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Zwischen Stammlager und Tauentzienpalast

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Freitag, 17. März 1944

»Guten Morgen«, flötete Mara beim Betreten des Büros. Voller Schwung hängte sie ihren Reichsbahnmantel an den Haken und ging zu ihrem Platz. Die anderen sagten nichts, sondern tippten vor sich hin. Nach dem Gespräch mit Frau Schneiderer hatte es keine weiteren Beanstandungen gegeben und sie konnte in Ruhe arbeiten. Sie war bestens gelaunt. Seit dem schweren Angriff vor einer Woche hatten sich nicht einmal mehr öffentliche Luftwarnungen ereignet. Ob sich bald alles zum Guten wenden würde?

Auf ihrem Schreibtisch lag der Kondolenzbrief, den sie gestern geschrieben hatte. Er war abgezeichnet, aber auf der Abschrift für die Akten fand sich ein Vermerk. Sie runzelte die Stirn und setzte sich. Wieder eine Ermahnung?

Sie las: Ein sehr aufrichtiges und anteilnehmendes Schreiben. Gut gemacht, Frl. Prager! Heil Hitler. Unterschrieben von Stabsfeldwebel Sauerland.

Lächelnd lehnte sie sich zurück. Sie hatte bemerkt, dass der Gefallene nur kurz zuvor mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet worden war. Vermutlich wussten die Angehörigen das noch nicht oder freuten sich über die Auszeichnung, während schon die schreckliche Nachricht zu ihnen auf dem Weg war. Sie hatte sich also den Rest hinzugedacht:

Frau Ilse Reimann, Regensburg.

Sehr geehrte Frau Reimann.

Ich habe heute die schwere Aufgabe, Sie davon zu verständigen, daß Ihr Gatte, Unteroffizier Max Reimann, am 25. Februar bei einem Spähtruppunternehmen getreu seinem Fahneneide für Führer, Volk und Vaterland gefallen ist. Er fiel an der Spitze des von ihm geführten Spähtrupps 15 km nördlich von Kriwoi Rog.

Zu dem schweren Opfer, daß Sie für das Vaterland brachten, spreche ich Ihnen zugleich im Namen seiner Kameraden meine wärmste Anteilnahme aus.

Die Kompanie verliert in Ihrem Gatten, dem erst vor einigen Tagen des E.K. 1. Klasse verliehen wurde, einen äußerst tapferen Soldaten und guten Kameraden. Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Gatte sein Leben für die Größe und den Bestand von Führer, Volk und Vaterland hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat.

Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl! Heil Hitler

Ihr sehr ergebener

Gez.: Sauerland, Stabsfeldwebel

Sauerland hatte gestern höchstpersönlich einen Stapel Listen gebracht. Ausfälle des XXXX. Panzerkorps der Heeresgruppe A, die Ende Februar bei Apostolowo unter hohen Verlusten zurückgedrängt worden war. Die Kommandeure dort konnten unmöglich selbst längere Briefe verfassen. »In dieser Situation sind wir gefragt, die Moral an der Heimatfront so gut wie möglich zu unterstützen«, hatte er gesagt.

Und jetzt dieses Lob. Sie atmete tief durch. Mit frischem Elan zog sie den neuen Papierstoß zu sich heran. Verlustlisten der 2. SS-Panzerdivision, Vermerk: Eilt, verlegt nach Frankreich. Das beunruhigte sie nicht mehr. Sie kannte ja ihre Remington.

Etwas rutschte hinten aus dem Stapel. Sie streckte sich und fand ein Taschentuch. Darin war was eingeschlagen. Erstaunt erkannte sie zwei Achtelstücke Schokolade. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, ohne sich zu bewegen, und setzte sich langsam hin. Woher kam das? Die Frauen hatten nichts bemerkt. Ob vielleicht … Manfred? Sie lächelte. Niemand anderes fiel ihr ein. Er musste die Stücke von seiner Lebensmittelration abgezweigt haben.

Die Tür flog auf und mit einem launigen »Heil Hitler« erschien die Schnatterer. Sie brachte eine neue Anweisung für die Weitergabe von Listen an das IKRK und überreichte sie den drei Schreiberinnen. Mara war mit solchen Direkteingaben an das Internationale Rote Kreuz nicht befasst. Daher wurde sie gar nicht beachtet. Zaghaft meldete sie sich zu Wort.

»Entschuldigen Sie, Frau Schneiderer. Ist Obergefreiter Halber heute da? Ich habe ihn länger nicht gesehen.«

Die Schnatterer sah sie ernst an. »Dienstliche Angelegenheiten können Sie mit den Kolleginnen oder mir erörtern, Fräulein Prager.« Dann setzte sie milder hinzu: »Der Obergefreite Halber holt Listen aus dem Stammlager IIID. Er wird für den frühen Nachmittag vom Stalag zurückerwartet.«

Mara bedankte sich höflich und tat so, als spanne sie Vordrucke ein, um neue Kondolenzschreiben zu verfassen. Insgeheim dankte sie ihm aber für die Schokolade. Das hätte sie niemals erwartet. Sie mochte die Sorte gar nicht besonders, diese würde sie sich trotzdem für einen speziellen Moment aufheben.

Manfred machte sich rar. Seit Anfang der Woche begann er morgens früher und arbeitete länger. Gestern hatte er ihr erzählt, dass immer öfter Angehörige der Kernwehrverwaltung an die Front versetzt würden und ihre Aufgaben an angelernte oder weibliche Freiwillige gingen. Er wollte sich so unentbehrlich machen wie möglich, damit man gar nicht auf die Idee käme, ihn einzuziehen. Diese Nachricht hatte auch sie schwer beschäftigt und sie versuchte trotzdem, ihn zu beruhigen. Er sei wichtig und erledige so viel, dass sie das nicht glauben wolle. Aber er hatte nur genickt und nichts gesagt und schnell seine Pause beendet. Er war so schüchtern und wirkte etwas unbeholfen hinter seinen dicken Brillengläsern und sein braver Mittelscheitel machte ihn erst recht nicht zum Draufgänger. Oft sah er sie nicht einmal direkt an.

»Wieso müssen wir eigentlich selbst Listen aus einem Stammlager holen?«, fragte sie laut in den Raum. Da sonst niemand antwortete, erbarmte sich die Brünette, Frau Stucht.

»Weil Postsäcke brennen, Kindchen!«

Lange Augenblicke sahen Mara und die Frau sich an, während das Mädchen sich versuchte vorzustellen, was die andere genau meinte.

Dann seufzte die Kollegin, als erwarte sie Mitleid. »Wenn Thüringen den Verlust von Abschriften bemerkt, fragen sie bei uns nach. Anscheinend ist eine Lieferung nach Saalfeld und Meiningen während der Angriffe am 9. März verloren gegangen. Also besorgen wir die aufs Neue.«

»Aha. Danke.« Mara war zufrieden. Sie wünschte sich, dass die anderen sie langsam mal als Kollegin und nicht wie einen Fremdkörper behandelten. In die Pausen verschwanden die drei nach wie vor gemeinsam und nicht ein einziges Mal hatte man sie gefragt, ob sie vielleicht mitgehen wolle.

Den Rest des Vormittags tippte Mara ihre Listen und bemerkte erst nicht die einsetzende Stille, nachdem die anderen längst in die Mittagspausen verschwunden waren. Sie war in Gedanken woanders, verdrängte die Lebensschicksale, die sie mit dem Übertrag von den Namen für die Angehörigen offiziell beendete und stellte sich eine Welt der Wissenschaft und der Entdeckungen vor. Und sie entschied, heute wieder einmal zum Bahnhof Zoo zu gehen und zu schauen, was es beim alten Darburg Neues gab. Oder wollte sie mal dem Tipp von Manfred folgen und den Kellerladen am Schlesischen Bahnhof suchen?

»Mahlzeit«, erklang es fröhlich von der Tür.

»Manfred! Du bist zurück.«

Er blickte sich schnell um und schlüpfte in das Büro.

»Hast du die Schokolade gefunden?«

Ihre Stimme fühlte sich plötzlich belegt an und sie krächzte, daher nickte sie im Anschluss an ihre Antwort umso deutlicher. »Das war so nett von dir. Ich liebe Schokolade.« Das war ja nicht wahr, aber sie liebte seine Geste und nur das zählte.

Er hob einen prallen Aktenordner. »Das habe ich holen müssen. Listen der Kriegsgefangenen. Ich erzähle es dir später.«

Neugierig stand sie auf und ging zu ihm. »Lass mal sehen.« Sie spürte seine Körperwärme, als er neben ihr den Ordner aufschlug und sie zaghaft die eingehefteten Blätter hier und dort anhob. Es waren Listen wie die, die sie täglich bearbeitete.

»Die leben alle noch?«

Er lachte. »Natürlich. Es sind Kriegsgefangene. Wir geben dem Roten Kreuz regelmäßig Auskunft und die leiten das weiter.«

»Und die erste Lieferung ist verbrannt?«

Manfred sah sie fragend an.

»Frau Stucht erwähnte sowas.«

Er grinste. »Klar, kann sein. Aber ich glaube eher, dass die fehlgegangen sind. Kriegsgefangenenangelegenheiten gehen nicht nach Meiningen oder Saalfeld, sondern laufen über Torgau. Vielleicht hat da jemand nicht aufgepasst und die aus Genf haben nachgefragt. Wenn das Ausland sich muckt, spuren hier immer alle. Im schlimmsten Fall bekommt Genf eine doppelte Lieferung.«

Mara nickte schweigend und blätterte durch die Akte. Sie bemerkte die fremdländischen Namen. ›Morrow‹, ›Beauvoir‹, ›Sandlock‹. Bei den deutschen Gefallenen stellte sie sich manchmal etwas vor über die Personen. Das war ganz leicht, wenn sie wenigstens die Heimatorte erkannte. Aber hier?

»Das sind Kanadier«, sagte Manfred.

»Oh, aber der da klingt französisch.«

Manfred erklärte ihr, dass in Kanada die Vorfahren vieler Menschen aus England und aus Frankreich stammten und man dort heute noch beide Sprachen verwende. Das erstaunte sie.

»Und Deutsch? Wo spricht man Deutsch?«

Er lächelte müde. »Nur hier. Bis zum Weltkrieg sprach man in Amerika sehr viel Deutsch. Gerade in Neu York gab es sehr viele Deutschstämmige, die das im Alltag gesprochen hatten. Aber im Weltkrieg wurde es schwieriger für sie und sie stellten sich um.«

»Das ist traurig«, murmelte sie und Manfred nickte.

Sie entdeckte etwas anderes. »Da, das ist doch ein Deutscher!« Sie las: »Sam Goldstone. Nein, doch nicht. Ich dachte Goldstein. Aber das klingt hübsch.«

Er zuckte die Schultern. »Vielleicht ein Jude.«

»Ein Jude?«, entfuhr es ihr ohne gespielte Überraschung. »Wie kommt der denn dahin?«

Unbewusst schüttelte er den Kopf. »Mara, Juden leben überall und manche werden Soldaten und kämpfen.«

Sie nickte. Natürlich, der Gedanke war einleuchtend. ›Sam Goldstone‹, irgendwie kam ihr der Name bekannt vor.

»Goldstein, Rothstein, Silberstein, Goldziher… alles jüdische Namen. Liest man doch überall. Geh mal ins Nikolaiviertel und sieh dir die Ladenschilder an. Wenn da noch welche sind.«

»Aber sie klingen Deutsch«, beharrte sie.

Er verdrehte die Augen, aber besann sich sofort wieder. Sie war ja fast noch ein Kind. »Das sind sie doch auch. Deutsche.« Er ließ die Liste sinken. Kein gutes Thema für eine Plauderei im Dienst.

»Lass nochmal sehen«, sie griff nach den Unterlagen und suchte einen Namen, den sie leise vorlas: »Sam Goldstone«. Das wunderte ihn wohl. Ausgerechnet dieser Name auf einer vertraulichen Liste erregte ihr Interesse. Und dann klang er noch jüdisch. Er druckste herum. Anscheinend wollte er jetzt das Thema wechseln. Und tatsächlich.

»Sag mal, Mara. Im Tauentzienpalast spielen sie heute nochmal Die Feuerzangenbowle. Hättest du Lust?«

Ihre Miene hellte sich wieder auf. Film! »Natürlich, ja. Gerne«, dann wurde sie ruhiger. »Aber ich muss nach Hause, Vater weiß nicht wo ich bin und er hatte Frühdienst. Er würde sonst warten und das gibt dann Ärger.«

»Das macht nichts. Ich kann dich abholen. Sagen wir um 19 Uhr?«

»Nein, lieber treffen wir uns dort, es ist ja nicht weit. Oder am Bahnhof Zoo vor dem UFA-Palast

Er nickte. »In Ordnung, ganz wie du willst. Bleibt’s beim Film?«

Sie konnte nur breit strahlen. Er hob winkend den Ordner und schloss die Tür. Erst jetzt merkte Mara, dass sie hungrig war. Lächelnd schlug sie das Taschentuch auseinander und machte sich über die zwei großen Stücke Schokolade her. Als die drei anderen aus der Pause kamen, war längst nichts mehr übrig.

***

Die Tage wurden zwar länger, aber jetzt, wenige Minuten nach 19 Uhr, war es noch immer dunkel. Ganz anders in der Nürnberger Straße. Gäbe es nicht die Tarnnetze, die über die Straßen gespannt waren, hätte man glauben können, es sei Frieden. Überall waren Menschen und auch einige Autos fuhren, vor allem Taxis und sicherlich manche Dienstfahrzeuge.

Den Tauentzienpalast kannte sie, also wartete sie dort. Mara war schick zurechtgemacht. Wenn sie auch ein wenig fror, hatte sie sich doch für die dünne halblange Jacke entschieden sowie einen alten seidenen Schal, den sie um den Kopf geschlungen hatte. Dazu passten die silbernen Ohrringe, die sie nur selten benutzte, denn die stammten von ihrer Mutter. Vater hatte sie ihr vor einigen Monaten feierlich gegeben. Sie sei jetzt alt genug, sich adrett zu machen, hatte er gesagt. Ihr Herz schlug aufgeregt, wann immer sie an diesen Moment dachte. Sie waren schon ein gutes Pärchen, Paps und sie. Meistens jedenfalls.

Das Kino, direkt neben dem Femina-Palast, war gut besucht. In großen Lettern wurde die Feuerzangenbowle beworben und verkündet, dass Heinz Rühmann mitspiele. Manfred erblickte sie noch nicht. Immer wieder sah sie sich um. Im Femina hatte die ›Kraft durch Freude‹-Organisation ein Konzert mit Juan Llossas und seiner spanischen Kapelle organisiert. Entsprechend stark war der Andrang. Sie reckte und streckte sich. Als ihr jemand auf die Schulter tippte, erschrak sie und wandte sich um, eine Schimpfkanonade auf den Lippen. Dazu kam sie erst gar nicht. Manfred stand vor ihr – in Zivilkleidung und mit Bowler auf dem Kopf. Ihr Mund blieb offen. Sie staunte.

»Überrascht? Ich dachte, du hättest mich erwartet?«, grinste er.

Mara stammelte nur »Ehhm«.

»Du kennst mich nur in Uniform, stimmt‘s?«

Sie nickte. Er sah aus ... wie ein Gentleman. Wie ein Schauspieler.

»Also dann, gehen wir.« Seine Augen strahlten. Auch die dicken Brillengläser konnten das Leuchten nicht mindern. Sie schlenderten zum Tauentzienpalast und stellten sich hinten in die Schlange. Die friedlichen Tage wurden von den Menschen in vollen Zügen genossen – wer wusste schon, wann es die nächsten furchtbaren Luftangriffe geben würde?

»Hier ist ja was los«, staunte Mara.

»Aber sicher«, stimmte Manfred ihr zu. »Hier gibt es alles, was du dir vorstellen kannst. Und auch was man sich nicht vorstellen kann. Bis vor ein paar Jahren war dort die Kakadu-Bar, an der Ecke Joachimstaler, Ku’damm und Augsburger. Da hing über jedem Tisch ein Käfig mit einem Kakadu, der auf Kommando die Rechnung bestellte.«

Sie lachte laut und fröhlich.

Er zeigte auf einige schimpfende Wartende, die an der Kasse abgewiesen wurden. Es schien, dass die Vorstellung ausverkauft war. »Die Feuerzangenbowle ist aus, wie wäre es mit einem Tänzchen im Femina

»Femina, ich weiß nicht.« Sie sah neugierig die geschmückte und erleuchtete Fassade hoch, wenigstens bis zur zweiten Etage, denn darüber verdeckten die Tarnnetze des Luftschutzes die Sicht. Es sah aufregend aus, aber klang verrucht. Da gehörte ein anständiges Mädchen eigentlich nicht hin. Doch sie war nun hier, und sie hatte männliche Begleitung.

Manfred ließ ihr nicht die Zeit weiter zu grübeln, sondern ging einfach vor und auf das Portal zu, so dass ihr nichts andere übrig blieb, als zu folgen.

Die riesige, doppelflügelige Tür öffnete sich und augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre. Die Dunkelheit des Abends, die einsetzende Kühle verschwanden im Hintergrund hinter ihnen. Ein hell erleuchteter Vorraum tat sich auf, an den sich zu beiden Seiten Freitreppen anschlossen und im Hintergrund befand sich eine weitere Tür. Breiter und höher als die erste, aus dunklem Holz mit goldenen Ornamenten verziert und mit geschliffenem Kristall in der Mitte versehen. Dahinter erkannte sie schemenhafte Bewegungen, hörte Gelächter, Geräusche. Klirrendes Glas, sah taghelles Licht. Der Vorraum war gefüllt mit Menschen. So hatte Mara es in ihren Romanen gelesen, wenn die Helden in mondänen Hotels abstiegen. Das gab es wirklich … hier in Berlin … und sie mittendrin? Musik drang an ihr Ohr, schräg, schnell überspitzt. Sie waren ja kaum in das Gebäude vorgedrungen und wenn sie sie bis hierhin hörte, bei all dem Lärm – da musste riesig was los sein.

»… Alter …?«, sagte jemand undeutlich.

»Sie ist mit mir hier, achtzehn Jahre«, antwortete Manfred bestimmt und flüchtig schenkte sie ihm ein Lächeln, vollkommen überwältigt von dem, was hier um sie herum geschah.

Als sie nach oben sah, bemerkte sie eine verspiegelte Decke und darunter hing ein großer und runder Kristallleuchter.

Jemand zupfte an ihr und zog sie mit. Mara konnte den Blick nicht von dem spiegelnden Himmel über ihr lösen. Sie sah sich selbst, ganz klein, und viele andere, ebenso winzig. Aber alles war so fremd. Eine wahrhaft neue Welt, an der sie sich nicht sattsehen konnte.

»Staune keine Löcher in die Luft, wir müssen die Mäntel abgeben.«

Sie senkte unwillig ihren Blick. Er hatte sie zu einer Garderobe geführt und bereits seinen Mantel ausgezogen. Gerade reichte er einem Pagen in Uniform mit seidenem Einstecktuch den Bowler-Hut.

»Jetzt du«, er traf Anstalten, ihr aus der Jacke zu helfen. Sie musste sich wahrhaftig zwingen, nicht wieder nach oben zu sehen, selbst die Garderobe war aufregend neu und anders. Das Tuch zog sie vom Kopf und legte es sich um den Hals und verrenkte sich etwas, damit ihre schwere rote Mähne sich nicht verhedderte, dann drehte sie sich um.

Manfred langte nach ihrem Schal, doch hielt urplötzlich inne und betrachtete sie.

»Ich behalte ihn um, nur zur Sicherheit«, deutete sie seine Reaktion falsch.

Er schüttelte den Kopf und sah sie von oben bis unten an. Sie trug ein dunkelrotes Kleid. Es war leicht ausgeschnitten. Keinesfalls so aufreizend, wie viele junge Mädchen es wagten, aber gegenüber den hochgeschlossenen Blusen, die sie in der Dienststelle anhatte, war es fast freizügig. Von einem Vergleich mit ihrer Reichsbahnuniform gar nicht zu reden. Deshalb das Tuch um den Hals.

»Och, das Kleid?!«, deutete sie seinen Blick und er nickte. »Mein Vater hat es mir zu Weihnachten geschenkt.«

»Du bist wunderschön«, hauchte er dann. Der weiße Seidenschal um ihren Hals schuf einen zauberhaften Kontrast zu dem vollen Rot ihrer Haare und dem bleichen Teint ihres Gesichtes. Er zwang sich zu einer Reaktion, er musste einfach etwas tun.

»Noch weitere Kleidungsstücke, mein Herr?«, fragte der Page.

»Nein, wir sind soweit«, rief Manfred fast erleichtert aus. »Los, lass uns gehen.«

»Aber wohin …«, begann Mara, als er sie etwas grob durch die Menge schob, auf die große Tür zu, hinter der die Musik immer lauter wurde.

Er kicherte lediglich und schubste sie sanft vor sich her. Nicht uneigennützig, so konnte er es sich erlauben, ihren Rücken zu berühren, und das genoss er offenbar außerordentlich, denn er ließ die Hand dort.

Die Tür öffnete sich wie von selbst und gab den Blick frei auf einen großen Ballsaal, Prinzen und Fürsten würdig, aber das war nur der erste Eindruck. Eine Balustrade lief rund um die wahrhaft riesige Tanzfläche. Oben, wie auch rundherum, saßen oder standen Menschen und unterhielten sich, tranken, lachten und scherzten. Auf einer Empore spielte ein Orchester moderne Tanzmusik auf eine Art, wie sie Mara nie gehört hatte. Schnell, feurig, laut, wild und frech. Spanisch, so wie man in der Heimat von Juan Llossas Musik machte, und dann wieder verboten westlich, amerikanisch, fand sie, obwohl sie sich nicht gut mit sowas auskannte.

»Wollen wir dort sitzen?«, rief Manfred durch ihre Faszination hindurch und wies auf einen Tisch, an dem bereits einige junge Männer in schwarzer Uniform saßen, die heftig mit ihren Freundinnen flirteten.

»Nein, dort ist auch was frei«. Sie zeigte auf einen anderen, der näher an der Tanzfläche war. »Da sehe ich mehr vom Geschiebe und Geschubse«, schwindelte sie. Manfred führte sie dorthin und sie nahmen Platz. Sie fanden zwei Stühle über Eck und konnten sich und die Umgebung gut beobachten.

»Wann hast du eigentlich Geburtstag?« Er sah sie fragend an.

»Am 20. April. Wie der Führer. Und du?«

»3. August«, kam es wie aus der Pistole geschossen und sie beschloss, sich das unbedingt zu merken. »Einen kleinen Moment«, er ging zu den Jungs in Schwarz und wechselte ein paar Worte. Zwei von ihnen sahen hinüber und grüßten nickend. Dann kam er wieder zurück.

»Oh, du kennst die?«, fragte sie.

Er nickte. »Schulfreunde. Anscheinend auf Fronturlaub. Ich habe sie lange nicht gesehen. Sie würden sich gleich gerne mit mir unterhalten. Ist das in Ordnung?«

Mara stimmte leise zu. Sie mochte den Blick nicht von den Tanzenden abwenden. Die hüpften, drehten sich im Kreis, wirbelten einander durch die Gegend. Das … das … war so unerhört.

»Kannst du tanzen? Sollen wir?«

»Sowas kann ich nicht. Nein. Es ist … wild.« Sie errötete und Manfred musste laut lachen.

»Ach was, ist wie Walzer, nur schneller.«

Sie sah ihn an, als hätte er sie beleidigt. »Ich kann Walzer und das ist kein schneller Walzer. Aber …«, sie besah sich das Treiben und überlegte, ob sie es ihm sagen sollte. »Ich kann Foxtrott.«

Breit lachend hob er beide Arme und schob den Stuhl zurück, während er aufstand.

»Das ist perfekt. Dann los.« Er riss sie hoch und zog sie auf die Tanzfläche. Dort legte er den Arm um ihre Hüfte und wollte sie führen. Die Bewegungen kollidierten und weigerten sich, zu harmonieren. Sie schubsten sich, lachten und behinderten andere Tänzer. Lautes Gejohle aus der Nähe drang zu ihnen. Mara schwitzte und versuchte, sich auf sein Tempo einzulassen, aber dann war die Musik vorüber.

»Ich habe Durst«, stammelte sie und erst jetzt sah sie, dass Manfreds Kumpels in den Uniformen der Waffen-SS am Rand der Tanzfläche standen und feixten. »Üben, üben«, riefen sie. »Das schafft ihr«, johlte der zweite und der dritte: »Hübsche Dame, wenn Sie erfahrene Führung brauchen, fragen Sie mich.«

Mara lachte, langsam wuchs ihr Selbstbewusstsein. »Ich kann Foxtrott, aber du wohl nicht!«, sagte sie frech zu Manfred. Die Jungs hatten das gehört und lästerten laut. Sie winkten ihre Freundinnen zu sich. Die Kleine würde es Manfred geben, dass es sich gewaschen habe, zogen sie ihn auf. Die Stimmung war fabelhaft.

»Doch«, rief der gegen die ersten Klänge des nächsten Liedes an. »Kann ich. Aber was du tanzt ist Slowfox, jetzt üben wir mal Quickstep.«

Sie nahm die Herausforderung an und hielt mit. Sie beschleunigte die Schritte, die sie kannte und hüpfte bloß, wenn sie nicht weiterwusste und es war so oder so ein Heidenspaß. Außerdem, andere machten genau dasselbe, das sah auch nicht immer nach einem festen Muster aus. Manfred nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, dann legte er ihn um ihre Hüfte und drehte sie zweimal um die eigene Achse, bis er sie wieder festhielt. Sie sah ihn an, von unten, denn er war einen guten Kopf größer. Seine Augen, die manchmal tagsüber hinter den dicken Brillengläsern gequollen und müde aussahen, glänzten jetzt fiebrig und erregt und voller Leben. Sie linste an dem Gestell vorbei gleich in seine Pupillen. Auf der Stirn perlten Schweißtropfen. Sie stieß ihn instinktiv ab und er zog sie wieder heran und auf diese unbeholfene Weise tanzten sie zu wunderlichen und wilden fremden Klängen.

Mit dem Ende des Liedes drängte sie ihn zur Seite. »Jetzt müssen wir unbedingt was trinken«. Sie gingen zu ihrem Tisch und Manfred bestellte bei dem Kellner zwei Schoppen Wein. Mara wollte erst nicht, sie trank nie Alkohol. Dann beschloss sie insgeheim, einen Schluck zu probieren, aber sie mochte lieber vorsichtig sein. Sofort spürte sie die Wirkung. Ihr wurde warm und gleichzeitig auch fröhlicher zumute.

Heftig stieß sie an seine Schulter. »Da, da, sieh doch!«, Manfred schaute in die angewiesene Richtung, aber er sah nichts Besonderes. »Na, die Blitzmädels meine ich doch.« Sie hatte die drei Mädchen entdeckt, die sie vor einiger Zeit in der S-Bahn gesehen hatte. Die durchquerten langsam den Raum, als suchten sie jemanden. Während sie vorübergingen, sagte Mara bewusst laut: »Schau mal, die hält Ausschau nach Lutz, der untreuen Tomate.« Dann tat sie hastig, als müsse sie ihre Fingernägel überprüfen. Manfred sah sie erstaunt an.

Die drei blieben stehen. »Wen meinst du? Meinst du mich? Was weißt du von Lutz«, beugte sich eines der Mädchen fauchend zu ihr vor.

»Hä?«, stellte Mara sich dumm. »Wer ist Lutz? Ich sprach von Trutz. Trutz, die untreue Tomate. Schutz, Trutz und so.« Sie kicherte laut, die Mädchen gingen konsterniert weiter.

»Was ist mit dir?«, fragte Manfred leise, aber sie prustete nur.

»Trutz und Lutz.« Ein neues Lachen.

Er runzelte die Stirn. »Gott, du hattest doch nur einen Schluck!«

»Ja, und jetzt nehme ich noch einen.« Sie wollte nach dem Glas greifen, das so gut wie voll war, aber Manfred stoppte sie, setzte es an seine Lippen und trank es halb aus.

Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, bemerkte er: »Ich gehe mal austreten und schaue, ob ich einen Saft für dich bekomme, in Ordnung? Der Rest von dem Wein wird dir schon nicht schaden.« Dann stand er auf. Maras Enttäuschung verflog schnell. Er passte doch bloß auf sie auf und sie spürte ja, dass der Wein aufregende und ungewohnte Nebeneffekte hatte.

So wild wie die Musik war, schwirrten ihr bald die Sinne. Wenn sie die Augen schloss, wähnte sie sich auf einem fremden Planeten voller Farben, Klänge und Licht. Ein akustisches Blumenmeer erblühte um sie herum, sie wandelte auf einem Grasteppich aus hellen Strahlen. Ihr war warm von innen und von außen und … das Herz wärmte sie wie ein kleines Heizöfchen. Welche Wirkung doch Alkohol haben konnte. Oh, der Wein. Da wollte sie gleich einen weiteren Schluck nehmen, bevor Manfred mit dem Saft käme.

Sie fingerte nach dem Glas und öffnete die Augen. Vor ihr saß lächelnd ein junger blonder Mann in feldgrauer Ausgehuniform. Fein geschnittene Gesichtszüge und ausgesprochen volle Lippen über einem markanten Kinn füllten den Raum zwischen seinem weißen Hemdkragen und dem grauen Schiffchen, das er keck etwas schräg auf das Haupt gesetzt hatte.

»Ach, du bist nicht Manfred«, stieß sie hervor.

Er rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang und spielte Bedauern. »Nein, damit muss ich mich seit meiner Geburt abfinden, dass ich Helmut heiße.«

»Oh, und wo ist Manfred?« Sie hörte sich dummes Zeug reden, aber die Atmosphäre um sie herum war so betäubend, der Wein berauschend – oder andersrum – dass ihr jede Schlagfertigkeit abging.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, junges Fräulein. Ich sah den leeren Stuhl und dachte, hier wäre etwas frei.«

»Nein, ist es nicht. Hau ab«, tönte es von der Seite. Manfred war zurück, neben sich der Kellner, der neue Getränke brachte. Und Saft.

Der Junge in Feldgrau erhob sich, bewegte die Hand zur Mütze und grüßte Mara. »Bin schon weg, einen schönen Abend noch.«

»Einen schönen Abend«, sagte sie leise zurück. Dann trank sie einen Schluck und bemühte sich, in das Gespräch einzusteigen, das er mit ihr entspann, aber sie hörte gar nicht richtig zu. Dieser Junge … so hübsch, so fremd, so überraschend aufgetaucht war er, wie eine Fata Morgana.

»Wen suchst du«, fragte Manfred spitz, nachdem ihm aufgefallen war, dass Mara abwesend schien und ihre Blicke durch den Raum schweifen ließ.

»Ehm, deine Freunde. Die Jungs von der SS.«

»Jemineh, die waren doch in Begleitung.« Er schmunzelte. »Die sind schon weg. Du verstehst?«

Nein, tat sie nicht. Obwohl, wenn sie nachdachte, verstand sie jetzt schon. Und stellvertretend für deren Freundinnen errötete sie schweigend. Manfred spürte, dass etwas anders war, und fragte danach.

»Die Listen heute«, log sie. »2. SS-Panzerdivision. Sauerland wollte, dass wir die Verluste schnell bilanzieren, weil die nach Frankreich verlegt werden zur Auffrischung. Auf dieser Liste ... da hätten die drei sein können.«

Manfred nickte. »Lass uns nicht jetzt davon sprechen. Wir sollten lieber tanzen.«

Sie gab sich einen Ruck und ging mit ihm auf die Tanzfläche. Er würde sie nach Hause bringen müssen. Wenigstens bis zum Fasanenplatz. Die letzten Meter sollte sie alleine schaffen. Dann war sie vor dummen Bemerkungen der Winklers sicher – oder dem starrenden Blick von Heinz, obwohl der wahrscheinlich bereits schlief. Wenn der überhaupt jemals schlief.

Kleine Frau im Mond

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