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Maras erster Gefallenenbrief
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Die ganze Nacht hatte es geregnet wie aus Kübeln. Zwei- oder dreimal war sie durch das Schlagen des Wassers auf die Dachschindeln über ihr geweckt worden und genüsslich zog sie sich dann die Decke umso enger an den Körper. Dem Himmel sei Dank, dass sie ihre Wohnung hatten und nicht ausgebombt waren. Seit Tagen hatte es schon keinen Alarm mehr gegeben. Es fühlte sich fast wie im Frieden an, wenn nur nicht die Zahl der Meldungen in der Dienststelle stiege und der Umfang der Listen anwüchse, die sie täglich bearbeiten mussten. Und das war lediglich ein Teil davon. Sie bekamen ja nur die Fehlläufer. Längst ging der Löwenanteil direkt an die Außenstellen in Thüringen.
Die Luft im Hof der Wehrmachtauskunftstelle roch schwer und erdig. Die Feuchtigkeit war tief in den Boden gedrungen und schwemmte Gerüche frei, die über den Winter eingeschlossen gewesen waren. Nebelschwaden stiegen aus den Grasflächen hervor, die sich an den Straßenrändern entlang, um Denkmäler oder in Vorgärten erstreckten.
Seit gestern schrieb sie erste Kondolenzbriefe an Angehörige. Frau Schneiderer hatte ihr eingeschärft, dass der Tod jedes Volksgenossen ehrbar sei und die Briefe dies verdeutlichen müssten.
Gemäß eines Musterschreibens tippte Mara wieder einmal eines:
Herrn Wilhelm Dölling, Wuppertal.
Die hiesige Dienststelle sieht sich mit dem Ausdruck aufrichtiger Anteilnahme veranlaßt, Sie von dem Tod Ihres Sohnes, des Gefr. Herbert Dölling in Kenntnis setzen zu müssen.
Nach einer hier vorliegenden Meldung 1/561 ist Ihr Sohn am 7. Februar im Kriegslazarett Witebsk verstorben. Über die Todesursache und Grablage enthält die Meldung keine Angaben.
Möge die Gewißheit, daß Ihr Sohn sein Leben für die Größe und den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie getroffen hat.
Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl, Ihr sehr ergebener
Gez. Unterschrift
Stabsfeldwebel Sauerland, Wehrmachtauskunftstelle Berlin
Sie zog den Brief und den Durchschlag aus der Maschine und legte ihn zu den sieben anderen, die sie in den letzten zwei Stunden nach Dienstbeginn geschrieben hatte. Sonderlich anspruchsvoll war diese Tätigkeit nicht. Die persönlichen Informationen fanden sich in den Gefallenenlisten, sie formulierte sie nur um, da die Stände und Kommandanturen es zeitlich immer seltener schafften, Angehörige ordentlich in Kenntnis zu setzen, wie es üblich war. Sie hatte in den Musterakten ältere Schreiben sogar von Divisionskommandeuren gefunden, die auf zwei oder manchmal drei Seiten genau die Umstände schilderten. Wenn das auch schwer sein musste für eine Mutter zu lesen, so sprach aus solchen Mitteilungen doch Anteilnahme. Ihre eigenen Briefe fand sie dagegen schal und mit jedem einzelnen kam sie sich mehr wie eine Taschenspielerin vor. Sie setzte Anschreiben auf, die ehrlich klingen sollten. Aber das waren sie gar nicht. Sie nahm Namen und Zahlen und formulierte sie in einem Text – die gleichen Zeilen für ganz unterschiedliche Leben, die oft jung und tragisch geendet waren.
Immer muss ich zu viel nachdenken, schalt sie sich in Gedanken. Doch wenn sie sich diese Mühe nicht machte, erhielten die Angehörigen noch weniger als ein freundlich verfasstes Schreiben.
Sie legte alle Briefe jeweils auf einen Stapel, der gesammelt an Frau Schneiderer ging. Von ihr hatte sie nichts gehört und bis es so weit wäre, fuhr sie damit fort.
Nebenan sprach Manfred, jemand stand auf und verließ den Raum. War er es? Sie hatte ihn kaum gesehen in den letzten Tagen, sie alle arbeiteten die ganze Zeit über. Hastig erhob sie sich, murmelte, dass sie mal raus müsse, und trat auf den Gang.
»Manfred!«
Der junge Mann blieb stehen und drehte sich um. Sie lief auf ihn zu. Er nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf.
»Mara, ich…«, druckste er herum. »Du bist ja da.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Natürlich bin ich das. Es ist aber so viel zu tun. Ich dachte wir sehen uns morgens. Ich schreibe jetzt Briefe an Angehörige.«
»Ja, ich meine. Ich komme jetzt immer etwas früher. Ich will mehr arbeiten und schaffen …«
Sie nickte nur, obwohl sie nicht verstand. Die Arbeitszeiten waren doch erst verlängert worden. Warum mochte er dann Zusätzliches leisten?
»Störe ich etwa?«, fragte sie aus einem Impuls heraus. Manfred schüttelte nur den Kopf. Wieso sah er zu Boden? Sie nahm ihren Mut zusammen. »Ich muss dir was erzählen«, sie war aufgeregt und wollte es ihm längst berichtet haben. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Ich habe die Tschechowa gesehen. Bei uns!«
Er sah sie ungläubig an. »Die Schauspielerin? Bei euch zu Hause?«
»Nein«, hauchte sie. »Im Nachbarhaus. Da kam sie raus. Ich bin ihr gefolgt, aber am Bahnhof Zoo habe ich sie aus den Augen verloren.«
»Die Tschechowa.« Sein Blick verriet Zweifeln. »In Wilmersdorf. Du hast geträumt.«
»Wenn ich‘s doch sage.«
»Und was wollte sie dort«?
Mara sah ihn an, als hätte er gesagt, sie komme vom Mars. »Woher soll ich das denn wissen? Ich habe sie ja nicht gefragt.«
»Vielleicht wäre das eine gute Idee gewesen?«
Sie musterte ihn einen Moment. Hörte er nicht zu? »Ich glaube, ich sollte meine Briefe weiterschreiben.«
Manfred griff nach ihrem Arm. Erschrocken von der eigenen Berührung ließ er sofort wieder los. »Nein, verzeih. Erzähl weiter.«
»Es gibt nichts zu erzählen. Mein Vater meint, in dem Haus wohne ein Komponist. Vielleicht habe sie den besucht.«
Er rückte seine dicke Brille zurecht und dachte nach. »Weißt du, wer denn da wohnen soll?«
»Es war dunkel, ich habe zwei Namen lesen können. Balz und Jarczyk. Die müssen oben wohnen. Die Namen unten muss ich mir mal bei Tageslicht ansehen. Es war zu duster.«
»Balz? Der ist bekannt. Vielleicht Bruno Balz, ein sehr bekannter Textdichter. Er hat viele Lieder geschrieben. Jarczyk … Balz hat mit Michael Jary Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh‘n für Zarah Leander komponiert.«
Mara fand das ungeheuer aufregend, aber das konnte nicht sein. »Dort steht nichts von Jary, nur Jarczyk.«
»Vielleicht ein Wasserpolacke, der den Namen germanisiert hat«, sagte er lakonisch.
Sie dachte nach, unwillkürlich wurden ihre Lippen schmal. »Machen das viele? So wie mitunter aus Praharczyk der Name Prager wird?«, zischte sie zornig. Sie wollte nicht verärgert klingen, es passierte einfach.
Manfred errötete und verstand. Auch ihre Vorfahren stammten wohl aus Schlesien - Wasserpolacken. Sofort tat es ihm leid.
Er räusperte sich und zuckte die Schultern. »Manchem hilft das, unbequeme Nachfragen nach der Herkunft zu vermeiden. Es gab eine Zeit, da war das ratsam. So vor zehn Jahren, als viele Beamtenverhältnisse aufgelöst wurden, um den öffentlichen Dienst zu arisieren.«
Sie nickte nur.
Manfred kam näher und raunte im Ton eines Verschwörers: »Der Balz soll übrigens ein 175er sein.« An ihrem fragenden Gesichtsausdruck erkannte er, dass das Mädchen keine Ahnung hatte. »Du weißt Bescheid? Nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Schimmer, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg, obwohl sie die mal gehört hatte.
»Oh, hm. Also …«, er überlegte. »Männer mögen Frauen. Ich mag dich und …«
Mara hatte es genau vernommen, auch wenn er sich bemühte, schnell darüber hinweg zu gehen.
»… und manche Männer mögen … Männer. Und einige Frauen mögen Frauen. Mögen im Sinne von …«, er sah nach links und rechts und senkte seine Stimme weiter. »Im Sinne von mehr als … hm, gerne haben.«
»Oh«, sagte sie. Und als es ihr langsam dämmerte, setzte sie ein gedehntes »Ohhh« hinterher. Er lächelte und nickte.
»Deshalb heißt es 175er! Strafgesetzbuch Paragraph 175.«
»Aber Gott«, stammelte sie aufgeregt. »Das ist krank. Der Balz? Und ich kenne die Lieder, sie gefallen mir. Aber sowas …«, unwillkürlich hielt sie die Hände an die Ohren.
»Mara, du wirst dich schon nicht anstecken«, gab er trocken zurück. Als fühle sie sich ertappt, senkte sie sofort wieder die Arme.
»Beim Theater sollen viele solche unglücklichen Neigungen haben. Hast du noch nie in Geschichten gelesen, dass sich manchmal Männer vielsagende Blicke zuwerfen? Sich sehr zugetan sind? Männliche Figuren?« Er sah sie sanft nicken. »So wie Blutsbrüder? Freundschaft, die fast wie ein Lebensbund ist?«
»Old Shatterhand und Winnetou?«, schrie sie beinahe entsetzt.
»Da siehst du es. Wenn man darauf achtet, findet man das immer wieder. Sogar Ernst Röhm, erinnerst du dich?« Sie schien ratlos. »SA-Chef. Bis 1934 und dann … nun ja.« Er sah nach oben und richtete sich auf. »Aber ich mag auf jeden Fall nur Mädchen«, beide mussten vor Lachen losprusten, endlich war die Spannung vergangen.
»Ich weiß noch nicht, was ich mag«, alberte Mara, doch in dem Moment war ihr klar, dass sie das wirklich nicht wusste. Sie hatte keine tieferen Gedanken daran verschwendet, ob sie Männer mochte. Sie fand manche hübsch und auch einige Frauen. Aber was für blöde Überlegungen waren das? Selbstverständlich würde sie einmal einen Mann heiraten und Kinder haben.
»Was ist das hier für ein Geschnatter?«, rief die Schneiderer, die sich aus dem Türrahmen reckte und den Gang inspizierte. »Aha, Fräulein Prager. Gut, dass ich Sie sehe. Kommen Sie bitte mal? Ich muss über Ihre Kondolenzschreiben mit Ihnen sprechen.«
Ohne Manfred noch einmal anzusehen, lief sie los. Eingeschüchtert hielt sie den Blick gesenkt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war.
»Schließen Sie die Tür!«
Sie tat wie ihr geheißen und ging auf den Schreibtisch zu, hinter dem Frau Schneiderer soeben Platz genommen hatte. Die hielt ihr einen Kondolenzbrief hin, den Mara gestern geschrieben hatte und einen zweiten, den jemand anderes verfasst haben musste.
»Wo ist der Unterschied, Fräulein Prager?«
Das Mädchen las. Sie sah keinen. Einige Sätze waren natürlich anders formuliert. Aber sonst?
»Sie sehen es nicht, oder?«, setzte die Büroleiterin sie unter Druck.
Mara sah sie an. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen oder sich zu bewegen.
»Warum grüßt Stabsfeldwebel Sauerland bei Ihnen nicht mit Heil Hitler? Hier tut er das!« Sie wedelte mit beiden Briefen.
»Weil«, begann sie stockend. »Weil dort bereits steht, dass der Gefallene sein Leben für Reich und Führer und Volk gegeben hat. Nochmal Hitler – wäre das nicht doppelt?«
Die Augen der anderen weiteten sich unnatürlich und Mara dämmerte es, dass sie etwas nicht sonderlich Kluges gesagt hatte.
»Hitler doppelt?«, hauchte die Schneiderer, als könnte sie kaum glauben, was sie gehört hatte.
»Wenn ich Ihnen eine Vorlage gebe, dann haben Sie die gefälligst 1:1 umzusetzen!« Der Ton wurde bedrohlich, aber noch war sie nicht laut geworden. »Und wenn da dreimal Hitler und fünfmal Piependeckel steht!«
»Piependeckel ... Verstanden, Frau Schna… Schneiderer. Ich grüße mit Heil Hitler. Ab sofort.«
Die andere nickte und lehnte sich zurück. »Schön. Ansonsten machen Sie sich übrigens gut bei uns, Fräulein Prager. Sie lernen schnell. Sie sind noch jung und Menschen wie Ihnen gehört die Zukunft. Sie können die Texte ruhig ein wenig abändern. Das sollten Sie insbesondere dann tun, wenn Sie erkennen, dass Gefallene nahe beieinander wohnen, Nachbarn sind oder Verwandte. Wir wollen nicht, dass die Angehörigen das Gefühl bekommen, dass wir sie mit Formbriefen abspeisen. Aber eines muss auch Ihre Generation lernen: Es gibt keine Zukunft ohne Reich und Führer. Der deutsche Gruß ist das, was uns Volksgenossen jeden Tag einander nahebringt, wenn wir uns treffen und verabschieden.«
Mara nickte, ihr Kopf war leer.
»Mir scheint, Sie haben verstanden. Dann können Sie jetzt gehen. Ab jetzt schließen Sie mit deutschem Gruß, den Rest lassen Sie so. Bevor Sie gehen, bringen Sie mir Ihre Briefe von heute, damit ich sie noch einmal ansehen kann. Heil Hitler!«
Das Mädchen senkte in stiller Zustimmung den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort Frau Schneiderer und ihr Vorzimmer.