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Drehschluss in den Tobis-Ateliers

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Freitag, 3. März 1944

Mit dem krachenden Zuschlagen der schweren Metalltür, von innen schwarz angestrichen, verebbte wie abgeschnitten der wohltuende Strom kalter Luft, die über Johannisthal lag, weit im Osten Berlins. Würziger Rauch hektischer Pausenzigaretten zerfaserte in der stickigen Wärme, während manche noch lautlos an ihren Platz huschten.

Alle Unruhe erstarrte augenblicklich in Konzentration und Anspannung. Simeon schwitzte und blinzelte. Hielt den Tonarm außerhalb des Kamerablickwinkels und fing doch jedes Timbre ein. Mühte sich, den brennenden Schein des 500 Watt Weinert-Strahlers zu ignorieren, der so ungünstig stand, dass er nicht nur die Szene ausleuchtete, sondern ihm direkt in die Augen stach. Viktor hatte die Position verlassen, obwohl alles haarklein abgesprochen war. Das tat er immer und man ließ es ihm durchgehen. Er war der Star und arbeitete entsprechend. Instinktiv folgte der Tonmeister mit halb geschlossenen Lidern der Handlung, die Dialoge kannte er bestens. Bewegte er sich, gäbe es Schwankungen in der Aufnahme und sie müssten von vorne beginnen. Es galt also auszuhalten und das passte in die Zeit. Standhaft sein, sich nicht rühren, unbeweglich und schweigsam jedes Ungemach erdulden. Unbeabsichtigt ließ er den Tonarm etwas sinken, noch während de Kowa die letzten Zeilen aufsagte.

Dann war es geschafft, der Dialog perfekt. Mit kaum jemand anderem hatte man in der Nachbearbeitung so wenige Schwierigkeiten wie mit Viktor de Kowa, dem erfahrenen Schauspielhasen, dessen Text stets ausdrucksstark und präzise sprudelte. Nur festbinden ließ er sich nicht auf der Bühne. Das musste es doch wohl gewesen sein?! Simeon täuschte sich nicht. Spielleiter Karl Anton klatschte laut in die Hände, freute sich und feixte.

»Drehschluss. Danke, Kinder. Wunderbar«, rief er. Es war vollbracht. Wieder ein Werk im Kasten. Peter Voß, der Millionendieb. Ein fulminantes Abenteuer, eine Hetzjagd rund um den Globus und der Regisseur war glücklich und zufrieden. Überall im Atelier 2 der Tobis-Film in Johannisthal herrschte Freude und Aufbruch und die Filmillusion wurde durchsichtig wie eine Seifenblase, bevor sie zerplatzt.

»Wer hilft mir mit den Rollen?«, rief Eduard Hoesch, der Kameramann. Er rappelte mit den Blechdosen, um sich zusätzlich Gehör zu verschaffen. Die mussten immer sofort in den Filmbunker gebracht werden, damit dem frischen Material nichts zustieße. Manche eilten in die Maske, die Garderobieren halfen den Stars aus den Kostümen, die Beleuchter bauten die Scheinwerfer ab. Urplötzlich verloren die Requisiten ihren silbrigen Glanz, wurden stumpf, alltäglich, Schatten krochen zurück, stahlen den Zauber aus der Kulissenwelt. Und Simeon suchte eine Kiste, lehnte sich an die schwarz gestrichene Wand hinter ihm und schloss seine Augen, die ein wenig eng über einer länglichen, leicht knolligen Nase standen. Hin und wieder fielen die wuscheligen Haare darüber und verdeckten sie.

Er liebte den Film. Fast sein ganzes Leben lang hatte er nichts anderes gewollt, als sich damit zu beschäftigen. Welten der Fantasie, der Leidenschaften, Abgründe der menschlichen Seele, Heldentaten. Als Tonmeister war er der Mann auch der leisen Töne. Alles fand sich für die Ewigkeit gebannt auf Nitrostreifen, hatte Beweiskraft und lebte doch nur auf, wenn das Licht des Projektors hindurch und das Bild dem Betrachter ins Auge fiele.

»Wer mag, kann in der Kantine noch feiern.« Eine sanfte, warme Stimme – Leon. Natürlich, wer sonst? Simeon hatte ihn längst bemerkt, wie er sich in der Nähe herumdrückte, fast beiläufig. Dabei wusste der eigentlich ganz genau, dass er die Minuten nach Drehschluss gerne alleine genoss.

»Kommst du? Mittag ist gerade vorbei. Wir brauchen dann nicht selbst …«

»Wenn du willst, geh nur. Ich bleibe hier.« Simeon hatte ebenfalls Hunger. Selbstverständlich. Aber gerade jetzt mochte er keine Gesellschaft. Seine schon gar nicht. Er öffnete kurz die Augen. Leon Miler lächelte ihn an, sein Blick dem seinen dennoch entweichend. Die schmalen Lippen freundlich geöffnet. Das etwas zu lange rote Haar von hinten erleuchtet durch einen der fest montierten Scheinwerfer, das Haupt wie in einen Strahlenkranz gehüllt. Für einen Moment empfand Simeon mehr als Mitleid ... aber dessen traurige grau-blaue Augen weckten gleichfalls Wut. Hatte er damit denn nicht allzu oft Erfolg gehabt? Immer und immer wieder?

»Bist du sicher?«, fragte Leon. Ganz der Zerrissene, dem Blick des Freundes noch immer ausweichend, wie es schien.

Simeon richtete sich ein wenig auf und hob sein Kinn. Eduard stand mitten in den Kulissenbauten und nestelte an der Kamera herum. »Da, siehst du den Hoesch? Hilf dem mal. Als Lichthelfer hast du ja nichts mehr zu tun.« Dann schaute er einen Moment auf seine Knie. Nein, das reichte nicht und er hob den Blick. »Leon, so geht das nicht. Du tust so, als sei überhaupt nichts passiert. Immer und immer wieder kommst du an und ich falle auf dich herein.«

»Was?«, jaulte er leise, aber Simeon ließ ihn nicht ausreden. Das konnte sonst lange dauern, das wusste er.

»Kein Was mehr. Eberhard, Jürgen. Und zuletzt Frieder. Alles immer nur Freunde? Und Zufälle? Und Gelegenheiten? Und nichts Ernstes? Lass das. Wenn ich dir zu alt bin …«

»Aber bitte, es ist doch gar nicht …«

Simeon platzte beinahe der Kragen. »Vergiss mal einen Moment wo wir sind und komm in der Realität an. Menschen haben Gefühle – nicht im Film. In echt! Und brauchen Beständigkeit. Die einzige Konstante bei uns ist, dass du zu mir kommst und ich für dich da bin. Im Gegenzug? Nüscht. Und jetzt hilf dem Eduard, verdammt.« Demonstrativ schloss er erneut die Augen und lehnte sich an die Wand. Die Luft im Atelier war warm von den Strahlern, die seit Stunden leuchteten. Aber die Mauer ließ doch die niedrigen Temperaturen draußen auf dem Gelände spüren. Der Kontrast an dieser Nahtstelle von innen und außen gefiel ihm. Wenige Augenblicke später hob er wieder die Lider. Leon war verschwunden, dafür schlenderte Viktor de Kowa heran und lächelte. In der Hand hielt er einen gut gefüllten Cognacschwenker. Balancierte ihn zwischen zwei Fingern wie die frisch gepflückte Blüte einer seltenen Blume, mutig aus einem verschlossenen Garten gestohlen.

»So versonnen, Herr Wehrstein?«

Simeons Gesicht entspannte sich. Sein Blick wanderte an dem Gegenüber entlang, hoch zur Decke weit über ihnen, wo letzte Scheinwerfer brannten. Viktor war nicht länger der draufgängerische Millionendieb Peter Voß. Abgeschminkt, nahezu farblos wirkte er, wieder total der blonde jungenhafte Lebemann, als der er oft besetzt wurde.

»Nicht versonnen«, schüttelte Simeon den Kopf. »Es ist … die ersten Minuten nach Drehschluss, wenn alles getan ist, jede Geschichte erzählt, jeder Konflikt ausgefochten …«

De Kowa nickte leicht und lächelte auf ihn herab. »Jeder Filmkuss geküsst wurde. Jeder Mord gerächt. Wenn die Klappe gefallen ist … das Jubeln der Filmleute verstummt und auch das Rascheln der Requisiteure endet, die letzten Türen zugefallen sind und die Traumwelt des Ateliers von der Stille der Realität übermalt wird?«

Simeon spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken. »Ja, exakt das!«, hauchte er.

Der Schauspieler strahlte. Dann setzte er sich neben ihn und nippte an dem Cognac. Genüsslich verdrehte er die Augen. »Sie sind noch hier. Ich dachte, sie würden jetzt auch schon hastig die Sachen packen wie die anderen, um Montag pünktlich in Kolberg zu sein. Für die Aufnahmen am historischen Schauplatz.«

»Nein«, sagte Simeon etwas gedehnt. »Ich wurde nicht besetzt. Aber das macht nichts. Ich bin von Quassowski für eine neue Käutner-Produktion angefragt. Da ist noch einiges unklar, aber es muss wohl bald losgehen. Und Sie?«

»Ich soll mich bereithalten«, de Kowa strahlte. »Professor Liebeneiner hat mich eingeladen. Vielleicht geht es um eine Rolle. Er sagt nichts, wie immer alles geheim.«

»Der Liebeneiner ist schon wer. Der macht keine Kleinigkeiten«, erwiderte Simeon bewundernd.

»Und ob! Neben Veit Harlan immerhin der Mann des deutschen Films. Zuständig für die wichtigen Angelegenheiten.«

»So wichtig wie Kolberg?«, fragte Simeon. Die als kriegswichtig eingestufte Produktion verschlang Unsummen von Geld und Ressourcen und wurde nicht fertig. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern der Ufastadt in Babelsberg und darüber hinaus.

De Kowa nickte entschieden. So heftig, dass die Kiste wackelte, auf der sie saßen. »Harlan ist seit einem halben Jahr mit Kolberg zugange. Wer soll es denn sonst machen? Nein, nein. An den Liebeneiner muss man sich ranhalten. Was der anpackt, kann hinter keiner Harlan-Produktion zurückstehen. Das würde er sich nicht bieten lassen. Wie man hört, will sich der Chef höchstpersönlich ein filmisches Denkmal setzen. Es fehlt nur noch der passende Stoff.«

Simeon sah ihn von der Seite an. »Etwa der Doktor

Der andere legte den Finger auf die Lippen. »Minister Goebbels. Genau. Beim ›Wunschkonzert‹ hat sich sein Einfluss doch bezahlt gemacht. Ist ein riesiger Erfolg gewesen. Mehr weiß ich aber nicht und wenn ich mehr wüsste und Ihnen das verriete …«

Er ließ den Rest ungesagt, aber Simeon kannte den bei Filmleuten beliebten Spruch: ... dann müsste ich Sie töten. Nicht witzig in diesen Tagen. Erst recht nicht nach der Affäre Selpin. Oder dem Trauerspiel um die Familie Gottschalk. Falls die Produktion seitens des Ministerbüros selbst befürwortet wurde, vielleicht sogar vom Schirmherren des deutschen Films erwünscht, würde es an nichts mangeln. Er wollte sich unbedingt erkundigen, wie er dort ebenfalls an Bord käme.

Der Schauspieler stand auf. »Jetzt ist erst einmal Wochenende. Am Mittwoch habe ich Geburtstag und gebe eine Gesellschaft. Ich werde vierzig. Wollen Sie auch kommen? Ich würde mich freuen.« Er zwinkerte. »Wolfgang Liebeneiner wird auch da sein ...«. Er lächelte vielsagend.

Simeon strahlte und nickte. Er hatte sein viertes Lebensjahrzehnt längst erreicht. Dort würde er sicher Verbindungen für dieses ominöse Großprojekt knüpfen können. Und es gäbe zu essen. Viel und gut. Das rettete schon die halbe Woche. »Gern. Sehr gerne.«

»Dann ist es abgemacht.« Sie reichten sich die Hände und Simeon schloss abermals die Augen. Das Leben ging weiter. Und so mochte er es wenigstens hin und wieder einmal genießen.

Kleine Frau im Mond

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