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1 Miteinander reden – der Dialog


Ein graues Telefon mit Drehscheibe, dick umwickelt mit einer Mullbinde. Ein Kassettenspieler, ebenfalls umwickelt, sodass die Töne nur noch schwer zu hören sind. So stellt die Künstlerin Barbara Meisner die Schwierigkeiten der Kommunikation in ihrer Kindheit dar. Über viele wichtige Themen wurde in ihrer Familie und ganz allgemein in Deutschland kaum gesprochen. Dazu gehören die traumatischen Erfahrungen der geburtenstarken Jahrgänge um 1940. Sie erlebten als kleine Kinder Krieg, Hunger, Tod, Flucht und Vertreibung in zerbombten Städten, auf dem Land oder auf endlosen Wanderungen in Richtung Westen. Nach dem Krieg prägten die Kriegskinder mit diesen schrecklichen Erfahrungen Deutschland. Sie bauten Institutionen der Sicherheit und Stabilität auf, für die wir alle dankbar sein können. Manchen jüngeren Menschen mit anderen Prägungen erscheinen sie heute als zu wenig flexibel.

Wie wenig über diese Traumata gesprochen wurde, das zeigte uns Barbara Meisner mit ihrer künstlerischen Darstellung auf einem Treffen der Kriegsenkel, also der Kinder der Kriegskinder. Da wurde mir klar, warum mir miteinander zu reden so wichtig ist und warum es manchmal schwer ist, dafür die passenden Foren und Mitstreiter zu finden.

Intensive, vertrauensvolle Gespräche

Das Schweigen über diese traumatische Zeit, auch über Schuld und Verantwortung der Großeltern, hat dazu beigetragen, dass wir in Deutschland und vermutlich anderswo den Dialog nicht praktiziert und erlebt haben. Mit Dialog meine ich aufbauend auf Sokrates, David Bohm, Martin Buber und William Isaacs ein intensives, vertrauensvolles Gespräch zwischen Menschen, das zu einem tieferen Verständnis füreinander führt und neue Möglichkeiten eröffnet. Dieser Dialog hat sich in meinen Projekten der letzten Jahre als Basis herauskristallisiert.

Zusätzlich zur Kriegserfahrung gibt es weitere Erklärungen dafür, warum echter Dialog in Deutschland und anderswo nicht leicht ist. In den letzten Jahrzehnten hat eine wissenschaftliche Disziplin die Gesellschaft hierzulande und weltweit besonders stark geprägt: die Volkswirtschaftslehre, die Disziplin, in der ich ein Diplom und einen Doktorgrad erhalten habe. Dort gibt es keinen Bedarf für Dialog. Nötig ist lediglich, dass die Marktteilnehmer ihre Preise, verfügbaren Mengen und Qualitäten sichtbar machen. Dann stellt jeder den passenden Warenkorb zusammen, Geld und Ware wechseln den Besitzer. Fertig. Wer nichts oder zu wenig verkauft hat, der scheidet aus dem Markt aus. Wer viel verkauft hat, hebt die Preise im nächsten Durchgang wahrscheinlich an. Ein Dialog über individuelle oder gesellschaftliche Bedürfnisse ist nicht notwendig. Über wünschenswerte Zukünfte muss nicht gesprochen werden, da in dieser Theorie der freie Markt die Wünsche der Menschen sichtbar macht. Der beste Weg in die Zukunft ist in dieser Erzählung eine Ausweitung des Marktes auf immer mehr Bereiche: Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung.

Das war das Mantra einer wachsenden Zahl von Volkswirten spätestens seit den 1980er Jahren. Als neoklassisch ausgebildeter Volkswirt war ich von 1997 bis 2008 bei der Investmentbank Merrill Lynch und in der Deutschen Bank mittendrin in dieser Erzählung. Und bin geflohen, da diese Grundideen in vielen wichtigen gesellschaftlichen Themen zu kurz greifen. Wir können unser Bildungssystem nicht allein vom Markt organisieren lassen, unsere Demokratie ebenso wenig und schon gar nicht unser so wichtiges Zusammenleben in Familie, Nachbarschaft und in den Städten. Gleiches gilt für Sicherheit, Umwelt, Kultur und Mobilität. Alles das sind die wichtigen Themen für die Lebensqualität der Menschen und die Zukunft unserer Gesellschaften. Ohne Dialog können wir diese Themen nicht zufriedenstellend angehen, können wir nicht herausfinden, was uns Menschen wirklich wichtig ist und wo Handlungsbedarf besteht.

Dialog und Hierarchie

Ein weiterer Punkt erschwert in Deutschland das offene, ehrliche Gespräch auf Augenhöhe: die Hierarchie. Manche Personen halten Dialog für nicht so wichtig, da sie an hervorgehobener Stelle sitzen und über die Zukunft entscheiden können. Hier wirken Prägungen aus dem Kaiserreich und den autoritären Regimen bis 1945 oder im östlichen Teil Deutschlands bis 1990 nach. Diese Prägungen setzen sich bewusst oder unbewusst bis in die Unternehmen und in die politischen Parteien hinein fort. Zugespitzt gefragt: Warum mit den einfachen Arbeitskräften reden, was wissen die schon? Warum im Gespräch mit der Wählerschaft bleiben, schließlich hat diese mich ja für fünf Jahre zu ihrem Repräsentanten gewählt?

Ein anderes Vorgehen sind wir noch nicht gewohnt, haben wir nicht geübt. Hierarchische Strukturen sind dann stabil, wenn die Anweisungen von oben weiter unten umgesetzt werden. So wollen sich heute immer weniger Mitarbeiter und Menschen verhalten. Sie sehen selbst, was funktioniert und was nicht. Sie haben reichhaltige Erfahrungen, die für den Erfolg einer Organisation und einer ganzen Gesellschaft wichtig sind. Diese Menschen wollen sich einbringen. Das heißt nicht, dass jeder über alles mitreden sollte. Rechtschreibung lernen Kinder nicht im Dialog. Fakten zum Klimawandel stehen nicht zur Diskussion. Das Potential des Dialogs ist aber noch lange nicht ausgeschöpft.

Die Kunst, gemeinsam zu denken

Die Tür zum Dialog hat für mich Heiko Roehl aufgemacht, nachdem er 2009 zur Eröffnungsfeier des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt gekommen war. Dort skizzierte ich unser Vorhaben, dem Thema Lebensqualität in Deutschland eine höhere Sichtbarkeit und mehr gesellschaftliche Relevanz zu verschaffen. Daraufhin sagte er mir: „Stefan, was Du hier vor hast, ist ein Veränderungsprozess auf der gesellschaftlichen Ebene. Schau Dir an, welche Methoden dazu auf der Ebene der Organisationen eingesetzt werden.“ Er verwies mich auf sein eigenes Buch zu „Mapping Dialogue“ und auf die bereits erwähnten Vordenker wie David Bohm und William Isaacs.

Für William Isaacs ist der Dialog die Kunst, gemeinsam zu denken und eine Konversation mit einer Mitte statt mit Seiten zu führen. Deshalb wird er üblicherweise in Kreisen abgehalten, wo niemand eine hervorgehobene Position hat. Issacs unterscheidet den Dialog von anderen Formen der Konversation. Für den kompetenten Umgang mit der Zukunft ist es wichtig zu wissen, welche Form man vorfindet oder gestalten möchte. Will man eine Debatte (von französisch débattre „(nieder-) schlagen“) haben, in der die Redner den jeweils eigenen Standpunkt geschickt in Worte kleiden und verteidigen? Den meisten Applaus erhält dort der mächtigere, lautere, eloquentere oder auch der witzigere Redner. Man hört nicht zu, um zu verstehen, sondern um an der eigenen Gegenrede zu feilen. Orte für Debatten sind Parlamente, Debattierclubs, Podiumsdiskussionen und abendliche Talkshows im Fernsehen. Die Rollen und der Ablauf sind klar, viel Neues kann so allerdings nicht entstehen. Zudem überzeugt man in einem solchen Format ohnehin nur selten sein Gegenüber. Vielleicht einige der Zuhörenden. Oder will man wenigstens eine Diskussion, in der man gemeinsam ein Thema untersucht und vielleicht zu einer Synthese der ursprünglichen Standpunkte kommt? Dann besteht mehr Offenheit dafür, vom anderen etwas zu lernen, dessen Argumente und Daten zumindest anzuerkennen und zu betrachten.

Isaacs geht es vor allem um die Möglichkeiten eines reflektiven und generativen Dialogs, in dem neue Ideen aus der kollektiven Intelligenz der Teilnehmenden entstehen. Er möchte den unterliegenden Ursachen, Regeln und Annahmen eines Themas nachgehen, um tieferliegende Fragen sichtbar zu machen. Isaacs bezieht sich auf den Physiker David Bohm. Dieser sieht im Dialog eine Möglichkeit, um gemeinsam zu denken und so „auf intelligente Weise tun zu können, was auch immer getan werden muss“.

Ein zentraler Untersuchungsgegenstand im Bohmschen Dialog sind Annahmen, also nicht bewiesene oder sogar nicht beweisbare Aussagen oder Zusammenhänge. Sie werden sichtbar gemacht und man geht den wirklichen oder vermeintlichen Zwängen dahinter nach. Diese Annahmen der verschiedenen Teilnehmenden werden nicht beurteilt, sondern in der Schwebe gehalten. Das Ziel ist es, im Fluss der Worte neuen Sinn sichtbar zu machen, wenn alle gemeinsam den Annahmen nachgehen.

So kann Neues entstehen, Innovation wird auf einer soliden Basis möglich. Für Isaacs sind die wichtigsten Teile einer Konversation diejenigen, die sich keiner der Beteiligten vorab hätte vorstellen können. Natürlich ist es schwer, genau zu bestimmen, welcher Teil nun wirklich völlig neu ist. Hinterher werden viele meinen, dass sie diesen Gedanken schon vor Jahren hatten oder sogar schon aufgeschrieben hatten.

Der Dialog in der Praxis

Bohm bevorzugt ein einfaches Format: Man setzt sich in einen Kreis, ohne Gesprächsleitung, ohne Tagesordnung, ohne Zielsetzung und schaut, was entstehen will. Das ist ein Experiment, also der Versuch etwas neu oder anders zu machen. Es ist ungewohnt, es kann sogar Angst machen. Anfangs bleibt die Gruppe vermutlich recht oberflächlich und spricht über das Format. Mit etwas Übung kann man dann nach und nach tiefer gehen.

So schön und wichtig der generative, reflexive Dialog auch klingt, in der Praxis wird er selten so gelebt. Zudem wird der Begriff des Dialogs mittlerweile oft falsch verwendet und damit beschädigt:

„Dialogpost“ ist Werbung, viele „Dialogforen“ sind vor allem Öffentlichkeitsarbeit. Das lässt sich leicht erkennen. Schwierig ist es, echten Dialog in Zukunftsprojekten einzusetzen. Zu den eingangs genannten Herausforderungen mangelnder Praxis und hierarchischer Strukturen kommt die grundlegende Anforderung der Ergebnisoffenheit von Dialogen hinzu. Nur so kann Neues entstehen. Diese Offenheit widerspricht dem weit verbreitetem Verfolgen von vorab feststehenden Eigeninteressen. Warum sollte ich mich in einen Dialog einbringen, wenn nicht sicher ist, dass meine Standpunkte, meine Produkte oder meine Politik dadurch mehr Sichtbarkeit erhalten? Offenheit und Eigeninteresse sind keine guten Freunde. In komplexen menschlichen Systemen gilt es Wege zu finden, um mit beidem umzugehen.

Zukünfte – Offen für Vielfalt

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