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3.

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Auf den Mauersockeln saßen zwei Adler aus Sandstein und bewachten die Einfahrt. Das schwarzlackierte, schmiedeeiserne Tor war geöffnet.

Bruno Frederiksen bremste. Die Vorderreifen des zivilen Polizeiwagens hielten exakt vor der Chausseepflasterung des Privatweges.

»Hier sind wir doch richtig, oder?«

Anders Bojskov guckte noch einmal auf die schwarze, handgeschmiedete Eins am rechten Sockel der Einfahrt.

»Ja.«

Er verstand, warum Bruno beeindruckt war. Engskiftet Nr. 1 in Ryvangen, das war nicht irgendeine Adresse. Es war vornehm. Dieses Gebäude ließ sich wahrscheinlich nur durch eine Anzeige in der Tageszeitung Børsen verkaufen. Der Haupttrakt der Villa bestand aus zwei Flügeln; Erker und große Schornsteine mit seltsamen Verzierungen unterbrachen das schwarze, glänzende Ziegeldach. Englischer Countrystil. Vermutlich überstiegen die Heizkosten einer Saison das Jahresgehalt eines Kriminalbeamten. Trotz der weißgekalkten Mauern, die im Licht der Straßenlaternen bläulich schimmerten, lag eine düstere Stimmung über der Villa. Vielleicht lag es an den dunklen Dächern oder an der alten Eibe, deren Zweige weit über die Treppenanlage hingen.

Bruno fuhr den Wagen langsam auf den Hof. Vor einem Anbau von der Größe eines Reihenhauses stand ein nagelneuer Rover. Dem Tor nach zu urteilen, schien dies jedoch die Garage der Familie Kramer zu sein.

»Hat sie nun den Arzt der Familie oder den Anwalt der Firma kommen lassen?«

Anders kontrollierte noch einmal, ob der Notizblock an seinem Platz in der Jackentasche war. Man mußte ziemliches Selbstbewußtsein entwickeln, um auf der Haupttreppe der Villa keine Minderwertigkeitsgefühle zu bekommen. Die Klingel war aus altem Messing, gab aber ein sehr synthetisches, elektrisches Geräusch von sich.

Ein älterer Herr in einem unauffälligen, blauweiß-gestreiften Sommeranzug öffnete.

»Guten Abend, Kriminalpolizei.«

Bruno hatte die Hand an der Polizeimarke. Überflüssig – sie wurden offensichtlich erwartet.

»Manfred Biehle. Kommen Sie herein.«

Gut, daß ich Inge dazu überreden konnte, etwas Gedeckteres anzuziehen, dachte Biehle, als er die Beamten in Kramers Bibliothek führte. Braungebrannte Brüste in einem weitausgeschnittenen und nicht ganz undurchsichtigen Sommerkleid könnten sie auf die Idee bringen, Inge Kramer hätte ihren Mann wegen eines Liebhabers umgebracht. Biehle hatte keine Ahnung, wie die Polizei vorging, aber er hatte genügend Phantasie, sich vorzustellen, welche Gedanken sich schlechtbezahlte Kripoleute machen können.

»Nehmen Sie bitte Platz. Frau Kramer kommt gleich. Wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich hier.« Biehle zuckte mit den Schultern, ein Appell um Verständnis. »Sie war außer sich in den letzten Stunden.«

Bruno räusperte sich. Sie hatten abgesprochen, daß er das Gespräch führen sollte.

»Sie sind ein Freund des Hauses?«

»Ja. Ich kenne die Kramers seit vielen Jahren.«

»Und nun wollen Sie Frau Kramer beschützen?«

»Nein, unterstützen.«

»Wissen Sie, wie Kramer ums Leben kam?«

»Die Polizei war bereits einmal hier. Höfliche und verständnisvolle Kollegen von Ihnen, wenn ich so sagen darf.«

»Ich werde das Kompliment weiterleiten«, antwortete Bruno ironisch. »Sie werden verstehen, daß wir nicht gekommen sind, um Frau Kramer noch einmal zu unterrichten. Wir sind aus dem einfachen Grund hier, von Frau Kramer mehr über das Leben und die Gewohnheiten Ole Kramers zu erfahren. Je mehr wir wissen, umso schneller werden wir seinen Mörder einkreisen können. Aber wenn es Ihnen ungelegen ist, daß wir Frau Kramer hier vernehmen, fahren wir gern mit ihr aufs Präsidium.«

»Um Gotteswillen nein. Sie würde es nicht ertragen.«

Manfred Biehle drehte sich um. Er hatte getan, was er konnte. Gut, daß er Zeit gehabt hatte, Inge auf stupide und geradezu beleidigende Fragen vorzubereiten.

Bruno Frederiksen und Anders Bojskov nutzten die Zeit, um sich in der Bibliothek umzusehen. Es war kein kleines Zimmer. Nicht diese wie Meterware eingekauften Lederbände. Kramers Bibliothek schien aus mehreren tausend Bänden zu bestehen. Sehr viel Fachliteratur war darunter.

Militaria und Ledermöbel verliehen dem Raum einen maskulinen Anstrich.

Aus dem Flur hörten sie das Geräusch harter Absätze. Eine braungebrannte Frau mit knisterndschwarzem Haar trat ein.

Anders Blick klebte an ihren nadelspitzen, hohen Absätzen. Nicht, weil er ihre Beine bewundern wollte, sondern weil er hoffte, am Gang erkennen zu können, ob Inge Kramer den Schock mit Alkohol oder Pillen bekämpft hatte.

Ohne jede Gleichgewichtsstörung setzte sich Inge Kramer auf das Ledersofa und zog den Rocksaum über ihre übergeschlagenen Beine. Anders hatte nicht gerade das Gefühl, einer jungen Witwe gegenüberzusitzen, deren Mann vor noch nicht allzu langer Zeit brutal ermordet worden war.

»Ich habe die Nachrichten gehört. Sehr viel haben Sie bisher ja nicht herausgefunden.«

»Darum sind wir hier. Vielleicht können Sie uns helfen«, antwortete Bruno.

»Vielleicht. Ich weiß bloß nicht wie. Ole hat immer gesagt, je weniger du vom Geschäft weißt, desto besser. Das war wohl richtiger, als er ahnte.«

»Warum glauben Sie, daß der Mord etwas mit der Firma zu tun hat?«

»Es muß so sein. Wir haben schließlich keine Schwachsinnigen in der Familie.«

»Hat sich Ihr Mann jemals wegen seiner Arbeit bedroht gefühlt?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Dennoch glauben Sie an eine Verbindung?«

»Ja. Ich kann Ihnen das nicht erklären. Ich glaube nur, daß es so sein muß.«

»Hatten Sie das Gefühl, daß Ihr Haus beschattet wurde?«

»Niemals. Das Haus ist mit allen möglichen elektrischen Alarmsystemen gesichert. Einbrecher kämen hier nicht weit.«

»Haben Sie wertvollen Schmuck oder Silber im Haus?«

Anders saß wie ein Statist neben Bruno. Er hatte seinen Notizblock auf den Knien.

»Mein Schmuck ist normalerweise im Safe. Das Silber benutzen wir natürlich. Sonst wäre es ja sinnlos.«

»Ist es wertvoll?«

»Ole hat es geerbt. Uralt ist es, mit Stempeln und was sonst noch dazu gehört.«

»Klingt so, als würden Sie sich nicht viel draus machen?«

»Mag sein. Ich benutze es, weil es schön ist, nicht, weil es teuer ist.«

»Brachte Ihr Mann manchmal Arbeit mit nach Hause?«

»Das kam vor. Gewöhnlich saß er dann hier.«

»Allein?«

»Ja. Ich hatte nie den Wunsch, für ihn die Sekretärin zu spielen. Elektronik bedeutet für mich, auf Knöpfe zu drücken.«

»Wissen Sie, ob er Konstruktionszeichnungen hier hatte?«

»Keine Ahnung. Ich pflege nicht in fremden Taschen zu wühlen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.« Inge Kramer sah Bruno herausfordernd an.

Er schien es zu übersehen.

»Durch die Alarmanlagen haben Sie sich also sicher gefühlt. Erinnern Sie sich noch, wann sie eingebaut wurden?«

»Vor zwei Jahren. Andersson, ein Ingenieur aus Lundtofte, erledigte es.«

»Sprachen Sie darüber?«

»Sie meinen Ole und ich? Natürlich. Damals wurde hier in der Gegend ziemlich viel eingebrochen, und die Polizei klärt ja nicht alles in ein paar Stunden auf.«

»Es lag also nicht daran, daß sich Ihr Mann bedroht fühlte?«

»Davon sagte er nichts. Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

Bruno Frederiksen räusperte sich. »Wir vermuten, daß die Gewohnheiten Ihres Mannes untersucht wurden. Offensichtlich haben wir es mit einem sehr sorgfältig geplanten Mord zu tun. Deshalb ist es so wichtig, daß Sie uns alles erzählen, was Sie wissen.«

»Das mache ich ja. Aber so gern ich möchte, ich kann Ihnen nicht mehr über die Firma sagen. Sie müssen sich mit Holm unterhalten.«

Anders betrachtete Inge Kramers Hände. An ihren geballten Fäusten traten die Knöchel weiß hervor.

»Wer ist Holm?« wollte Bruno wissen.

»Erling Holm war Oles Kompagnon.«

Inge Kramers Schultern zitterten. Die erste Träne lief ihr über die Backe. Dann verlor sie die Beherrschung und ließ den Tränen freien Lauf.

»Bitte fragen Sie jetzt nicht weiter.«

Das Abblendlicht der Limousine erwischte vier schwarze Gestalten. Weiße Reflexstreifen am Saum der Polyesterjacken warfen das Scheinwerferlicht zurück. Wie eine Straßensperre sah es aus. Eine hellrote Handfläche forderte zum Halten auf.

Erling Holm drehte das linke Seitenfenster herunter. Eine unfreundliche Stimme kam ihm zuvor.

»Hier können Sie nicht durch.«

»Aber ...«

»Kein aber. Weiterfahren. Der Platz ist gesperrt.«

Holm stieg aus.

»Wenn Sie nicht weiterfahren, muß ich Sie festnehmen. Es ist jetzt ...«

»Nun mal mit der Ruhe«, besänftigte Holm den aufgebrachten Beamten. »Ich glaube, es wäre sinnvoller, Sie informieren Ihre Kollegen von der Kripo. Mein Name ist Erling Holm, und ich bin gekommen, um der Kriminalpolizei das Hauptbüro der Firma Dantec aufzuschließen. Aber vielleicht sagt Ihnen der Firmenname nichts.«

Der Polizist hob sein Walkie-Talkie. Holm verstand nicht, was er sagte, aber der Beamte nickte und nahm plötzlich Haltung an, als stünde er einem Vorgesetzten gegenüber. Er winkte Holm ein. »Bitte parken Sie gleich dort drüben. Leider werden Sie das letzte Stück zu Fuß gehen müssen.«

Die Parkplätze, der Fußweg und der gesamte Eingangsbereich der Dantec waren mit starken Scheinwerfern ausgeleuchtet. Die größte Wattzahl konzentrierte sich allerdings auf eine dunkelrote Lache auf dem Asphalt.

Holm bemerkte die dünnen Rinnsale, die sich bis zur Bordsteinkante zogen. Nach der Größe der Blutlache zu schließen, hatte Ole nicht mehr lange zu leben gehabt, wenn die Schüsse nicht sofort tödlich waren.

Die Kreidelinien der Polizei beschrieben nur unvollständig den Umriß einer liegenden Person. Das geronnene Blut hatte die komplette Zeichnung verhindert.

Am Rand des Lichtkegels standen zwei Volvo Stationcars. Zivilbeamte verstauten Fotostative und große schwarze Ledertasehen. Vier, fünf andere umstanden im Halbkreis einen aufgeregt gestikulierenden Mann in einer karierten Tweedjacke. Sie mußte unerträglich warm sein an diesem milden Sommerabend.

Holm ging auf die Gruppe zu. Der Mann in der Tweedjacke verstummte und drehte sich um.

»Herr Holm?«

»Das bin ich.«

Der Polizist streckte die Hand aus und stellte sich als Kriminalinspektor Valdemar Henriksen vor.

Die Armbanduhr des Inspektors piepte. Es war zwölf Uhr.

»Gut, daß Sie nicht Seeland Rund1 gesegelt sind. Wir hätten Sie sonst mit einem Hubschrauber holen müssen.«

Valdemar Henriksen trat aus dem Licht. Holm folgte ihm.

»Ich denke, wir kommen nicht weiter, bevor wir uns nicht unterhalten haben. Können Sie uns das Büro aufschließen oder wollen wir aufs Präsidium?«

»Ich und die Räume der Dantec stehen der Polizei zur Verfügung«, antwortete Holm. Es klang etwas zu servil.

»Ausgezeichnet. Einer meiner Mitarbeiter kommt gleich. Ich möchte ihn als meinen Assistenten gern dabei haben.«

Holm drehte sich zu den Männern der Spurensicherung um. »Sie haben den ganzen Platz absperren lassen. Haben Sie schon eine entscheidende Spur?«

»Man weiß vorher nie, was entscheidend ist«, brummte Henriksen. Er dachte im Moment mehr an Winther als an die labortechnischen Untersuchungen.

Henriksen war Vizekommissar, als Winther – damals noch ein grüner Kriminalassistent – ins Betrugsdezernat kam. Er hatte den langen Burschen mit dem Pferdegesicht gleich gemocht. Winther war so häßlich, daß er aus seinem Aussehen psychologische Vorteile hätte ziehen können. Aber das tat er nicht. Er erarbeitete sich seine Ergebnisse. Für Henriksen war es ein schwarzer Tag, als Winther das Polizeipräsidium verließ, um beim Geheimdienst anzufangen. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen während des Weltbanktreffens in Kopenhagen wurden dort junge Leute gesucht. Die Kombination von Geheimdienstarbeit und möglicher Karriere war für Winther zu verlockend gewesen.

Jetzt hatte Henriksen erfahren, daß Winther noch immer Kripoassistent war.

Das Firmenschild an der Treppe war eher bescheiden, aber spätestens im Vorzimmer der Dantec war nicht mehr zu übersehen, daß es der Firma sicherlich nicht an Geld, zumindest aber nicht an guten Bankverbindungen fehlen konnte. Die Holzpaneelen und die Stuckdecke stammten noch aus der Zeit, als das Gebäude nur aus Herrschaftswohnungen bestand. Allerdings fehlten die Kronleuchter. Vermutlich waren sie verkauft worden, als man sich keine Dienstmädchen mehr leisten konnte. Kronleuchter hätten in diesen Raum vorzüglich gepaßt; die großen Arne-Jacobsen-Lampen aus Kupfer harmonierten jedoch mit den Möbeln aus Leder, Kunststoff und Stahl. Und mit der modernen Kunst an den Wänden. Gemälde in kräftigen, fast schreienden Farben. Frauenbeine in Stiefeln, die eine Treppe hinaufgingen; die Ausschnittvergrößerung eines lachenden Frauengesichts; wohlgeformte Brüste in einem Bikini. Und als Kontrast eine Radierung, die einen langhaarigen, dicken jungen Mann zeigte. Vielleicht ein müder Revoluzzer, der sich mit Kartoffelchips und Hefestücken aufgepumpt hatte.

Erling Holm führte die Beamten einen langen Gang entlang und schaltete im Konferenzzimmer Licht ein. Der Raum hatte keine Fenster, in die lärmschluckenden Deckenplatten war eine ansehnliche Batterie von Spots eingelassen. An der Tür hing eine Armaturenleiste mit Dimmer zur stufenlosen Regulierung von Licht und Ventilation.

Der Konferenztisch bot Platz für einige Dutzend Personen. Valdemar Henriksen setzte sich als Erster.

Selbst in dem weichen Licht der Deckenbeleuchtung wirkte Holms Gesicht zerstört. Harte, tiefe Furchen hatten sich von Augen- und Mundwinkeln aus ihren Weg gegraben. Ein Mann mit Sorgen, dachte Winther. Und die hat er nicht erst seit heute.

Holm strich sich die dunkle Stirnlocke zurück.

»Wann haben Sie zuletzt mit Ole Kramer gesprochen?« fragte Henriksen.

»Heute nachmittag.«

»Hier?«

»Nein, in unserer Forschungs- und Produktionsabteilung in Lundtofte. Ich habe hauptsächlich dort zu tun.«

»Können Sie sich etwas genauer an den Zeitpunkt erinnern?«

»Ich glaube, es war viertel nach drei.«

»Wirkte Kramer nervös oder ängstlich?«

»Überhaupt nicht. Er war genauso beschäftigt und aktiv wie immer.«

»Stellen wir uns einmal vor, ein Konkurrent oder eine terroristische Vereinigung will Dantec den größtmöglichen Schaden zufügen. Wen würden Sie sich aussuchen, den Direktor oder ein, zwei leitende Angestellte? Vielleicht aus der Entwicklungsabteilung?«

Holm saß ein Kloß im Hals. »Genau dasselbe habe ich mich auf dem Weg in die Stadt gefragt.«

»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«

»Daß es zufälligerweise nicht mich getroffen hat. Ich sage das nicht, um mich bedeutender zu machen, als ich bin. Aber es wäre kaum jemand in der Lage, ohne mich meine Projekte weiterzuführen.«

»Auch Ole Kramer nicht?«

»Er war zuständig für die wirtschaftlichen Belange der Firma. Und für den Verkauf. Natürlich konnte er als Ingenieur beurteilen, woran ich arbeite, nur – Entwicklungsarbeit ist ein wenig mehr, als nur Meßergebnisse abzulesen, aufzuschreiben und dem nächsten mit der Gewißheit weiterzugeben, daß das Projekt dann klappt. Entwicklung und Forschung sind kreative Prozesse – manchmal genügt einer, ein andermal ist eine ganze Gruppe notwendig, um den gewünschten Generator- oder Katalysatorprozeß zu erreichen. Verstehen Sie?«

Henriksen nickte. Klang wie ein Rezept für polizeiliche Ermittlungen. Vielleicht hatte er Holm doch nicht richtig verstanden.

»Wie war ihr Verhältnis zu Ole Kramer?«

»Meinen Sie mein persönliches Verhältnis oder das der Gesellschaftsform?«

»Beides.«

»Unser persönliches Verhältnis war ausgezeichnet. Ohne jede Spannung, obwohl ...« Holm unterbrach sich. »Ja, obwohl Ole mir vor sechs Jahren meine Frau ausspannte.«

»Inge Kramer ist Ihre frühere ...?«

»Ja.«

»Hm, sowas kann vorkommen«, bemerkte Henriksen verständnisvoll.

»Genau so habe ich es auch gesehen. Die Liebe ändert sich wie das Wetter. Heute Sonnenschein in Jütland, morgen vielleicht auf Bornholm.«

»War es eine glückliche Scheidung?«

»Halten wir uns an die Tatsachen. Eine Scheidung zwischen erwachsenen Menschen. Unsere privaten Beziehungen berührten allerdings die Zusammenarbeit bei Dantec überhaupt nicht.«

»Wie sehen die Eigentumsverhältnisse denn aus?«

»Ole hielt 51 % des Aktienkapitals, ich 49%.« »Ihre Ex-Gattin sitzt nun also auf dem entscheidenden Anteil.«

»Nein. Das haben wir in einer Aktionärsvereinbarung geregelt. Im Todesfall hat der Erbe einen kleinen Anteil an den länger Lebenden der Firmengründer zu verkaufen. Wir empfanden das beide als angemessen, als wir die Firma gründeten.«

»Aha«, murmelte Henriksen und starrte Holm an.

Der Entwicklungschef verzog keine Miene. »Tja, wenn es Ihnen nur darum geht, jemanden mit einem ordentlichen Motiv zu finden, bin ich sicher Ihr Mann. Allerdings vermute ich, daß Sie mein Alibi kontrollieren. Seit sechs bin ich auf dem Sund gesegelt, Namen und Adressen der Besatzungsmitglieder können Sie selbstverständlich bekommen.«

»Danke. Im Augenblick interessieren mich die Aktienverhältnisse der Dantec mehr. Mindestens zwei Prozent müßte Ihnen also Kramers Erbe verkaufen, damit Sie die Gesamtkontrolle über die Firma bekommen?«

»Ja, dann könnte ich den ganzen Laden verkaufen und mich in irgendeine Steueroase zurückziehen.«

»Was käme bei so einem Handel raus?«

»Exakt auf die Million schwer zu sagen. Jedenfalls genug, um den Rest meiner Tage sorgenfrei zu verbringen.«

»Haben Sie schon mal dran gedacht?«

»Natürlich nicht. Offenbar habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Wenn Ihr Kollege meine Antworten notiert hat, werden Sie nachlesen können, daß nicht einmal die Scheidung einen Keil zwischen Ole und mich treiben konnte. Seine Ermordung erhöht nur meine Verantwortung gegenüber unserem gemeinsamen Werk und den Angestellten. Dantec ist nicht zu verkaufen und wird auch nicht zu verkaufen sein, solange ich es verhindern kann.«

»Idealismus kann auch lästig werden«, reagierte Henriksen auf Holms pathetischen Ausbruch.

»Geld regiert nicht meine Welt.«

»Sehen Sie, Herr Holm, ich denke an ein ganz einfaches, billiges, mechanisches Gerät. Eine Pistole. Man kann eine Menge damit anstellen.« Henriksen lächelte. Erling Holm saß mit offenem Mund da. Henriksen ließ ihn einige Sekunden zappeln.

»Wenn Sie wirklich für die Dantec wichtiger sind als Ole Kramer, setzen Sie sich akuter Lebensgefahr aus, sobald Sie das Haus verlassen. Das ist Ihnen hoffentlich klar.«

Holms volle Unterlippe fiel noch ein Stückchen herunter.

»Herr Inspektor, ist das Ihr Ernst, oder wollen Sie mir nur Angst einjagen, damit ich irgend etwas Unüberlegtes sage?«

»Was nützt es mir, wenn Sie die Hosen vollhaben? Ich hoffe nur, Sie sehen ein, daß es nur Ihrer eigenen Sicherheit dient, wenn Sie uns endlich alles erzählen, was Sie über Ole Kramer wissen. Ich glaube nämlich nicht an die Version, daß irgendein zufällig vorbeispazierender Verrückter hier herumgeballert hat. So lief das nicht, Herr Holm. Ole Kramer wurde sehr gezielt getötet. Vielleicht hängt es mit irgendwelchen privaten Geschichten zusammen, wahrscheinlicher ist aber, daß wir hier in der Firma nach der Erklärung zu suchen haben. War Kramer möglicherweise in obskure Geschäfte verwickelt?«

»Völlig ausgeschlossen. Die Dantec macht keine schmutzigen Geschäfte. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Über Kramers private Verhältnisse kann ich mich allerdings nicht äußern. Wenn man das hinter sich hat, wovon ich Ihnen erzählte, gibt es gewisse Fragen, die man nicht mehr stellt. In geschäftlichen Dingen hingegen gab es keinerlei Geheimnisse zwischen uns. Sonst hätten wir ja gar nicht so zusammenarbeiten können.«

Valdemar Henriksen erhob sich. »Wir würden uns gern mal Ole Kramers Büro ansehen. Haben Sie den Schlüssel?«

Holm saß zusammengesunken und abwesend da. »Entschuldigen Sie, was ...?«

»Können Sie uns Kramers Büro aufschließen oder müssen wir Gewalt anwenden?«

»Wenn es jetzt sofort sein soll, müssen Sie die Tür gewaltsam öffnen.«

Holm faßte sich und führte die beiden Männer hinter den Empfang. Er zeigte auf eine schön gezimmerte Tür ohne Namensschild.

»Ole hatte das Büro zur Straße.«

Winther sah sich das Schloß genauer an. Alte, schöne Schlosserarbeit. Es aufzubrechen, wäre Vandalismus.

»Ich frage mal die Spezialisten, ob sie einen Dietrich dabei haben.«

»Mach das. Hauptsache, es geht schnell«, knurrte Henriksen.

Winther schnaufte, als er mit dem Dietrich zurückkam. Das Schloß hätte er vielleicht auch mit einer aufgebogenen Heftklammer aufbekommen, doch wäre das möglicherweise nicht in Henriksens Sinn gewesen. Nicht, wenn Zeugen dabei waren.

»Die Presse will mit dir reden«, sagte Winther, als er mit dem Dietrich geöffnet hatte.

»Die sollen warten«, entgegnete der Inspektor unfreundlich und ging zum Fenster. Er blieb einen Moment stehen und sah sich die Männer der Spurensicherung an, die auf dem Kirchenvorplatz arbeiteten. Dann stellte er sich hinter Kramers Schreibtischstuhl.

»Von der Straße aus konnte er nicht gesehen werden«, bemerkte Holm.

»Aber das Licht.« Henriksen schielte auf die dünnen, weißen Stoffstreifen, die Gardinen darstellen sollten. Eine vertikale Stoffjalousie.

Henriksens dicke Finger glitten über die Rückenlehne von Kramers Bürosessel. Schöner Bezug. Bestimmt vier- bis fünfmal so teuer als der Standardstuhl, den die Einkaufszentrale einem Inspektor bewilligte.

Der Schreibtisch war schnell übersehen. Kein Stück Papier auf der glatten Mahagoniplatte. Nur ein Tageskalender von Time Manager. Henriksen zog ein Paar durchsichtiger Plastikhandschuhe an, blätterte in dem Terminkalender und nickte Winther dann zu.

»Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir den mitnehmen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Holm.

Der Inspektor griff nach einem Portraitfoto neben der Füllerablage. Eine gutaussehende Frau in enger Velourlederjacke lächelte den Betrachter an. Der Fotograf hatte hinter ihr eine Lampe aufgestellt, das Haar leuchtete wie ein hoher, aufgesteckter Kranz.

»Herr Holm, kommen Sie mal.«

Henriksen hielt den Ständer am Rücken des vergoldeten Rahmens fest.

»Ist das Ihre ehemalige Frau?«

»Ja, das ist Inge.«

Henriksen stellte das Bild zurück an seinen Platz und bemerkte erst jetzt den in die Wand gemauerten Tresor.

»Dafür haben Sie wahrscheinlich auch keinen Schlüssel?«

»Tut mir leid.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir ihn öffnen?«

»Sie dürfen tun, was Sie für notwendig erachten.«

»Winther, schick jemand in die Rechtsmedizin und laß nachsehen, ob Kramer die Kombination oder einen Schlüssel bei sich hatte.«

Holm ging unruhig auf und ab.

»Was Sie da über Pistolen sagten ... Glauben Sie, daß meine Familie in Gefahr ist?«

Henriksen zuckte die Schultern. »Ich möchte eigentlich nicht auf Ihre Unterstützung bei unseren Ermittlungen verzichten. Meine Leute werden Sie nach Hause begleiten.«

Bei der Mordkommission ging es in dieser Nacht zu wie in einem Bienenkorb. Nur kehrten die Arbeitsbienen nicht mit Beute zu ihrer Königin zurück. Valdemar Henriksen dirigierte und koordinierte das Ganze, Winther hatte er zu seinem Stellvertreter ernannt.

Eine Traumposition für Peter Winther. Ohne daß es auffiel, konnte er seine Doppelrolle spielen. Er nahm an den Ermittlungen teil und konnte alles dem PET berichten. Die Kollegen von der Mordkommission waren nicht einmal verärgert. Sie waren sich sicher, daß der Schnüffler vom Geheimdienst hauptsächlich mit Kaffeekochen oder Telefondienst beschäftigt sein würde.

Es war fast zwei, als Winther mit der ersten Thermoskanne und einem Stapel Pappbecher zu Henriksen kam. Winther hörte Schritte hinter sich. Kriminalkommissar Folmer Kristensen steckte beim Alten den Kopf rein.

»Die Vormittagszeitungen geben keine Ruhe. Was soll ich sagen?«

»So wenig wie möglich«, antwortete Henriksen kurzangebunden.

Kristensen griff sich einen Pappbecher und schenkte ein.

»Besser, du redest mit ihnen, Valdemar. Die begnügen sich nicht mit einem Kommissar, wenn ein Inspektor in Reichweite ist. Außerdem habe ich längst nicht den Überblick über die Sache wie du.«

»Deshalb bist du genau der richtige Mann für die Presse.«

Henriksen fing an, seinen Kaffee zu schlürfen. Die Audienz war beendet. Folmer Kristensen nahm seinen Becher mit hinaus.

»Verfluchte Scheiße, wo bleibt denn die Spurensicherung«, wurde Winther angeknurrt. »Es kann doch nicht so lange dauern, einen Safe zu öffnen, wenn man auf die Alarmanlage keine Rücksicht zu nehmen braucht. Übrigens, Winther, frag mal nach, ob Holm schon zu Hause ist. Danach versuchst du, was Eßbares aufzutreiben. Seit sechs Stunden habe ich nichts mehr im Magen.«

Als Winther zurückkam, leerten zwei Kollegen einen großen Pappkarton mit farbigen Aktenordnern. Henriksen saß am Schreibtisch und sah sich einen weißen Vogel an, der eingepackt in einer durchsichtigen Plastiktüte vor ihm lag.

Henriksen hob die Tüte an. »Was glaubst du, wo ich die gefunden habe?«

Winther beugte sich in seiner ganzen Länge über den Schreibtisch. »Das ist eine Friedenstaube. Früher hat man sowas auf Grabsteinen angebracht.« Er guckte den Inspektor skeptisch an.

»Lag sie im Tresor?«

»Ja. Ziemlich makaber, was?«

»Weiß Holm davon?«

»Entweder weiß er eine ganze Menge oder wirklich überhaupt nichts.«

»Hast du ihn im Verdacht?«

»Jedenfalls ist er eine Schlüsselfigur. Wenn intelligente Menschen den Naiven spielen wollen, bin ich auf der Hut.«

»Willst du ihn dir heute nacht noch mal vornehmen?«

»Nein, erstmal brauchen wir festen Grund unter den Füßen. Aber du kannst die Tonbandexperten beauftragen, sein Telefon anzuzapfen. Die Genehmigung besorgen wir uns morgen, wenn wir mehr Luft haben.«

Winther nahm den Bogen aus der Maschine und las den Bericht an seine Vorgesetzten ein letztes Mal zur Korrektur:

Notiz an den Polizeimeister und den stellvertr. Pol. m.:

Meldete mich um 0.12 bei Kriminalinspektor Valdemar Henriksen Abteilung A. VH befand sich am Tatort in der Frederiksgade und unterhielt sich mit Dir. Ing. Erling Holm, Miteigentümer der Firma Dantec. Anschließend wurde EH im Konferenzraum der Firma vernommen (Band anbei).

Nach der Vernehmung gestattete EH die Durchsuchung der Büroräume des Verstorbenen Ole Kramer. OK’s Safe wurde von der technischen Abt. geöffnet, der Inhalt zur Abt. A gebracht und von V und Unterzeichnendem untersucht. Außer Geschäftskorrespondenz und Belegen enthielt der Tresor eine Friedenstaube aus Marmor. Laut Aussagen des Labors ist sie von einem Grabstein entfernt worden. Die Taube wird heute auf Fingerabdrücke und weitere Spuren untersucht.

VH’s vorläufige Arbeitshypothese: OK wurde aufgrund familiärer oder geschäftlicher Schwierigkeiten ermordet. OK’s derzeitige Ehefrau war bis vor sechs Jahren mit EH verheiratet.

Zwischen OK und EH existiert eine Aktionärsvereinbarung, nach der die Erben eines Verstorbenen einen geringen Teil der Aktien an den länger Lebenden zu verkaufen haben, so daß bei unvorhersehbaren Ereignissen der verbleibende Gründer nicht die Kontrolle über die Dantec verliert. Die Aktienverteilung zwischen den Kompagnons: 51 % des Anteils bei OK, 49 % bei EH. (Bitte beachten Sie die Passage des Bandes, in der sich EH als die treibende Kraft der Firma bezeichnet.)

EH’s Privattelefon in Trørød wird ab sofort abgehört. Die Durchsicht der Papiere OK’s wird heute fortgesetzt.

Peter Winther. KA

Abgesehen vom Posten an der Ein- und Ausgangsschleuse war Winther der einzige Mensch in der Geheimdienstetage des großen Bürokomplexes. Er schaute aus dem Fenster. Die Sonne ging bereits auf, das Morgenrot versprach einen schönen Sommertag.

Winther leckte an dem billigen, hellbraunen Kuvert und verschloß es. Der Geschmack von Leim und zu vielen Zigaretten paßte nicht zusammen.

Er gab dem Posten den Brief mit der Bitte, ihn Trapp oder Møller zu übergeben, je nachdem, wer als erster kam.

»Dann werd ich ihn Møller geben«, meinte der Wachhabende, »es ist lange her, daß Trapp sich auf ’m Sonnabend hat blicken lassen.«

»Tschüs«, grüßte Winther und ging zu seinem mit Nachttau beschlagenen Wagen. Wenn er Glück hatte, konnte er noch drei, vier Stunden Schlaf finden.

Die Marmortaube

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