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Sig-Runen auf der amerikanischen Tastatur?
ОглавлениеMittwoch, 8. März 1944
Aufgerissene Augen starrten in die tiefe Schwärze der Nacht. Vor lauter Aufregung hatte sie schon kaum in den Schlaf gefunden, permanent dachte sie an die Ereignisse des Tages. Die Dienststelle, viele neue Personen, letztlich die Verhaftung und wie peinlich es war, einfach abgehauen zu sein. Was musste Isolde nun denken? Ein Gedanke rief den nächsten hervor, als ein langsam anschwellender Alarmton die hauchzarten Wolken ersten Schlummers verscheuchte und gut einstudierte Verhaltensweisen hervorrief. Hastig griff sie im Dunkeln nach ihrem Uniformmantel und einem stets gepackten kleinen Koffer. Dann lief Mara auf den Flur und rüttelte an der Schlafzimmertür ihres Vaters. Von drinnen hörte sie nur undeutliches Gemaule.
»Paps, aufwachen. Es ist Alarm!«, rief sie und stand schon neben seinem Bett. »Los, wir müssen runter.«
Langsam rappelte er sich hoch. Er hatte wieder getrunken, das war deutlich zu riechen. Unablässig zerrte sie an seinem rechten Arm.
»Jetzt lass mich schon«, schnauzte er sie urplötzlich an. »Ich bin nicht taub und aufstehen kann ich alleine!« Erschrocken wich sie zurück. Licht zu machen war verboten, die Vorhänge aufziehen? Das wollte sie lieber nicht. Sie wartete, während Vater raschelte und nestelte.
»Hörst Du?«, fragte er im Dunkeln mit schwerer Stimme. Der Heulton sägte durch die Nacht.
»Den Alarm? Natürlich«, sie verstand nicht.
»Das ist eine Luftwarnung, kein Alarm. Sonst würden wir doch längst was hören.«
Sie konzentrierte sich. Nein, ein Brummen der schweren Motoren von Bomberverbänden war da nicht. Aus dem Treppenhaus ertönten Gepolter und leise Rufe.
»Die Winklers sind gleich unten, Papa.«
»Lass sie, ich lege mich wieder hin.«
»Vater!« Mara war ehrlich entsetzt. Und tatsächlich, es plumpste schwer, die Matratzen knarrten und nur Augenblicke später hörte sie das rasselnde Stöhnen ihres zurück in den Schlaf fallenden alkoholisierten Vaters. »Was der Professor kann, kann ich auch«, kam es brabbelnd gedämpft von unten.
Einsam stand sie in dem dunklen Zimmer, das Köfferchen in ihren Händen, vor dem Becken verschränkt. Als müsste ihr Vater unbedingt recht behalten, verstummte der Alarm in dem Moment, wo sie alleine in den Keller gehen wollte. Doch bloß eine öffentliche Luftwarnung, kein Alarm.
Sie schlich zurück in ihr Zimmer, die Wanduhr bekam etwas Mondlicht. Es war 3 Uhr morgens. Seufzend entkleidete sie sich und schlüpfte wieder unter ihre Decke. Dort war es noch warm. Der gestrige Tag ging ihr durch den Kopf. Alles so neu und fremd und aufregend. Die ersten Schreibübungen auf der Remington … einer amerikanischen Schreibmaschine. Sie spürte ihre Oberfläche sogar jetzt, den Druckpunkt der großen runden Tasten, deren kantige Ränder ein wenig in ihre zarten Fingerkuppen eindrangen, wenn sie tippte. Sie leisteten zunächst Widerstand, aber dann ergaben sie sich ihren Fingern und mit festem Schlag presste der Hammer die Buchstaben auf das Papier. Was für eine Freude und ein Genuss, das zu sehen. Die ersten Wörter, die ersten Zeilen. Als segelten sie wie Kolumbus in neue Welten, die sie selbst erschuf.
Schwerer wurde ihr Geist, der Schlaf saugte sie an, aber ihre Gedanken waren im Büro. Frau Schneiderer tat immer etwas bitter, vielleicht war sie doch ganz nett. Sie hatte ihr eine Verordnung gegeben zum Abtippen. »Schreiben Sie das viermal und hängen Sie es an die Türen in diesem Gang und in der Etage unter uns.« Das waren ihre Worte. Dafür hatte Mara den halben Nachmittag gebraucht. Viel zu lang, meinte Frau Schneiderer später. Das war ein Test gewesen. Oder eine Übung? Sie wusste es nicht genau. Die anderen Schreiberinnen waren pünktlich um 17.30 Uhr gegangen, sie hatte länger arbeiten müssen und Frau Schneiderer und Stabsfeldwebel Sauerland waren sogar dort geblieben, als sie selbst um 19 Uhr das Haus verließ.
Das letzte Bild, das in ihrem Kopf herumspukte, bevor sie einschlief, war ein Schuh. Einsam auf dem Kopfsteinpflaster liegend, wartend wie ein treuer Hund auf das Herrchen. Als sie am nächsten Morgen vom Klingeln des Weckers erwachte, hatte sie fast alles vergessen. Nur den Alarm nicht. Das Heulen fuhr ihr immer in die Knochen. Es war 6.30 Uhr, als ihr Vater aus dem Haus ging. Er sah traurig aus, fand sie. Aber er gab ihr einen Kuss und sagte, er nähme heute Frühstück im Stellwerk. Mara nickte.
»Ich hatte gestern meinen ersten Tag in der Wehrmachtauskunftstelle!«
Zunächst antwortete er nicht. Er tauchte sich in bedeutungsvolles Schweigen. »Erzähl mir später davon, Liebes«, mit diesen Worten zog er die Tür zum Hausflur hinter sich zu. Leise trappten seine schweren Schuhe nach unten, damit er bloß die Winklers nicht weckte. Gegen laute Schritte hatten die was.
»Mache ich, Paps«, sagte sie mehr zu sich selbst und lief zu ihrem Zimmerfenster, den Vorhang zur Seite ziehend. Über den Dächern war es dunkel. Auf der Straße verschwand Vaters Schatten zwischen den Häusern. 6.33 Uhr – hinter ihr im Osten wäre bald das erste Hell des Tages zu sehen. Dann machte sie sich langsam fertig, damit sie pünktlich um acht Uhr in der Dienststelle ankäme.
Es war kalt, aber Mara hatte sich dick angezogen und für eine schlichte Bluse entschieden. Dazu ein warmes Unterhemd und einen Rock. Darüber trug sie den Mantel ihrer Reichsbahnuniform, der wärmte besonders gut – das musste er ja auch, denn nicht selten stand man im Dienst aus irgendwelchen Gründen bei Wind und Wetter auf dem Bahnsteig. Als sie vom Hohenzollerndamm über die Kreuzung zur Nachodstraße lief, kam ihr aus Richtung des Viktoriaplatzes ein Mann entgegen, der fast mit ihr zusammenstieß. Augen hinter zwei dicken Brillengläsern sahen sie überrascht an. Es war Manfred.
»Fräulein Prager!«, stieß er hervor. »Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen.« Er schien ehrlich entsetzt und es war ihm peinlich, sie übersehen zu haben, aber Mara lachte nur, ohne etwas zu sagen.
»Haben wir den gleichen Weg?«, fragte sie, obwohl es eine Feststellung war. Manfred hustete leicht und zeigte hinter sich.
»Ja, der Bus. Ich fahre nur ein paar Stationen vom Bayerischen Platz und laufe den Rest.«
Gemeinsam liefen sie weiter. »Da kann man ja gleich die ganze Strecke zu Fuß gehen«, stellte sie fest.
»Kann man wohl«, meinte er. Sie betrachtete von der Seite seine braunen, in der Mitte gescheitelten Haare und die mächtigen Brillengläser und überlegte, ob er wirklich so schlecht sehen konnte.
»Ich wohne in der Fasanenstraße«, sagte sie. »Bisher musste ich immer zum Bahnhof Zoo laufen und von dort aus nach Zehlendorf-West fahren, wo ich gearbeitet habe. Das ist jetzt bedeutend näher«.
Für einen Moment trat Schweigen ein.
»Ich habe Sie gestern gar nicht mehr gesehen«, sagte Manfred interessiert und Mara erzählte ihm von den Ereignissen des Tages.
»Wie sind denn die anderen so im Büro?«, fragte sie ihn direkt heraus. Gerade passierten sie die Volksschule auf der rechten Seite.
»Der Chef ist in Ordnung. Er lässt sich selten blicken. Er hat viel mit der Verlegung nach Thüringen zu tun. Er vertritt Kriegsverwaltungsrat Schülke und gleichzeitig Major von Börne. Von Börne ist sehr streng. Er ist schon in Thüringen, aber da er für die Aufklärung von Unstimmigkeiten zuständig ist, vermutet er überall welche und ruft dreimal am Tag bei uns an. Die Akten gestern, die ich rausgetragen habe, die gingen an ihn. Sie waren ihm zu unsauber geführt und wir mussten sie korrigieren.«
»Nein«, staunte Mara ehrlich. Das schien ihr eine Verschwendung von Ressourcen zu sein. In diesen Zeiten. Manfred nickte nur.
»Ich muss besser schreiben lernen«, sagte sie offen. Sie überquerten von der Nachodstraße aus die Passauer Straße und erreichten die Hohenstaufenstraße.
»Die Straße runter«, er wies die gegenüberliegende Bamberger Straße hinab nach Süden, »Da wohne ich. Bei meiner Mutter«, fügte er schnell hinzu.
»Ich wohne bei meinem Vater«, antwortete sie.
»Vor der Schnatterer musst Du dich etwas vorsehen. Verzeihung, Schneiderer. Wir nennen sie Schnatterer. Sie ist schneller als alle und weiß alles besser. Meist sogar schneller und besser als der Chef.«
Mara nickte, das hatte sie sich vermutet.
»Und ja, du musst schneller schreiben. Ich weiß nicht, wie schnell du schreibst, aber für sie geht es niemals schnell genug. Räder müssen rollen für den Sieg!«
»Das sagen wir bei der Bahn auch.«
»Und die Schnatterer meint es so«, brummte er trocken. Die Türmchen der Hausnummer 47/48 kamen in Sicht. »Liest du? Kann ich du sagen?«, fragte er unvermittelt persönlich.
Für Mara kam das überraschend. Sie wollte lieber nicht ganz so private Dinge besprechen. Also nickte sie stumm und etwas unsicher.
»Ich habe gesehen, dass deine Uniform grünlich ist. Die von Stabsfeldwebel Sauerland ebenfalls. Aber die von den beiden Soldaten gestern feldgrau«, sagte sie stattdessen.
»Dunkelgrüne Uniformtuchunterlagen bedeuten Militärverwaltung.« Er zupfte ein wenig an seiner Uniform. »Feldgrau ist Truppe. Das lernst du schon. Bis Anfang des Jahres hatten wir noch die Kennzeichnung ›HV‹ auf den Schulterstücken. Jetzt einen Merkurstab.« Er spürte die Frage, die sie nicht stellen mochte. »HV steht für ›Heeresverwaltung‹«. Sie nickte leicht. Dann zerrte er etwas an seinem Uniformmantel und versuchte, ihr eines der Schulterstücke zu zeigen, doch das misslang. »Der steht für …«. Sie schien nicht besonders interessiert, also gab er den Versuch auf. »… Handel. Als Symbol … .«
Sie staunte zwar ein wenig, sagte aber nichts weiter. Ein Lastwagen mit aufgesessenen Polizisten auf der Pritsche brauste vorbei.
»Es gibt noch viel mehr Besonderheiten. Wenn du jemanden mit einer goldenen Litze über den Schulterstücken siehst, kann das ein Sonderführer sein. Ein Arzt oder Architekt in Diensten des Militärs, aber ohne militärische Ausbildung. Auch die Kragenspiegel sind andere.«
Gemeinsam tauchten sie ein in den Nebeneingang, aus dem Manfred gestern die Akten getragen hatte, und stiegen in den ersten Stock empor.
* * *
Die Stunden des Vormittags folgten einander in rascher Folge. Die Schnatterer war nur einmal Heil Hitler rufend reingestürmt und hatte dabei die Tür an die Wand geknallt, um die Abgabe einiger Listen bis heute 15 Uhr anzumahnen.
»Türen müssen knallen für den Sieg«, hatte später eine der anderen Frauen gemurmelt. Die drei pflegten mit dem Mädchen keinen Kontakt. Sie kamen, schrieben, machten Pause und tippten weiter. Dann gingen sie – wohin und zu wem, niemand sprach jemals darüber. Mara hatte ihrerseits genug mit der Remington zu tun. Als sie gestern die ersten Schreibversuche unternehmen wollte, waren die Tasten zunächst nicht zu drücken, bis sie auf den Hebel an der Seite aufmerksam wurde. Wenn sie den zog, klappte es. Dies ließ sie über den Begriff »portable« nachdenken. Natürlich – transportabel. Das musste eine Reisesicherung sein, damit die Hämmerchen mit den Buchstaben sich unterwegs nicht verhakten. Mittlerweile ging es besser und auch das Band hatte sie bereits gewechselt, das Alte war eingetrocknet gewesen. Dabei hatte sie sich die Finger verschmiert und trotz Kernseife waren die dunkel geblieben.
Der Zeiger der Uhr rückte auf die Mittagszeit zu, als laute Schritte auf dem Gang zu hören waren. Die Tür wurde aufgerissen und donnerte vernehmlich an die Wand: die Schnatterer! Ihr Blick flog durch den Raum. Alle tippten weiter, als sei nichts geschehen. Bis auf Mara. Die Büroleiterin hob ein eng beschriebenes Formular hoch.
»Fräulein Prager, ganz wichtig. Eine Gefallenenliste der SS. Muss sofort übertragen werden und unbedingt noch heute raus. Eine Durchfertigung für den Reichsführer SS, eine ans OKW und eine geht nach Saalfeld in Thüringen.« Mit diesen Worten reichte sie ihr den Zettel, eine getippte Liste mit handschriftlichen Ergänzungen und Vermerken, die sie kaum lesen konnte, aber sie traute sich nicht zu fragen. Im Nu war die andere wieder verschwunden.
Mara ging zu einem der Aktenschränke und zog sich das entsprechende Formblatt heraus sowie Durchschlagpapier.
Dann setzte sie sich und war nach nur zehn Minuten fertig.
»Entschuldigen Sie, gebe ich die Liste gleich in den Postausgang oder will Frau Schneiderer die sehen?«, fragte sie in die Runde.
Zunächst antwortete niemand, dann erbarmte sich eine der drei Frauen, die ältere Frau Völker mit Pferdegebiss, ungefähr Mitte dreißig. Mara hatte sie vom Ansehen her eigentlich ganz nett gefunden. »Hat sie was darüber gesagt?«
Das Mädchen runzelte die Stirn. Frau Schneiderer hatte doch laut genug gesprochen, dass es jeder gehört haben musste. »Nein, hat sie nicht«, erwiderte sie langsam und vorsichtig.
»Eben«, kam von einer anderen Kollegin zurück und Frau Völker sekundierte: »Also.«
Mara blieb der Mund offen. Was war das für eine Antwort? Damit konnte sie überhaupt nichts anfangen. Sollte sie Frau Schneiderer fragen? Das traute sie sich nicht. Sie verglich penibel die ursprüngliche Liste und ihre Abschrift. Alles schien zu stimmen. Auch die Schreibweise von Namen hatte sie geprüft.
Daher stand sie auf und legte das Dokument in ein Ausgangskörbchen. Es war kurz nach zwölf, als Manfred die Tür öffnete und in die Runde frage: »Sind die Listen fertig? Der Bote kommt gleich und Frau Schneiderer will die Unterlagen sehen.«
»Jetzt! ... Ist alles da«, sagte Frau Völker, zog ein Papier aus ihrer Maschine und hielt es dem jungen Mann hin, wobei sie ihm ein vieldeutiges Lächeln schenkte. Er nahm es, legte es in das Körbchen und griff den Stapel heraus.
»Um 12.30 Uhr ist Pause. Hast du schon was vor?«, fragte er in Maras Richtung, linste aber auf die Maschine. Sie schüttelte den Kopf, bemerkte jedoch genau, dass die anderen drei sich gegenseitig ansahen. »Gut«, freute er sich. »Ich komme dann in zehn Minuten rüber.«
Mara lehnte sich zurück. Sie fühlte sich hier nicht wohl. Die anderen arbeiteten nur für sich und wenn sie selber etwas fragte, reagierte niemand. Höchstens einen Blick schenkte man ihr. Doch es würde schon werden, beruhigte sie sich. Es war ja erst ihr zweiter Tag. Sie legte einen Bogen Papier ein und tippte ihren Namen. Mara. Mara Prager. Prager. Praharczyk, als abermals die Tür aufflog und die Schneiderer hereinstürmte.
»Was habe ich gesagt, Fräulein Prager? Ich will eine saubere Liste bis heute um 15 Uhr?!«
Sie blieb vor dem Mädchen stehen und hielt die Vordruckbögen in der Hand. Mara wusste nicht, was sie wollte.
»Ich habe … die Liste ist doch fertig. Hier …«, sie zog die Originalliste heran, die auf ihrem Tisch lag. »Alles übertragen und korrekt.«
»Wissen Sie eigentlich was die SS ist?«, fragte die Büroleiterin zischend.
Mara blinzelte. Es verschlug ihr den Atem. »Habe ich was falsch …«
»Ob Sie was falsch gemacht haben? Menschenskind? Sehen Sie sich die Liste mal an!«
Sie las. Namen, Ränge, SS-Truppenteile, Daten. Sie verglich ihre Abschrift mit dem Original. Was sollte denn nicht stimmen?
»Sie merken es nicht, oder? Schreibt man so ›SS‹? Soooo?«, wütend tippte die Frau immer wieder auf den Doppelbuchstaben ›SS‹ auf ihrer Kopie. Mara wusste sich nicht zu helfen und sagte gar nichts.
»Sie wissen es also nicht. Auch gut, dann sehen Sie mal zu, wie Sie das rauskriegen. Bis 15 Uhr ist ja noch Zeit … Vielleicht fällt es Ihnen ja ein, während alle anderen Pause machen.« Frau Schneiderer warf ihr die Durchschläge auf den Tisch und verschwand.
Es war 12.28 Uhr. Die Tür öffnete sich und Manfred merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Mara saß stocksteif, als starre sie auf eine Schlange, die Bürokolleginnen arbeiteten übereifrig wie Menschen, die gerade mit einer Sache nichts zu tun haben wollen. Langsam kam er näher.
»Du musst die Runen benutzen, Kindchen!«, sagte eine der Frauen, doch Punkt 12.30 Uhr hörten die anderen auf und verließen das Büro.
»Du musst noch arbeiten?«
Mara nickte, den Tränen nahe.
»Soll ich dir wenigstens eine Bulette holen? Mit Senf?«
Das Mädchen senkte tonlos den Kopf und hob ihn wieder. Lebensmittelmarken hatte sie ja dabei. Manfred stellte sich hinter sie und sah auf die Tastatur. Sein Arm reichte an ihr vorbei und sie roch einen leichten Seifengeruch.
»Siehst du? Da sind die Sig-Runen.« Er zeigte auf die Taste ›3‹. »Ich habe eine Triumph Norm, da liegen sie auf der 5, aber hier auf dieser amerikanischen Maschine … ich habe noch nie gesehen, dass sie auf der 3 liegen. Aber sei‘s drum. Wie du das schreibst weißt du? Wenn du die hier gedrückt hältst, dann …«. Er presste eine Taste nach unten und Mara ihrerseits die ›3‹ und plötzlich erschienen die gesuchten SS-Runen auf dem Papier. Ihre Finger berührten sich.
Sie nickte stumm und stierte vor sich hin. Sie war wütend. Ärgerlich und außerdem traurig. Ein wilder emotionaler Sturm tobte durch sie. Am schlimmsten war, dass man sie behandelte wie ein dummes Kind. Hätte man sie nicht in normalem Ton darauf hinweisen können? Und ihr zeigen, wie das funktioniert? Dann wäre sie längst fertig und könnte mit Manfred eine Bulette essen. Sie hatte solchen Hunger.
Er ging zur Tür und drehte sich um. Sagte und fragte nichts, aber Mara quälte sich ein Lächeln ab.
Dann bearbeitete sie die Liste und war um kurz nach 13 Uhr fertig. Die anderen kamen langsam zurück, die Pause war vorbei. Mit der letzten der drei Schreiberinnen betrat auch Manfred die Stube, in der Hand eine Papiertüte. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung der Kolleginnen reichte er sie ihr. Als Mara zu ihrem Täschchen greifen wollte, schüttelte er den Kopf. Sollte sie ihre Bezugsscheine mal behalten. Dann ging er selber ins Nachbarbüro und schloss die Tür hinter sich.
Schnell tippten die Frauen vor sich hin, während sie ihre Bulette aß und aufpasste, dass sie ja nicht die Unterlage oder ein Dokument beschmutzte.
»Sie essen ganz schön laut«, murmelte eine vor sich hin und ein Kloß legte sich in ihren Magen. Die schrieben viel geräuschvoller, als sie selbst aß. Mit Sicherheit.
Es war ein großer Happen übrig, den sie mit einer gewissen Vorfreude betrachtet hatte, während sie langsam ihre Bissen kaute. Sie hatte keine Pause mehr, aber das war ihr egal. Als sie ihre Finger ableckte und sich das letzte Stück zurechtlegte, drang ein tiefer Heulton durch Mark und Bein. Es war 13.23 Uhr. Die anderen sprangen auf und wollten das Büro verlassen. Mara blieb sitzen. »Sicher nur eine Luftwarnung«, sagte sie.
»Und Sie wissen das?«, bemerkte eine der drei spitz. Auf dem Gang wurde es lebhaft. Also stand auch das Mädchen auf. Ihr Blick fiel auf ihre Verlustliste für die SS und sie wischte sich schnell die Hände ab, dann griff sie danach. Das Stück Bulette musste bis später warten. Sie war ohnehin schon kalt.
Als sie in der offenen Tür verharrte, liefen Frau Schneiderer und Stabsfeldwebel Sauerland vorbei, ohne sie zu beachten. Manfred stand am Ende des Ganges und winkte ihr.
»Hier, hier geht’s in den Keller.« Er nahm sie mit und ließ sie vorgehen. Hinter den dicken Brillengläsern sah er besorgt aus.
»Das ist nur eine Luftwarnung«, flüsterte Mara.
»Das kann man nie wissen«, raunte er zurück.
Im Keller angekommen, spürte sie die kältere Luft unten und diesen Geruch, eine Mischung aus Feuchtigkeit und Staub. Es roch nicht gut. Sie fror, da sie nicht daran gedacht hatte, ihren Mantel mitzunehmen. Dann quetschte sie sich auf eine schmale Pritsche neben eine der drei Schreiberinnen und Manfred. Eine nackte Glühbirne erhellte das Dunkel trostlos.
Schräg gegenüber saß die Büroleiterin, den Offizier konnte sie nicht sehen. Der Keller war niedrig und angefüllt mit Menschen, die sie gar nicht kannte. Und doch gab es leere Plätze. Normalerweise arbeiteten hier viel mehr Personen. Das langsame An- und Abschwellen der Luftschutzsirenen tönte durch jede Ritze, etwas anderes war aber schlimmer.
»Da«, hauchte sie, aber niemand reagierte, denn alle erkannten das tiefe Dröhnen und Wummern der schweren viermotorigen Bomber der Amerikaner, die neuerdings tagsüber kamen, während die Engländer sich die Nacht vorbehielten. Wie Kanonenschläge hämmerten die Flugabwehrgeschütze los. Dies musste der Flakbunker am Zoo sein, der war relativ nahe und die Geschütze waren hoch über der Stadt. Deren Echo rollte in alle Richtungen durch die Straßen, bis es sich in der Ferne verlor oder abgelöst wurde von den anderen Abwehrbatterien.
Sie konnte in dem Halbdunkel keine Uhren erkennen, doch das Dröhnen nahm nicht ab, sondern schwoll weiter an, es wurde sogar lauter. Wie lange ging das schon so? Es fühlte sich ewig an. Dabei konnten es kaum mehr als zehn Minuten sein, eine halbe Stunde war seit dem Alarm vergangen, wenn überhaupt. Wo blieben die Einschläge? In regelmäßigem Abstand feuerte die Flak gegen das anschwellende Motorenbrummen, begleitet von den Sirenen – eine unheimliche Sinfonie der Todesverheißung. Mara hatte mit der Hausgemeinschaft oft im Keller gesessen und hin und wieder mit ein paar Reisenden im Bahnhof, aber nie mit so vielen Personen. Dadurch wurde es beängstigender. Unten im Dunkel sahen alle Uniformen grau aus – wie die Gesichter. Hier saßen Soldaten und versteckten sich wie Mäuse vor der Katze. Warum kamen die Bomber überhaupt so weit? Der Kontinent war eine Festung, hieß es doch stets!
Ihre eigene Unruhe setzte sich plötzlich fort und leises Getuschel hob langsam an, obwohl auf den Wänden stand ›Ruhe bewahren. Nicht sprechen. Rauchverbot!‹ Man fragte sich, warum es so viele Flugzeuge wären und wer das Ziel sei. Würde Mitte bombardiert, hätten sie es schon längst gemerkt. Bald erstarben die wenigen Gespräche und alle harrten nur bange aus. Gegen 15.30 Uhr nahm der Motorenlärm ab, der Zoo schoss nicht mehr. Leise war aus der Ferne noch Gefechtslärm einer Flak zu vernehmen, vermutlich die Türme in Friedrichshain und Humboldthain.
Um 15.50 Uhr wurde Entwarnung gegeben. Alle standen auf, reihten sich in eine Schlange und gingen schweigend zurück an ihre Arbeitsplätze. Aus vielen Büros war das Klingeln von Telefonen zu hören.
»Dienstliche Gespräche. Nur dienstliche Gespräche«, schrie die Schnatterer immer wieder über ihren Gang.
Etwas später steckte Manfred den Kopf durch die Tür. »Erkner, sagte er hastig. Außerdem die südlichen und östlichen Außenbezirke. Die Luftabwehr hat 470 Feindflieger gezählt.« Mit diesen Worten verschwand er und sie hörte ihn ein Büro weiter das gleiche sagen. Keiner im Raum sprach, alle schienen erleichtert. Offensichtlich kam niemand aus Erkner.
Kaum hatte sich die Stimmung beruhigt, öffnete sich die Tür wieder und Frau Schneiderer sah durch den Spalt. »Die Liste, Fräulein Prager?«
Mara hielt sie ihr hin, die andere schüttelte den Kopf. »Sie hatten die mit im Keller. Ich habe es genau gesehen. Das ist eine dienstliche Verschlusssache. Die hat am Arbeitsplatz zu bleiben und darf nicht entfernt werden.«
»Sie wollten sie haben und ich wollte sie retten«, verteidigte sie sich. Die Schnatterer fuhr ihr über den Mund.
»Unter keinen Umständen entfernen Sie etwas von hier. Außer Sie haben eine schriftliche Genehmigung dafür. Merken Sie sich das. Ohne Ausnahme«, schnauzte sie.
Wieder war Mara zum Weinen zumute, daher sagte sie nichts, sondern streckte ihr die Liste entgegen mit der korrekten Typografie der SS-Runen.
»Die legen Sie mir morgen in den Korb. 15 Uhr ist vorbei.« Dann ging sie.
Maras Unterlippe zitterte. Sie war wütend. Es hieß, alles sei immer so dringend. Und jetzt wurde die Post einfach am nächsten Tag abgeholt? Wo war da der Sinn? Sie erkannte keinen. Vorsichtig musterte sie die Frauen. Die schrieben weiter, als sei nichts geschehen – in der Tat waren sie ja nicht betroffen.
Als die Arbeitszeit um war, machte niemand Anstalten zu gehen, daher blieb Mara ebenfalls. Eine nach der anderen verschwanden die Kolleginnen, nachdem sie ihr Pensum erledigt hatten. Da sie langsam tippte, war sie nicht annähernd fertig. Heute würde es wohl später werden.
Es war bereits halb sechs und draußen wurde es dunkel, als Manfred durch die Tür schaute und sagte, dass er etwas Luft schnappen wolle. Sie ging mit. Beide gesellten sich zu einigen Soldaten aus anderen Abteilungen, die schon wieder Scherze machten. Jemand rauchte und bot ihr eine Zigarette an, sie lehnte dankend ab.
»Ist auch besser so«, meinte der Gefreite. »Das kann man auch nicht rauchen: das Papier zu dick, grau und gefüllt mit einem Kraut einheimischer Herkunft. Echter Tabak wird heute in Gold und Devisen aufgewogen.«
Warum qualmt er dann?, fragte sie sich und grübelte, wie es Vater wohl ginge. Sein Stellwerk lag zwar vor der Stadt, doch es hieß, der Terrorangriff habe auch den Süden getroffen. Sie hoffte inständig, dass ihm nichts geschehen sei. Private Telefonate waren verboten, aber er hatte ja nicht einmal ihre Nummer und könnte sie gar nicht erreichen, selbst wenn er das wollte.
Nachdenklich und schweigsam stand sie zwischen den Männern, als eine kleine Gestalt neugierig heranschlich. Es war Heinz, der merkwürdige Sohn der Butzkes. Woher er kam, wusste sie nicht, aber er war hier ein ganzes Stück von zu Hause entfernt, hatte die Straße überquert und war stehengeblieben. Dabei sah er sie an und sein Mund hing offen wie ein Scheunentor, blödsinnig sah er aus.
»Sieh mal den Kleinen«, sagte einer der Soldaten und tat einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.
»Ist was, Kleiner? Willst du eine Zigarette?«, fragte ein anderer recht freundlich, doch Heinz rannte bloß davon. Jetzt erst bemerkte sie, dass er einen Beutel in der Hand hielt, der beim Laufen schepperte. Ihr fiel ein, dass Vater einmal erzählte, dass der Hausmeister ihn zum Nägel sammeln schickte, wenn er sonst nichts für ihn zu tun hatte.
»Mein Nachbarsjunge Heinz. Er wohnt in unserem Haus.« Sie lächelte schief. Stolz war sie auf die Bekanntschaft nicht. Immerhin war er schon 14 und keineswegs so jung, wie er aussah. Nur klein geblieben.
Die Soldaten kicherten. Einer lästerte, der Junge müsse zur U-Boot-Waffe, dort könne er die Torpedorohre im Stehen säubern. Mara lachte kurz mit. Das sagte Vater Butzke auch manchmal, oft gefolgt von der Bemerkung aber dafür bist du zu dumm. Dann wuschelte er ihm für gewöhnlich liebevoll über den Kopf und trotz allem lächelte Heinz dankbar zurück. Sie mochte ihn nicht besonders, aber er konnte ja nichts dafür, dass er seltsam wirkte.
Die anderen tauschten sich über die Abschüsse der Flak aus. Einer glaubte gehört zu haben, dass man siebzehn Feindbomber runtergeholt habe, ein anderer wollte von siebzig erfahren haben. Mara ging wieder hinein. Sie verstand davon nichts und es langweilte sie. Siebzehn, siebzig, siebenhundert … sie wollte mit ihrer Arbeit schnell fertig werden und dann nach Hause. So wie sie selber, machte ihr Vater sich sicher ordentlich Sorgen.
* * *
Sie war eine Stunde später nicht weit die Fasanenstraße hochgelaufen, als Blockwart Kämmerlin ihr entgegenkam. Sie grüßte höflich und er nickte bloß, anscheinend war er in Gedanken. Kaum hatte sie ihn passiert, sprach er sie doch an.
»Fräulein Prager, ich suche den Heinz. Wissen Sie, wo ich ihn finde? Ich war schon gestern bei Butzkes aber er war nicht da.«
Sie schüttelte den Kopf. Das genügte ihm, denn er ging weiter.
Den restlichen Weg überlegte sie, ob sie ihm hätte sagen sollen, dass sie den Jungen heute gesehen hatte. Es würde schon nicht so wichtig sein. Gegen 19 Uhr war sie zuhause und fand die Wohnung leer. Sorge keimte hoch, Vater nicht da! Hektisch dachte sie nach, als endlich Tritte auf der Treppe erklangen, seine! Freudig eilte sie zur Tür und riss sie auf. Schwer atmend stieg Bruno Prager die letzten Stufen empor, aber etwas stimmte nicht.
»Geh rein«, herrschte er sie an. Mara erschrak. Hatte er wieder getrunken? Sie roch nichts. Er wedelte wild mit seinen Händen und drängte sich vorbei, dann schloss sie hinter ihm die Tür.
»Wo warst du? Wo hast du dich rumgetrieben?«, platzte es aus ihm heraus.
»Ich, ich …« begann seine Tochter, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ich bin bis zur Hohenstaufenstraße und zurückgelaufen. Dort warst Du nicht. Jetzt bist du hier. Wo treibst du dich rum? Ich habe auch mit Herbert telefoniert. Erzähl mir nicht, dass du am Bahnhof warst.« Ihr Vater war außer sich. Speicheltropfen spritzten vor Wut aus seinem Mund. Er hatte nicht einmal den Hut abgenommen oder den Mantel ausgezogen, sondern sofort losgeschrien.
»Ich musste länger arbeiten. Es sind wichtige Dinge fertigzuschreiben. Berlin wurde angegriffen, falls du das nicht gemerkt hast«, nahm sie ihren Mut zusammen und keifte zurück. Der Tag war hart genug gewesen und jetzt das!
»Täglich wird Berlin angegriffen und doch kommst du sonst nicht zu spät. Mit wem sprichst du und mit wem treibst du dich rum?«
»Mit absolut niemandem!«, rief sie verletzt und ging in ihr Zimmer, doch ihr Vater war nicht fertig.
»Die Stelle am Fahrkartenschalter ist ehrbar. Ohne mich hättest du sie nicht bekommen und so dankst du es mir. Bei der ersten Gelegenheit suchst du dir etwas anderes. Wenn Herbert und ich …«
»Ich kenne die Geschichten von dir und Herrn Bommel. Nur ihr zwei gegen die Franzosen im Argonnerwald …«
»Wage es ja nicht, Witze darüber zu machen. Was Vaterlandsliebe und Einsatz von Leib und Leben angeht, davon hast du ja noch gar nichts gelernt.«
Drohend stand er in der Tür. Ihr Zimmer war klein, die Dachschrägen taten das Übrige. Sie fühlte sich nicht bedroht, aber bedrängt und konnte sich kaum bewegen. Beleidigt aufs Bett zu fallen war ihr zu nahe an kitschigen Heftromanen, die es überall gab und die sie bislang verabscheut hatte zu lesen.
»Ich will etwas Sinnvolles tun, Vater. In der Fahrkartenstelle … Ich reiße Papier ab. Lass es mich in der Wehrmachtauskunftstelle versuchen. Herr Bommel sagt, ich könnte jederzeit wiederkommen. Dort tue ich etwas Sinnvolles.«
Sie setzte sich auf ihr Bett und zog eines der Bücher heran, in denen sie las. Meistens schmökerte sie in mehreren gleichzeitig.
»Sinnvoll? Sinnvoll wie das da?« Er zeigte auf den Einband. »Hör auf zu träumen, Mara. Komm mal im Leben an. Das ist ernster als deine Schundromane und Zukunftsgeschichten. Du und deine Phantastereien …« Ehe sie es näher an sich heranziehen konnte, sprang er darauf zu, griff es und hebelte mit einer Handbewegung ihr Fenster auf, um es im hohen Bogen auf die Straße hinunter zu werfen.
»Raaagh. Was tust du da«, schrie sie wie von Sinnen. Jetzt fühlte sie sich verletzt, zutiefst angegriffen in ihrer Seele und ihrer Leidenschaft. Das war eines ihrer wichtigsten Bücher, ihrer liebsten Bücher. Eines, das sie geistig beflügelte und beruhigte.
Vor Wut stockte die Stimme, Tränen schossen über ihr Gesicht und sie gurgelte mehr, als dass sie sprach.
»Das war …«, schrie sie und stürmte an ihm vorbei in den Flur und auf die Haustür zu. »Das war dein Buch. Dein Buch!!!!! Das Oberth-Buch!« Sie riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe herunter, vorüber an Frau Winkler, deren faltiges Gesicht sich hastig zwischen ihre Türpfosten zurückzog, so dass Mara sie nicht bemerkte.
Eilig übersprang sie mehrere Stufen bis nach unten, vorbei an der dunkel liegenden Wohnung der Butzkes, in den Hausflur und durch die Haustür ins Freie. Die große hölzerne Jugendstiltür schlug gegen die Wand und der Glaseinsatz erzitterte, aber brach nicht. Ihre Augen waren voller Tränen, sie weinte nicht und schrie nicht, jedoch von allem. Vor allem durchwühlte sie das Gefühl, tief beschämt worden zu sein, in ihrem eigenen Zimmer durch den eigenen Vater, der zerstören wollte, was ihr Halt gab.
Sie lief auf die im Dunkeln liegende Fasanenstraße hinaus, was durch die hohen Bäume verschlimmert wurde. Wenige Straßenlaternen spendeten spärliches Licht. Die Verdunkelung galt ab Einbruch der Dunkelheit oder auf jeden Fall bei zu befürchtendem Alarm. Die Laternen konnten ohne Vorwarnung jederzeit abgeschaltet werden. Leise wimmernd wischte sie sich die Tränen aus den Augen und versuchte, das Buch zu finden. Fest richtete sie ihre Blicke auf den Boden und bemerkt den Mann nicht, der neben ihr herlief.
»Suchen Sie das, junge Dame?«
Als die Anwesenheit einer anderen Person endlich in ihr Bewusstsein drang, erschrak sie. Sie atmete schwer und hustete zwischendurch. Inmitten des Schleiers aus Tränen bemerkte sie eine Hand, die einen schwarzen Einband hielt, der nahezu vollständig von weißer Schrift bedeckt war. Sie rieb sich das Gesicht trocken. Die Rakete zu den Planetenräumen.
»Das ist meines!«, stammelte sie. Dann wanderte ihr Blick an der Gestalt hoch. Ein Mann in hellbrauner Lederjacke stand vor ihr. Um den Hals ein karierter Schal, das Gesicht spitz mit einer langen und leicht knolligen Nase. Eng stehende Augen unter einer von wuscheligen Haaren verdeckten Stirn. Er war nicht rasiert, aber er sah sie freundlich an.
»Da, habe ich gefunden.«
Ohne ein Wort zu sagen, entriss sie ihm das Buch und wandte sich um, zurück zum Haus. Sie presste es vor ihren Oberkörper, als sie langsam die Treppe hinauflief und sich dabei Schritt für Schritt beruhigte. In der vierten Etage fiel ihr hinter dem Milchglaseinsatz der Wohnungstür der Winklers ein Schatten auf, doch sie ignorierte die Alte.
Oben angekommen verweilte sie für einen Moment vor ihrer eigenen Tür. Die Beine zitterten und ihr Hals tat weh. Sie fühlte sich schwach. So viel wütende Emotion auf einmal hatte sie selten gespürt. Sie nahm sich ein Herz und betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Eigentlich wollte sie in ihr Zimmer gehen und dort den Rest des Abends bleiben, aber die vollkommene Stille wunderte sie. Zunächst sah sie in die Küche rechts, dann ins Wohnzimmer. Das Schlafzimmer ihres Vaters war dunkel. Langsam öffnete sie die Tür und hörte schwache Atemzüge.
»Paps?«, fragte sie leise. Und als sie keine Antwort bekam etwas lauter: »Paaps?«
»Es tut mir leid, Mara. Es tut mir so leid.«
Sie sagte nichts. Für einige lange Augenblicke hörten sich Vater und Tochter nur gegenseitig atmen.
»Ich liebe das Buch von Hermann Oberth!«, kam es leise aus dem Dunkeln. »Als ich jung war, wollte ich auch die Sternenräume bereisen, Mara. Ich habe es gekauft gleich als es herauskam. 1923.«
»Ich weiß, Paps.« Dann fügte sie hinzu: »Du hast mir auch aus dem Buch von Otto Willi Gail vorgelesen, als ich klein war.«
Im Dunkeln kicherte es leise. »Du hast das Raketenauto von Max Valier geliebt, Mara. Und den Raumschiffstart, der im Buch beschrieben wird. Den musste ich immer mit Geräuschen nachspielen.«
»Kommodore Hart sendet der Erde Grüße nach der Mondumrundung«, zitierte sie aus dem Gedächtnis und beide schwiegen zufrieden.
»Verzeih mir Mara«, wiederholte er.
»Ich verzeihe dir«, antwortete sie. »Natürlich tue ich das. Und ich nehme ernst, was du geleistet hast, Paps. Und immer noch leistest. Und deine Sorgen um mich.«
»Danke, Kind«, drang es aus dem Dunkel. »Ich weiß oft nicht weiter, Mara. Henni fehlt mir so.«
Sie räusperte sich. »Mir fehlt Mama auch.« Einen Moment dachte sie nach, dann zog sie seine Tür zu. »Gute Nacht, Paps.«
Sie löschte das Licht im Flur und hörte im Radio noch die Nachrichten. Die östlichen und südlichen Außenbezirke der Stadt waren getroffen worden, so wie sie es gleich heute Nachmittag in der Dienststelle erfahren hatte. Über Verluste lagen keine Informationen vor, aber die Zerstörungen sollten zahlreich sein. Außerdem meldetet der schwedische Rundfunk, dass seit Kriegsbeginn siebenundsechzig ausländische Kampfflugzeuge zur Landung gezwungen worden waren, da sie den Luftraum des Landes verletzt hatten, und in Wales waren Bergarbeiter in den Streik getreten. Teilnahmslos schaltete sie den Volksempfänger aus. Dann drehte sie das Buch von Hermann Oberth in den Händen. Auf der Rückseite, unten rechts, hatte es einen Schlag bekommen und dadurch war die Bindung ein wenig lädiert, aber ansonsten schien es intakt. Ein kleines Wunder, fand sie. Sie blätterte durch die Seiten und schloss immer wieder die Augen, bis sie merkte, dass sie einschlief. Den Band auf den Tisch legend ging sie Zähne putzen und dann zu Bett. Der Tag war ausgesprochen anstrengend gewesen und hatte leider turbulent geendet.
Als sie schon schlief, schlich ein Schatten zu ihrer angelehnten Zimmertür und schob sie leicht auf.
Ihr Vater beobachtete sie in dem spärlichen Licht, das durch einen Spalt in das Zimmer fiel, weil sie den Vorhang nicht richtig zugezogen hatte. Als er merkte, dass sie eingeschlafen war, ging auch er zu Bett. So hatte er es fast jede Nacht getan, seit Henni gestorben war.