Читать книгу Philosophieren im Islam - Souleymane Bachir Diagne - Страница 8

Vorwort zur deutschen Ausgabe

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Im Jahr 2008 wurde dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Der Titel warf die Frage auf, welche Bedeutung man einem „Philosophieren im Islam“ geben könne. Die Entscheidung für diese Formulierung drückte den Wunsch aus, nicht nur zu den ausgezeichneten bestehenden „Geschichten der islamischen Philosophie“ ein paar Kapitel hinzuzufügen, sondern mittels der hier diskutierten Persönlichkeiten und Texte zwei Zielen näherzukommen, die mir heute besonders wichtig erscheinen: erstens der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte und ihrer Lehre; zweitens, daran zu erinnern, dass der Islam vor allem eine intellektuelle und geistige Tradition darstellt, die auch in unserer Zeit offen ist für die Diskussion der Probleme, mit denen wir weltweit konfrontiert sind.

Was bedeutet es also, die Philosophiegeschichte zu entkolonialisieren, und inwiefern trägt Philosophieren im Islam zu dieser Entkolonialisierung bei? Man kennt den mittelalterlichen lateinischen Ausdruck der translatio studii (oder im Plural: studiorum), der verwendet wurde, um von der Vermittlung des philosophischen Wissens Griechenlands zu sprechen. Die Lehre der Philosophiegeschichte, so wie sie im Abendland und in der Welt, die seinem Einfluss unterliegt, kanonisiert wurde, hat dieser Übertragung die Bedeutung des kontinuierlichen und in bloß in eine Richtung verlaufenden Wegs gegeben. Dieser Weg habe von Athen nach Rom und von Rom zu den anderen großen europäischen Universitätsstädten, nach Heidelberg, Paris und London geführt. Die translatio bleibt somit eine ausschließlich europäische Angelegenheit und die Philosophie kann nur das besondere telos dessen sein, was Edmund Husserl die „europäische Menschheit“ genannt hat.

Das ist jedoch nicht die Definition, die Roger Bacon (1214–1294) von diesem Schlüsselbegriff des Mittelalters gegeben hat, als er erklärte, dass Gott die Philosophie zuerst seinen „Heiligen“ in hebräischer Sprache gegeben habe, dass sie danach in griechischer Sprache, vornehmlich von Aristoteles, erneuert worden sei, bevor das abermals in arabischer Sprache, vor allem durch Avicenna, geschehen ist. Und hinsichtlich des Lateinischen fügt er hinzu, dass es Übersetzungen ausgehend von Fremdsprachen erhalten hat, aber dass in dieser Sprache keine Philosophie „gebildet“ worden ist.1

Der erste Akt der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte besteht also darin, die Wirklichkeit der translatio studii, von der Bacon spricht, der späteren Erzählung entgegenzusetzen, die sie als Ausdruck einer Ausnahmestellung Europas konstruiert. Die Wirklichkeit besteht darin, dass die Weitergabe Wege eingeschlagen hat, die sie von Athen nach Nischapur, Cordoba, Fez und Timbuktu, ins Herz von Westafrika geführt hat. Diese Wirklichkeit sagt auch, dass die Philosophie nicht natürlicherweise, wesentlich oder notwendigerweise Griechisch, Lateinisch, Deutsch oder irgendeine andere Sprache Europas spricht: Sie spricht auch Arabisch und andere Sprachen der moslemischen Welt. In diesem Buch findet sich auch ein Kapitel über die Frage des Philosophisch-Werdens einer Sprache durch die translatio. Es wird darin die Geschichte der Übersetzung der griechischen Philosophie diskutiert, aber mehr noch die moderne Frage, wie viel die philosophischen Kategorien, für so universell man sie auch halten mag, den Kategorien unserer Sprachen verdanken.

Ich wollte, dass dieses Buch auch mit einem Kapitel endet, das eine malinesische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts präsentiert, nämlich Tierno Bikar Salif Tall, genannt „der Weise von Bandiagara“. Dieses Kapitel verfolgt mehrere Ziele. Ein erstes Ziel besteht darin, daran zu erinnern, dass der Weg der translatio studii durch Nordafrika auch ins Herz von Westafrika führt, in die Zentren der Gelehrsamkeit und Bibliotheken, deren bedeutendstes Timbuktu ist, die kulturelle Hauptstadt der Reiche von Mali und Songhay. Dass die Sahara also keine Mauer ist, die zwei afrikanische Welten trennt, den Maghreb und das, was Hegel „das eigentliche Afrika“ nannte, als er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von diesem Kontinent sprach. Der „Weise von Bandiagara“ im Zwanzigsten Jahrhundert ist also hier ein Zeuge für eine intellektuelle und spirituelle Tradition, die mit der Islamisierung Westafrikas entstand und die also zumindest bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht. Gegen einen bestimmten Ethnozentrismus innerhalb der muslimischen Welt, der Afrika südlich der Sahara, was seinen intellektuellen und spirituellen Beitrag zur islamischen Zivilisation betrifft, für eine Randregion hält, versucht dieses Kapitel auch daran zu erinnern, dass man die Geschichte des philosophischen Denkens ebenso gegen einen solchen Ethnozentrismus verteidigen und entkolonialisieren muss. Schließlich war ein wesentliches Ziel dieses Kapitels natürlich, die für unsere Zeit wichtige Lehre des Pluralismus und der Toleranz zu beleuchten, die die Lehre des „Weisen von Bandiagara“ trägt, die ich am Ende die Weisheit der Liebe genannt habe.

Das führt mich zur zweiten großen Zielsetzung dieses Werks, das sich aus den Vorlesungen über Islamische Philosophie speist, die ich an den Universitäten von Dakar und der Northwestern University gehalten habe und heute an der Columbia University noch immer halte. Es ist wichtig, die Philosophie in der muslimischen Welt als einen Moment und einen Aspekt der Philosophiegeschichte zu lehren, weil es in unserer weitgehend über die Geopolitik des Islamismus gespaltenen Welt notwendig ist, daran zu erinnern, dass der Islam eine intellektuelle und spirituelle Tradition darstellt; dass philosophieren auch in dieser Tradition heißt zu zweifeln, zu untersuchen, in Frage zu stellen, zu argumentieren und zu interpretieren. Das macht aus dem Denken im Islam das, was Henri Bergson eine dynamische Religion genannt hat, die eine offene Gesellschaft beständig beseelen muss. Das ist das Projekt von Muhammad Iqbal, einem modernistischen Autor, dessen Philosophie über das Kapitel, das sich ihm hier widmet, hinaus diesem Buch den allgemeinen Tonfall und die grundsätzliche Orientierung verleiht.

Philosophieren im Islam

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