entsteht als Disziplin, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Es handelt sich um eine besondere Wissenschaft, die sicherlich nicht einfach in die Landschaft der sogenannten „Wissenschaften der Religion“ gestellt werden kann, jener Wissenschaften, die sich ganz nahe an der koranischen Botschaft halten. Unter ihnen ist natürlich die Wissenschaft des buchstäblichsten Kommentars des Korans (der tafsir); sie stützt sich auf die Sprachwissenschaften, die notwendig sind für das volle Verständnis des Textes, so wie er offenbart worden ist: arabische Grammatik und Rhetorik. Da im Übrigen die muslimische Gemeinschaft aus der koranischen Offenbarung entstanden ist, das heißt in Absetzung von den Stammesgesetzen, welche bis dahin die Machtverhältnisse und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen geregelt, Verbrechen und Strafe und so weiter definiert hatten, entwickelte sich die muslimische Rechtsprechung (fiqh genannt), um die Entwicklungen dieser Gemeinschaft zu begleiten. Neben dem Koran stützt sie sich auf die dem Propheten zugeschriebenen Aussagen oder auf die Handlungen, die er in diesen oder jenen Umständen vollzogen hat: eine Wissenschaft des Hadith, das heißt der mündlichen Überlieferungen, die die Aussagen und Handlungen des Propheten sowie ihre Umstände betreffen, wird somit zum wesentlichen Fundament der „Wissenschaften der Religion“.

Das Kalam kann nicht am Rande dieser „Wissenschaften der Religion“ verortet werden. Einerseits ist sein proklamierter Gegenstand die Verteidigung der Glaubensdogmen, da es, gemäß der Definition, die der berühmte Ibn Chaldun (gestorben 1404) von ihr gab, „die Wissenschaft ist, die darin besteht, mit Hilfe von Vernunftargumenten die Glaubensartikel zu verteidigen und die Erneuerer zu widerlegen, die sich vom Glauben der ersten Muslime und von der religiösen Rechtgläubigkeit abwenden“. Doch andererseits, eben weil sein Zugang zu den Religionsangelegenheiten darin besteht, die Vernunft damit zu beauftragen, die Offenbarung nach ihrem Maß zu bemessen, ist das Kalam ein potenzieller Produzent jener „Erneuerungen“, die darin bestehen, vernünftig zu urteilen, anstatt sich anzustrengen, seine Sichtweise an jene Sichtweise anzupassen, die man den „ersten Muslime“ unterstellt.

Mithilfe der Vernunft die Glaubensartikel zu verteidigen, heißt auch, sie gemäß dieser Vernunft zu rekonstruieren und also – in den Augen derer, die meinen, dass Treue nur durch identische Wiederholung zu beweisen sei – dem Rationalismus zu verfallen. Die Angst, zusehen zu müssen, wie die Vernunft sich als Selbstzweck setzt und somit zur Eristik verkommt, in der es vor allem darum geht, die Argumente des Gegners zu bezwingen6, wird sehr gut in einer Anekdote ausgedrückt, die man über den Gründer einer der wichtigsten Rechtschulen im Islam, Abu Hanifa (gestorben 767), berichtet. Als er seinem Sohn verbietet, sich auf die Debatten des Kalam einzulassen, drückt dieser seine Verwunderung darüber aus, dass sein Vater ihn daran hindern will, ihm auf dem Weg zu folgen, auf dem Abu Hanifa selbst ein Meister ist. Dieser antwortet ihm darauf Folgendes: „Wenn wir diskutierten, haben wir geschwiegen, aus Angst, dass ein Gesprächspartner dem Irrtum verfällt. Wenn jedoch ihr Diskussionen beginnt, wünscht ein jeder von euch, seinen Gefährten ausrutschen und in den Unglauben fallen zu sehen. Wer dies wünscht, tappt selbst in diese Falle.“

Angst vor der Vernunft und davor, dass ihr Gebrauch dazu führt, auszurutschen und in den Unglauben zu fallen? Wer nichts so sehr fürchtet als die ihrem eigenen Vermögen überantwortete Vernunft, als das freie forschende Denken, klagt schnell die Spekulation an, die „sich vom dogmatischen Denken abgesondert“7 zu haben scheint. „Absonderung“, auf Arabisch i’tazala, wird jenen Theologen ihren Namen geben, die man Mutazila8 nennt, was wörtlich übersetzt heißt: „die, die sich abgesondert haben“. Man sagt übrigens, dass Hassan al-Basri (gestorben 728), der am Ursprung sowohl des theologischen Nachdenkens des Islam als auch einer bestimmten Systematisierung des islamischen Mystizismus, des Sufismus, steht, in Bezug auf seine vernünftelnden und abtrünnigen Schüler erklärte: „Ihr habt euch von uns getrennt.“ Die Mutaziliten selbst bezeichneten sich durch den Hinweis auf ihre philosophischen Positionen als „die Anhänger der Einheit und der Gerechtigkeit“, das heißt der göttlichen Einheit, die nicht von der Vielheit der Attribute beeinträchtigt ist, und der Gerechtigkeit Gottes, die nur auf Individuen anwendbar ist, die frei sind zu handeln.

Angst vor der Vernunft. Doch was soll man von einer Situation sagen, in der der Rationalismus verlangen würde, dass alle sich dem beugen, was er verlangt, und bereit wäre, wenn nötig eine Schreckensherrschaft zu errichten? Wäre es ein absoluter Widerspruch, die Vernunft entschlossen zu sehen, die Geister und Herzen durch Gewalt für sich zu gewinnen? Denn das ist genau das, was passiert, wenn die politische Macht, insbesondere in der zwanzigjährigen Herrschaft des Kalifen Al-Ma’mun (von 813 bis 833), beschließt, die rationale, ja rationalistische mutazilitische Theologie als offizielle Lehre durchzusetzen. Das charakteristischste Kennzeichen der rationalistischen Inquisition – ein Oxymoron, das in der Geistesgeschichte der muslimischen Welt unter dem Namen mihna bekannt ist – unter Al-Ma’mun war die Einkerkerung des Rechtsgelehrten Ahmad ibn Hanbal, der beschuldigt wurde, sich hartnäckig der rationalen „Wahrheit“ des geschaffenen Korans zu verweigern, die der Kalif 817, vier Jahre nachdem er an die Macht gelangt war, zum offiziellen Glaubensartikel erklärt hatte. Der Rechtsgelehrte, der stoisch die Folter ertragen hatte und unter dem Nachfolger Al-Ma’muns freigelassen und rehabilitiert wurde, wurde auf diese Weise zum Symbol für die Fähigkeit des menschlichen Geistes, dem unterdrückenden Dogmatismus zu widerstehen, der in diesem Fall der Dogmatismus der Vernunft war!

Nach dieser Episode wurde die rationale mutazilitische Theologie mit Unterdrückung und der Gefahr der Irreligiosität in Verbindung gebracht: Wer zu viel vernünftelt, erklärt ein Sprichwort, der wird ungläubig. Die Ablehnung der Mutazila und ihrer Exzesse wird heute noch ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, kritisches Denken aus den Studienprogrammen zu verbannen. Der Literalismus, der in manchen muslimischen Ländern in Ehren steht, in denen die Machthaber eine vorgebliche Treue zu den „Alten“ schätzen, die engstirnig als die identische Wiederholung dessen aufgefasst wird, was man für ihre Denk- und Handlungsweise hält, verbietet folglich nicht nur die Lehre der Philosophie, sondern auch die des Kalam, so zum Beispiel in Saudi-Arabien. Die Literalisten sagen, dass man das hinnehmen müsse, was von der Hand, dem Gesicht oder dem Thron Gottes gesagt wird, „ohne zu fragen ‚wie?‘“, wie es Ahmad ibn Hanbal vorschrieb, der zum Helden des Widerstands gegen die mutazilitische Macht wurde. Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Ablehnung der Mutazila nicht notwendig zur Ablehnung der rationalen theologischen Spekulation geführt hat, denn diese ist unvermeidlich: Da die Verkündigung sich an Menschen richtet, die denken, gibt es keinen Nullpunkt der Interpretation. Der Literalismus ist einfach nur eine Lesart, die vorgibt, keine zu sein.

Aus der mutazilitischen Schule selbst entstand zu Beginn des 10. Jahrhunderts die ascharitische Reaktion auf sie, so genannt nach dem Namen des Gründers dieses Kalams, der sich von den rationalistischen Exzessen abwandte: Abu l-Hassan al-Asch’ari (von 873 bis 935). Bis zum Alter von vierzig Jahren war er Mutazilit, brach dann aber mit lautem Getöse mit seinem Meister und der Lehre, der er bis dahin angehangen hatte, indem er von der Kanzel der Moschee von Bagdad erklärte: „Wer mich kennt, weiß, wer ich bin. Wer mich nicht kennt, wisse, dass ich Abu l-Hassan al-Asch’ari bin, dass ich vertreten habe, dass der Koran geschaffen wurde, dass die Augen des Menschen Gott nicht sehen können und dass die Geschöpfe selbst ihre Handlungen setzen. Ach! Ich bereue es, ein Mutazilit gewesen zu sein. Ich schwöre diesen Meinungen ab und verpflichte mich, die Mutaziliten zu widerlegen, ihre Kindereien und ihre Schandtaten offenzulegen.“9

Die Tradition hat in dieser Weise dem Bruch, aus dem die ascharitische Theologie entstanden ist, eine dramatische Erscheinung verleihen wollen. Man bemerke diesbezüglich die symbolische Bedeutung des vierzigsten Jahrs, das als das prophetische Alter angesehen wird. Überdies berichtet man, dass Al-Asch’ari die Entscheidung, seinem Meinungswandel öffentliches Aufsehen zu verleihen, nach einem Traum, in dem der Prophet persönlich ihm erschienen sei, gefällt habe. Wie dem auch sei, es steht fest, dass er die Auffassung der Mutazila im Hinblick auf das theologische Problem der Versöhnung der Gerechtigkeit Gottes (das heißt die Belohnung oder Bestrafung der Handlungen gemäß ihrer Natur) mit der Barmherzigkeit Gottes (das heißt mit seiner Fähigkeit, schlechte Taten zu tilgen oder den Wert der guten zu steigern) für unbefriedigend hielt. Dieser intellektuelle und religiöse Streit wurde seinerseits in den Erzählungen, die davon überliefert sind, hochgespielt. Al-Asch’ari habe eines Tages seinem früheren Meister al-Dschubba’i (gestorben 915) folgende knifflige Frage vorgelegt: Drei Brüder haben dieselbe Erziehung erhalten; der erste wird bei seinem Tod für seine guten Taten belohnt und kommt ins Paradies; der zweite, der ein Sünder war, wird bestraft und gelangt in die Hölle; der dritte, der im Kindesalter starb, ohne Gut und Böse zu kennen, gelangt in den Limbus. Auf diese Weise, so scheint es, wird die algebraische göttliche Gerechtigkeit, wie die Mutazila sie denkt, gewahrt. Doch nehmen wir an, führt Al-Asch’ari aus, dass der dritte Bruder Gott fragt: „Warum hast du mir nicht zu leben erlaubt, um wie mein Bruder Gutes zu tun?“ Worauf der zweite Bruder, der Verdammte, noch nachlegt: „Warum hast du mich nicht als Kind sterben lassen, um mir das Leben zu ersparen, das mich in die Hölle geführt hat?“ Die Geschichte besagt, dass der verblüffte Al-Dschubba’i nicht wusste, was er seinem Schüler antworten sollte, der sich daraufhin von ihm trennte.

Die Aschariya ist ein geistlicher und dann geistiger Aufstand gegen die Vorstellung eines Gottes, der ganz Vernunft ist und schließlich in seiner transzendenten Durchsichtigkeit abstrakt und unverständlich geworden ist. Sie ist das Verlangen nach einem persönlichen Gott, dessen Attribute es erlauben, ihn anzurufen, denn er hat sich für uns in seinem Buch die schönsten Namen gegeben; sie ist der Ruf nach einem Gott, an den es Sinn hat, ein Gebet für die kleinen und großen Dinge zu richten, um das Unvermeidliche zu vermeiden, und der für eine Träne bereit ist, die Sünden eines Lotterlebens zu vergeben. Ohne „wie?“. Die Vernunft wird nicht aufgegeben, im Gegenteil: Das ascharitische Kalam verlangt, dass sie den Weg anzeigt, dass an ihrem Ende und als ihre äußerste Spitze sich authentisch und rein das Gebet erhebt, das aus der Verwirrung entsteht und die Begegnung mit Gott bewirkt.

Die Aschariya ist, vereinfacht gesagt, eine Reaktion auf die Exzesse des Rationalismus, und die Mutazila und die Aschariya stellen, noch vereinfachter gesagt, über ihre theologischen Unterschiede hinaus zwei Haltungen, zwei Geisteshaltungen dar, die in immer erneuerten Formen um das Feld des islamischen Denkens kämpfen. Die Mutazila umfasst natürlich äußerst unterschiedliche Theologen, aber man kann in ihr einen Geist, einen philosophischen Geist, sehen, der den Wagemut der Vernunft teilt, im Gegensatz zum Geist der Aschariya, der bemüht ist, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, indem er sie nicht den spekulativen Exzessen aussetzt, aus denen eine Trennung der Eliten vom Volk sowie Divergenzen innerhalb dieser Eliten hervorgehen könnten. Die Philosophie ist im Islam mit dem mutazilitischen Geist verbunden, während die Aschariya die berühmteste Verdammung der Philosophie, nämlich durch Ghazali im 11. Jahrhundert, inspiriert hat.

Die Mutazila ist nicht nur eine geschichtlich verortete Schule, sondern markiert vor allem die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Philosophie im Islam. Wenn heute die Notwendigkeit sich aufdrängt, das religiöse Denken des Islams wiederzubeleben, um ein Werk des indischen Philosophen Muhammad Iqbal (1877–1938) zu zitieren, dann tritt der mutazilitische Geist wieder zutage; er findet sich ausgesprochen in bestimmten Thesen der Reformatoren des Islam wie des Ägypters Mohammed Abdou (gestorben 1905), des Inders Ameer Ali (gestorben 1928) oder derjenigen, die heute die Aufgabe weiterführen, die Modernität, die der Islam in sich trägt, ans Licht zu bringen, indem sie die Möglichkeiten einer inneren Reform der Religion freilegen.

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