Читать книгу Der Funke eines Augenblicks - Stefan G. Rohr - Страница 3

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In der Klinik hatte ich meinen Vater schlafend angetroffen. Die Betreuer baten mich, ihn möglichst nicht zu wecken, er hätte eine sehr unruhige Phase durchlebt und es täte ihm sicher gut, wenn er nun zunächst ungestört bliebe. Das wollte ich natürlich akzeptieren, öffnete aber noch kurz die Türe zu seinem Zimmer für einen kleinen Spalt um wenigstens einen Blick auf ihn werfen zu können. Er lag auf dem Rücken mit leicht nach hinten gestrecktem Kopf und halb geöffnetem Mund. Ich vernahm ein wiederkehrendes kurzes Röcheln, abgehackt, nichts Gutes verheißend. Seine Haut war aschgrau, seine Wangen eingefallen, die Augen tief in den Höhlen eingesunken.

Obwohl ich diesen Anblick nun schon einige Zeit kannte, erschrak ich erneut. So sah der Tod aus, schon im Raume stehend, wenn er sich nach und nach des Menschen bemächtigte. Und im Diesseits gewöhnt man sich nur sehr schwer an diese Bilder. Eine Hoffnung gab es keine mehr. Es ging vielmehr um die Frage des Wann und Wie, und es zerbrach mir auch an diesem Tage das Herz ihn so zu sehen. Hier gab es keine Sanftmut, keine schmeichelnd bettenden Daunenkissen eines sanften Entschwindens. Das Ringen um die letzten Augenblicke war nicht romantisch, nicht wiegend, nicht luftig leicht. Das Tier stand im Raum, sein Opfer umlauernd, es zerrte und fletschte mit den Zähnen, riss immer häufiger an ihm, ließ nicht mehr ab, kannte keine Gnade, keine Niederlage. Es würde das Geschöpf besiegen, und sich seiner bemächtigen. Und erst dann durfte es Hoffnung geben, dass sich die nun freie Seele zu den Wolken gesellte, mit ihnen tanzen und ziehen konnte, entlastet von allen dunklen Tüchern, die sie zuvor so schwer bedeckten.

Vor der Kliniktür schnappte ich unwillkürlich nach Luft. In meiner Nasenschleimhaut hatte sich der Geruch von Desinfektionsmittel, feuchten Linoleumböden und kaltem Kantinenessen festgesetzt. Es war immer so. Man trug das Leid noch länger in den eigenen Atemwegen mit hinaus, im Gewebe der Kleidung, so als wollte es sich an einem festklammern, seine Schatten dehnen, das Vergessen mit lästiger Anhänglichkeit noch in die Länge ziehen.

Von einer der vielen Kirchen der Innenstadt vernahm ich das Schlagen der Glocke einer Turmuhr. Dumpf hallten die Töne durch die Gassen, sangen monoton ihr Lied der Zeit, dann plötzlich mehrstimmig, als folgte der Trauer um die verlorene Stunde die Freude über die nun folgende, gerade neu geborene. Eine Gemeinde, die sich ein solches Spielwerk leisten konnte, musste wohlhabend sein, und verdorben. Denn die reichsten Kirchen haben nicht selten die meisten Sünder. Gespendete Glocken, Altare, Orgeln, Monstranzen, Statuen und natürlich auch Turmuhren dienen der Reinwaschung. Und je prächtiger die Gabe, desto schuldbeladener der edle Spender. Gottes Gnade musste somit käuflich sein. Ein Geschäftsmann also, der mit der Verdammnis drohend gute Kasse zu machen verstand. In armen Gemeinden wird man ihn demnach wohl missen. Da gibt es nichts zu holen. Und wer mittellos bleibt, kann getrost der Konkurrenz überlassen werden. Eine klare Verteilung des Marktes, ein Kartell zwischen Gott und seinem Antagonisten. Ich kam zu dem Schluss, unter diesen Umständen das Paradies gar nicht mehr als so erstrebenswert anzusehen. Der bessere Teil der Gesellschaft ließe sich wahrscheinlich viel eher irgendwo zwischen Fegefeuer und dem Untergeschoss antreffen.

Unbemerkt, ganz in meinen Gedanken vertieft, war ich in die Innenstadt gegangen. Links von mir das pompöse Kurhaus mit seinem bekannten Casino, der Trinkhalle und dem Odeon, in dem sich das Flötenorchester einer hiesigen Schule gerade auf eine Darbietung vorbereitete. Eine Mädchenschar mit Zöpfchen, weißen Blusen, blauen Röckchen, Kniestrümpfen und Lackschuhen stellte Notenständer auf, andere bliesen ihre Instrumente warm und verursachten dabei ein heilloses Durcheinander von schrillen Lauten, die nur schwerlich die harmonische Umformung in etwas Hörbares versprachen.

Mir war ohnehin nicht nach Flötentönen zumute, und so ging ich an den Kolonaden vorbei, schaute in die Auslagen der kleinen Boutiquen, den Lädchen mit sündhaft teuren Uhren und funkelnden Brillantgeschmeiden, deren Preise nicht ausgewiesen waren. Die Frage, ob das eine milde Geste gegenüber Menschen wie mir gemeint war, ihnen nicht an den Kopf werfen zu wollen, wie ärmlich doch die Reichweite ihrer Kaufkraft ausgefallen sei, oder es nur um einen billigen Trick handelte, den arglosen Bewunderer über die Schwelle zu locken, ließ ich unbeantwortet. Ich hatte nicht vor, dem per Selbstversuch auf den Grund zu gehen.

Wie viele von den hier Spazierenden aber wirklich in der Lage waren, sich ein Einfamilienhaus an den Arm oder um den Hals zu binden, war auch nicht zu erkennen. Die Fülle an Juwelieren und Boutiquen auf engstem Raume ließ jedoch die Vermutung zu, dass die Zahlen von Schaulustigen und Abverkäufen lukrativ korrelierten. Der Ausschank von Champagner und Chablis an einem halben Dutzend gut positionierter Stände war sicher auch nicht ohne Hinterlist gedacht. So manche zarte Kauflaune entwickelte sich nach ein, zwei Gläschen zu einem mächtigen Verlangen. Und die Kreditkarte erledigt dann den Rest.

Viele trugen große Hüte, als kämen sie direkt vom Golfplatz. Wer ein Polohemd trug, hatte meist den Kragen hochgeschlagen, was aussah, als hätten sie sich übereilt angezogen und keine Zeit mehr gehabt, noch einmal in den Spiegel zu gucken. Auch die vielen bunten Wattewesten, deren Designursprung aus dem Konstruktionsbüro einer Schwimmwestenfabrik stammen musste, oder knallgelbe Cordhosen sowie schottisch-karierte Beinkleider erzählten von eigenwilligen Modevorlieben der an mir vorbeischlendernden Herrenwelt.

Die Damen hatten sich kleine Einkaufstüten über den Arm gehängt, auf denen die Namen der umliegenden Boutiquen oder eines sündhaft teuren Designerlabels zu lesen waren. Sie trugen sie wie Trophäen, und ich fragte mich, ob es diese auch einfach nur so, ohne Inhalt, irgendwo zu kaufen gab. Mehr aber faszinierte mich die große Geschicklichkeit, mit der die meist eleganten Grazien ihre prächtigen Hüte trugen. Das war nicht allein dem Umstand geschuldet, dass schon der einzelne Stück so manches Mal eine Artistin als Trägerin verlangte, auch stießen die stolzen Besitzerinnen offensichtlich nie mit ihren Kopfbedeckungen zusammen, was ich als große Leistung empfand, denn der Radius so mancher Kopfbedeckung konnte mit dem eines Hula-Hoop-Reifens problemlos mithalten.

Ich hatte die Fußgängerzone erreicht. Unzählige Cafés hatten Tischchen und Stühle vor die Türen gestellt, Sonnenschirme aufgespannt und es herrschte emsiges Treiben. Trotz des noch nicht allzu weit fortgeschrittenen Aprils war es warm, sonnig und das Klima versprühte das Flair einer Stadt in der Toskana. Das Sprachgewirr hatte babylonische Ausmaße. Ich hörte Russisch, arabische Dialekte, viel Französisch, Japanisch und Chinesisch, immer wieder Englisch und manchmal auch ein wenig Deutsch, dann meist in der für die Region so typischen Mundart.

Eine alte Leierkastenfrau hatte sich zwischen zwei Bistros platziert und dudelte alte Weisen aus den 40er Jahren. Es schien, als ob sie die Kleiderkammer des Stadttheaters geplündert hatte. Sie trug ein wallendes schwarzes Bühnenkleid, hatte sich bunte Schals umgehängt und einen kecken Strohhut aufgesetzt. Ein kleines Sträußchen bunter getrockneter Feldblumen steckte in der Bordüre und wippte bei jeder ihrer Bewegungen rhythmisch von links nach rechts. Das sah lustig aus, und half ein wenig die vielen schiefen Töne aus ihrer Quetschkommode zu überhören.

Ich vernahm nun das Klappern von Pferdehufen. Gleich darauf kam langsam eine Pferdekutsche um die Kurve gefahren, auf dessen Bock ein dicker Mann mit Livree und Zylinder saß. Gelangweilt wedelte er von Zeit zu Zeit mit seiner Peitsche in Richtung der kräftigen Hintern der vor ihm stampfenden Gäule. Er beförderte gerade eine Gruppe von orientalischen Frauen, die allesamt schwarz verhüllt, mit Niqabs über ihren Köpfen, Platz genommen hatten und sich im deutlich gebrochenen English des Fuhrwerkchauffeurs die Sehenswürdigkeiten erklären ließen. Hinter dem Gefährt schlenderte ein Jüngling, der einen Zinkeimer und eine Handschaufel mit sich führte. Ab und zu beugte er sich nach unten und sammelte die Pferdeäpfel auf, die von den vorauslaufenden Vierbeinern achtlos fallen gelassen worden waren.

Ich überlegte kurz, wie viel Pferdescheiße er wohl sammeln müsste, um ein ähnlich gefülltes Bankkonto erwirtschaftet zu haben, wie es seine vor ihm sitzenden Touristinnen zu besitzen schienen. Aber das Schicksal ist ja mitunter schlitzohrig. Vielleicht würde er ja demnächst mit der Erfindung von Pferdewindeln Millionen machen.

Ich erspähte einen gerade freiwerdenden Tisch in einem Bistro und beschloss, diesen für mich einzunehmen. Mit einem katzenhaften Dreisprung schaffte ich es sogar, vor zwei Pärchen, die sich ebenfalls entschlossen hatten, dort Platz zu nehmen, einen Tick schneller zu sein. Es war wie ein kleiner Sieg, denn ich stellte sofort fest, dass dieser Tisch wie ein Premiumplatz am Catwalk einer Haute-Couture-Show war.

Das Café, das in einer schmalen Fußgängerzone lag, hatte seine Tische so aufgestellt, dass der Strom der Spazierenden über eine vielleicht vier Meter breite Gasse mitten durch die sitzenden Gäste gelenkt wurde. So bildeten die Tischreihen ein regelrechtes Spalier, das Ganze auf einer Länge von dreißig Metern. Saß man frontal zum Gesehen, und ich tat das intuitiv sofort, konnte man herrlich auf die vorbeistolzierenden Menschen schauen, sich dabei die interessantesten, lustigsten, merkwürdigsten, modisch auffälligsten oder einfach die schönsten dieser Exemplare heraussuchen und näher inspizieren.

Als ich saß, bemerkte ich sofort, dass ich in einer deutlich besseren Lage war, als all diejenigen, die sich durch dieses Nadelöhr zu zwängen hatten. Es glich einem Spießrutenlauf, denn die hier Sitzenden machten keinen Hehl aus ihren unverhohlenen Beobachtungen, und an mein Ohr gelangten schnell so mache lästernden Bewertungen, die an den Tischen um mich herum mal mehr oder weniger laut abgegeben wurden. Es hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass Wertungsnoten hochgehalten worden wären. Direkt hinter mir saßen zwei Herren mittleren Alters an einem hohen Bistrotisch, um den einige Barhocker platziert waren. Sie hatten sozusagen einen Logenplatz und konnten über die Köpfe der vor ihnen angereihten Tische das Geschehen hindernisfrei beobachten. Sie hatten sichtliches Vergnügen dabei, ihre kecken, manchmal aber auch zynischen Kommentare heraus zu posaunen, zogen indes genüsslich an ihren großen Zigarren, um sodann weiße Wolken über die Köpfe an den vor ihnen liegenden Tische zu pusten.

Ich kam nicht umhin, ihren Bemerkungen zu folgen, zumal die beiden einen zwar manchmal etwas derben, aber doch insgesamt recht amüsanten Humor bewiesen, und sie mich das eine oder andere Mal zum Schmunzeln brachten.

Sie schienen bemerkt zu haben, dass ich ihnen mit einem Ohr folgte. Offensichtlich störte sie das nicht im Geringsten. Viel mehr hatte ich nun sogar den Eindruck, dass sie sich deswegen sogleich in größere Höhen aufschwingen wollten. Sie gaben sich redliche Mühe, ihren neuen Gastzuhörer nicht zu langweilen. Aber bereits nach wenigen Minuten rückte ich selbst ins Visier der beiden. Sie hatten die Farbe meiner Socken zum Anlass für eine Wertung genommen.

„Sag mir, Rontrop“, fragte der eine, „welche Gesinnung will uns ein Träger pinkfarbener Socken mitteilen?“

Rontrop konstatierte schnell: „Dass er farbenblind ist, mein lieber Bodo.“

„Das ist ein Gebrechen, keine Gesinnung!“ erwiderte Bodo trocken.

„So manche Gesinnung ist zugleich ein Gebrechen, Du erbärmlicher Oberlehrer.“ antwortete Rontrop gelassen.

„Dann kann er nur bekennender Sozi sein.“ befand Bodo prompt. „Einer von den Ultras.“

„Ein Mitglied des Politbüros!“ krähte der Mann namens Rontrop.

„Nach Perestroika und Mauerfall arbeitslos und nach Orientierung suchend?" ergänzte der andere fragend.

„Wenn arbeitslos, dann nur vorübergehend.“ konstatierte Rontrop trocken. „Sozialisten exerzieren in diesen Fällen einfach ein paar Enteignungen, singen die Internationale und sind prompt Generaldirektor. Und die tragen dann wahrscheinlich diese Socken.“

„Aber vielleicht hat er ja nur einen Sehfehler und glaubt, dass er schwarze Socken trägt.“ warf Bodo ein, zog an seiner Zigarre und pustete den Rauch in meine Richtung. „Vielleicht sollten wir ihn aufklären …“

„Das wäre dann tatsächlich nur ein Gebrechen. Wenn auch ein recht skurriles. Aber fragen wir ihn doch einfach.“ beschloss Rontrop zur Vereinfachung.

Es war nun an mir, den Ball aufzunehmen. Die beiden Herren schienen sich nicht nur zu langweilen, sondern strebten zudem den Kontakt zu mir an. Ich wollte sie nicht enttäuschen.

„Es ist viel tiefgründiger, als Sie glauben, meine Herren.“ Ich drehte mich zu den beiden hinter mir Sitzenden um. Dabei gestattete ich mir einen kurzen aber offensichtlichen Blick herunter zu ihren Fußgelenken. „Die Farbe meiner Socken hat sogar eine Art lebensstrategischen Aspekt.“ Der Blick der beiden machte mir spontanes Vergnügen. „Ich möchte allerdings vorausschicken, dass das Erlebnis mit Ihnen dabei nicht repräsentativ ist. Es zeigt lediglich vergleichbare Parallelen.“ Jetzt beugten beide ihre Köpfe etwas näher zu mir. „In aller Regel werde ich nämlich von Damen auf meine Socken angesprochen. Ja, lassen Sie es mich so ausdrücken, es ist sogar fast ein Automatismus damit verbunden. Und ich möchte betonen, dass die sich hieraus entwickelnden Kontakte häufig von hohem Reiz sind.“

Rontrop war der erste von den Beiden, der nach einer kurzen, aber durchaus wahrnehmbaren Denkpause die Fassung zurückgewann. Er begann krähend zu lachen, und er hielt sich den Bauch, als hätte er gerade einen Medizinball verschluckt. Sein Freund Bodo stimmte nach einigen Sekunden mit ein, und grinsend deuteten Sie mir an, ich solle mich doch zu Ihnen setzen.

Rontrop sah mich interessiert von oben bis unten an. „Sie sehen nicht wie ein Casino-Ritter aus. Auch nicht, wie der hier übliche Fünf-Sterne-Gast.“ Sein Blick geriet noch einmal hoch und runter. „Da bleiben nur zwei Möglichkeiten: Fernsehmann oder Handelsvertreter.“ Er hielt kurz den Atem an. „Ich tippe aufs Fernsehen!“

„Ich auf Sockenvertreter!“ grinste Bodo.

Es begann Spaß zu bringen. Ich wurde etwas leiser. „Ich bewundere diesen Herrn hier …“ und zeigte auf Rontrop. „Ein feines Gespür haben Sie, mein Guter!“ Und ich begann zu flüstern, wobei die Köpfe der anderen so nahe an den meinen herankamen, dass wir uns fast mit den Stirnen berührt hätten. „Fernsehen ist zwar nicht ganz korrekt, aber beim Schießen würden man von einer `angekratzten 9´ sprechen. Denn das Fernsehen schöpft zu weiten Teilen aus dem mir zugehörigen Metier.“ Und ich schaute beide gelangweilt an.

Bodo schien sich meine Sätze innerlich noch einmal selbst vorzusprechen. Dann guckte er wie eine Straßenbahn, weil er noch nicht zu einem Ergebnis gekommen zu sein schien. „Ja und was ist das …?“

Ich begann sehr leise: „Ich bin beim Film.“

Rontrop grinste skeptisch: „Sollten wir Sie kennen …?“

Nun wurde ich wieder lauter: „Wenn ich Sie beiden so sehe, dann möchte ich davon ausgehen, ja!“

Beide schauten mich von oben bis unten an und prüften mein Gesicht, ob sie vielleicht nicht doch einen Leinwandstar entdecken konnten. Doch sie hoben bereits nach wenigen Sekunden die Schultern und schüttelten den Kopf. Nein, ich war ihnen völlig unbekannt.

Ich blieb freundlich. „Es ist auch nicht mein Gesicht! Meine Stimme werden Sie kennen. Ganz gewiss.“ Und ich machte eine kurze Pause. „Donald Duck!“ rief ich ihnen freudestrahlend entgegen. „Ich bin die Stimme von Donald Duck, sein deutscher Synchronsprecher, verstehen Sie?“ Ich setzte mich nun wieder gerade hin. Der Abstand zu den anderen war wieder hergestellt.

Beide glotzten mich an. Rontrop ein wenig skeptischer, als der andere. „Los, machen Sie mal vor!““ befahl er in provokantem Unterton.

Ich schüttelte den Kopf. „Das darf ich leider aus lizenzrechtlichen Gründen in der Öffentlichkeit nicht tun.“ Ich lehnte mich nach hinten. „Aber wenn wir gemeinsam nach hinten …“

Rontrop machte eine ablehnende Geste. Das wollte er ganz offensichtlich nicht.

Bodo hatte nachgedacht. „Wie kommt man bloß zu einem solchen Beruf?“

„Früher habe ich gestottert.“ gab ich beiden zu wissen. „Mein Logopäde hat mich entdeckt.“

Es folgte bei meinen Zuhörern eine erneute Phase des Schweigens. Der Mann namens Bodo kratze sich an seinem Hinterkopf. Dann kamen erste Zweifel bei ihm auf: „Davon kann man doch gar nicht leben!“ konstatierte er, noch immer etwas nachdenklich.

Rontrop vermutete das Gegenteil: „Oh, mein lieber Bodo, da kann man sich täuschen. Es wird, Du wirst es nicht glauben, immer noch sehr viel Deutsch auf der Welt gesprochen, nicht nur bei unseren Alpennachbarn. Auch in den USA, Australien, Neuseeland, Südafrika, Südamerika …“

„… und mit einer heißen Kartoffel im Mund funktioniert das auch in Holland und Dänemark, nicht zu vergessen: Grönland!“ ergänzte ich seine Aufführung. „Sehr lukratives Geschäft, sage ich Ihnen. Wirklich sehr, sehr lukrativ.“

Rontrop grinste diebisch. „Der Bursche hier verarscht uns, Bodo! Und zwar ganz gewaltig.“

Bodo wagte noch einen prüfenden Blick in meine Richtung, dann begann er zu nicken. Dabei murmelte er: „Ja, Rontrop, Das tut er wohl.“ Sein Gesicht erhellte sich zu einem freundlichen Grinsen. „Hat er aber sauber hingekriegt!“

Beide begannen laut und krähend zu lachen. Und auch ich konnte mich dem nun nicht mehr entziehen und stimmte, ein wenig leiser, aber dennoch herzlich mit ein.

„Ich bin übrigens Ludwig Maler, aber ich denke, Ludwig sollte reichen.“ unterbrach ich selbst mein Lachen.

„Und Du darfst mich Rontrop nennen. Rontrop von Welfenbein, um genau zu sein. Und der Bursche neben mir hier ist mein Knappe Bodo. Er verfügt über keinen Nachnamen, das macht die Sache einfacher. Und seinen Grabstein irgendwann billiger.“ Rontrop reichte mir seine Hand entgegen und wir begrüßten uns in einer ungewohnt herzlichen und anhaltenden Weise. Ich merkte sofort, dass dieser Mann mit mir eine dieser Wellenlängen aufwies, die man nicht ohne weiteres erklären konnte. Seine hellen Augen blitzen mich freundlich an, sein Blick war dennoch gefasst und neugierig zugleich.

Wie ich im weiteren Verlaufe erfuhr, hieß er in Wirklichkeit Kurt Kaiser. Doch ihm gefiel der Name Rontrop von Welfenbein einfach besser, und zudem würde dieser ideal in die hiesige Gesellschaft passen. Er war ein kleiner untersetzter Mann von etwas über sechzig Jahren, mit einer wehenden grauen Löwenmähne auf dem Kopf, die ihm das Aussehen eines verarmten Karajans verlieh. Sein eigentliches Markenzeichen allerdings waren die Zigarren, von denen fast durchgehend eine zwischen seinen Fingern glühte und deren Genuss für ihn nicht zu enden scheinen wollte. Ab und zu nahm er einen großen Schluck aus dem vor ihm stehenden Weizenbierglas. Dann schmatzte er ein wenig und mir fiel schnell auf, dass er sich danach mit dem Handrücken so über den Mund wischte, als trüge er einen Kaiser-Wilhelm-Bart.

Sein Begleiter Bodo war vielleicht zwanzig Jahre jünger. Er war groß und schlank, und schien einem Kleidungsstil zu frönen, den ich eher bei Rappern vermutet hätte. Eine große Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern saß weit vorgeschoben auf seiner Nase, an seinem Arm prangte eine sündhaft teuer aussehende und zudem riesengroße Armbanduhr. Auch er rauchte gerade eine Zigarre, und ich sollte noch lernen, dass es genau dieses Tabakprodukt war, was die beiden besonders miteinander verband.

Bodo hatte sich die Banderole seiner Zigarre wie einen Ring auf den kleinen Finger gesteckt. Ich konnte zwar keinen Markennamen erkennen, doch meine Vermutung sollte sich in der Folge und vielen weiteren Begegnungen bestätigen, dass diese braunen Stängel einzeln den Wert eines feudalen Abendessens in einem Nobelrestaurant ausmachten.

Ich klärte meine neuen Bekannten über meinen wirklichen Beruf als Journalist auf und sowie den unerfreulichen Grund meiner vorübergehenden Anwesenheit in diesem Städtchen. Sie registrierten alles ohne weitere Kommentare, so als klinge der Schlag einer entfernten Turmuhr um halb Drei.

Auf meine Frage, was denn sie beruflich beschäftigen würde, antworteten beide synchron im Chor: „Nichts!“ So kurz und bündig es war, so selbstverständlich kam es bei mir an.

„Das wahre Leben, die eigentliche Entfaltung des freien Geistes, ist nur im Müßiggang zu erzielen.“ Rontrop grinste nicht einmal bei seiner These. Er schien es vollkommen ernst zu meinen. „Viele der Großen dieser Welt haben nur auf diese Weise das vollbringen können, was ihnen den Ruhm über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende einbrachte.“ Und er schaute mich fordernd an. „Denk an Diogenes, an Sokrates, an Goethe.“

„Und was ist mit Sauerbruch, Schweitzer oder Einstein?“ konterte ich, denn seine These war mir deutlich zu einseitig.

„Dieses Argument ist unzulässig.“ antwortete Rontrop scharf. „Es bleibt uns im Verborgenen, was sie noch viel Größeres hätten leisten können, wenn sie sich ihrer proletarischen Mühlen, ihrer Jochs entledigt, und sich allein dem Müßiggang hingegeben hätten.“

„Für mich klingt das wie ein Paradoxon.“ befand ich ehrlich. „Denn Müßiggang bedeutet nichts anderes als Nichtstun. Und wer nichts tut, der kann auch nichts schaffen. Auch Diogenes hat in seiner Tonne gearbeitet. Er hat gedacht. Und er ist hierüber zu Ergebnissen gekommen, die man durchaus als Produkte eines Schaffens, und eben nicht eines Unterlassens, versteht.“

„Was Du als Paradoxon verstehst, ist nach meiner Lesart vielmehr wie ein Oxymoron zu verstehen.“ dozierte Rontrop nun, und es schien mir, dass er in seinem Element angekommen war. „Wir können es mit `Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke´ vergleichen. Das hat übrigens George Orwell in seinem Roman 1984 geschrieben, ist also leider nicht von mir. Dennoch richtig. Müßiggang ist Schaffenskraft. Es sind die Gegensätze, die zur allergrößten Leistung führen. Oder hast Du schon einmal gehört, dass man in einem kleinen viereckigen Büro von acht Uhr morgens bis sechszehn Uhr abends zum Nobelpreis gelangt sei?“

„Ich glaube, dass die weit überwiegende Mehrheit der Nobelpreisträger ihre Verdienste und Meriten in eckigen Arbeitszimmern, weiß gekachelten Labors, an sterilen Operationstischen oder in muffig riechenden Hörsälen errungen haben.“ erwiderte ich, und ich merkte, dass ich mich tatsächlich zu echauffieren begonnen hatte. „Welchen kennst Du, lieber Rontrop, der es liegend, säuselnd in einer Hängematte, mit einem Glas Champagner dazu, vielleicht auch einem Joint oder eben mit einer kapitalen Cohiba geschafft hat?“

„Tschechov hat in seinem `Onkel Wanja´ den Müßiggang wunderbar in Szene gesetzt …“ warf mir Rontrop entgegen.

„… und sein Ergebnis spricht für sich: Müßiggang führt zur Dekadenz und dem Verderben.“ Ich hatte einen roten Kopf bekommen.

Bodo war hellwach geworden. „Champagner!“ rief er. „Das ist das Stichwort.“ Er drehte sich zu einem Ober des Bistros um. „Fantomas“, rief er laut, „eine Flasche Dom Pérignon Rosé, bitte nur mit einem Glas!“ Dabei betonte er `mit einem´ in unüberhörbarer Deutlichkeit.

„Wie hast Du den Ober gerade genannt?“ ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben, musste aber schon wieder ein wenig schmunzeln.

„Fantomas!“ antwortete Bodo etwas gelangweilt. „Eigentlich heißt er nur `Thomas´, aber Rontrop und ich finden das deutlich zu langweilig.“

„Ihr scheint Eure Namen ohnehin nicht besonders zu schätzen.“ bemerkte ich freundlich. Ich war nämlich ein wenig froh, dass wir gerade das Thema wechseln konnten.

„Ich, für meinen Teil, halte es mit Goethe.“ antwortete Rontrop ruhig.

„Nenn es dann, wie du willst,

Nenn´s Glück! Herz! Liebe! Gott!

Ich habe keinen Namen

Dafür! Gefühl ist alles;

Name ist Schall und Rauch,

Umnebelnd Himmelsglut.“

Er zog an seiner Zigarre, die mittlerweile so kurz war, dass diese nur noch wenige Millimeter vor seinen Fingern glühte. „Faust I!“ fügte er hinzu. „Dir werde ich das wohl nicht erklären müssen. Meinem ungebildeten und manierlosen Kumpan an unserer Seite hingegen schon. Er ist in gleicher Weise als bildungsfern zu bezeichnen, wie er es an Anstand und Höflichkeit missen lässt. Er kennt zudem nur sich, und solch Leute interessieren sich weder für Goethe noch für Knigge. Er genießt seinen Wohlstand, gleichsam als Absolution für fehlenden Kulturantrieb, was ihm, ich muss es leider zugeben, auch noch ein mehr als sanftes Ruhekissen darbietet. Er konsumiert in vollen Zügen, wie ein Proletarier, ohne dabei einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass ein guter Champagner einen noch viel größeren Genuss bereitet, wenn er in geeigneter Gesellschaft, kameradschaftlich geteilt, verkostet wird.“

Bodo nahm es gelassen und grinste provokativ in die Richtung seines Anklägers. „Als ich ihm das letzte Mal ein Gläschen aus einer sechshundertfünfzig Euro teuren Flasche anbot, hat dieser Flegel mich tatsächlich gefragt, ob ich ihm nicht lieber ein Weizenbier spendieren würde. Man stelle fest: Ein so derbes Getränk für ein Glas edlen Champagners eintauschen zu wollen, das entlarvt doch den wahren Proleten.“

„Ich hatte einfach nur Durst!“ krächzte Rontrop.

„Und ich habe Verantwortung!“ erwiderte sein Freund gelassen. „Es käme einer Erniedrigung all derer gleich, die sich mit Hingabe, unter Anwendung jahrhundertealter Rezepturen, einem mühevollen und akribischen Herstellungsprozessen unterwerfen, feinste Nasen- und Gaumenkünste entwickeln, um schließlich Getränke zu offenbaren, deren Konsum nur Genießern obliegen darf, deren Hang zum Edlen größer ist, als profaner Durst, der in der Not auf jedem Pissoir gestillt werden könnte.“

Mir gefiel dieser Schlagaustausch durchaus, und so wollte ich meinen Teil dazu beitragen: „Die Tatsache, Bodo, dass Du dennoch nur ein Glas geordert hast, lässt mich vermuten, dass Du mich in die gleiche Kategorie der Unwerten sortierst, wie Du es mit Deinem Freund tust. Da es für Dich hierzu keinen Anlass geben kann, neige ich der Vermutung zu, dass es bei Dir nichts anderes ist, als purer Egoismus oder trivialer Geiz.“

Bodo schüttelte leicht den Kopf. „Du, verehrter Herr Ludwig Maler, musst Dich der Ehre erst erweisen. Nur das ist der Grund. Ich kenne Dich kaum, sehe aber, dass Du dem Mineralwasser zuneigst. Und wer an einem solchen Tag, in dieser Stadt, an diesem Ort, ein Glas Wasser zum Munde führt, ist meinethalben per se suspekt. Don´t drink it, fish fuck in it! Du hast Dich damit verdächtig gemacht ein kulinarischer Betonklotz zu sein. Beweise das Gegenteil, und ich werde Dich stets zu einem kleinen Gläschen einladen. Aber höchstwahrscheinlich bist Du obendrauf auch noch Veganer, gehst dreimal wöchentlich zum Yoga, und auf Deinem Auto klebt ein Aufkleber: Ich bremse auch für Katzen!“

„Bedenke“, riet ich meinem Gesprächspartner, „dass Dein Champagner ein ganz und gar veganes Produkt ist, welches zudem fast in Gänze aus Wasser besteht. Du solltest also nicht so unflätig urteilen …“

Bodos Augen begannen zu funkeln. „Na siehst Du, dann lag ich ja gar nicht so verkehrt.“ Und er schnalzte mit der Zunge, denn Fantomas brachte den Kühler mit der Flasche. „Und bestimmt auch Nichtraucher! Da lass ich einen ´drauf!“

„So ist er, unser Bodo!“ rief Rontrop fröhlich. „Merkt er doch stets und sofort, wem er intellektuell unterlegen ist, um ihn sodann mit Tritten in den Unterleib zu bekämpfen. Wenn er nicht so reich wäre, würde er einen perfekten Marxisten abgeben.“ Er lachte mich offen an. „Ludwig, ich freue mich über unser Kennenlernen. Lasse uns Weizenbier und Wasser in Hülle und Fülle bestellen, dass unserem Neureichen die Galle explodiert.“

„So soll es sein. Wenngleich auch kein schöner Tod.“ stimmte ich Rontrop zu. „Allerdings bevorzuge ich zum Wasser die Beigabe eines guten Rieslings. Nicht zu jung, der Säure wegen. Und ich werde dann, vor den Augen unseres `La-noble-vie-Fetischisten´ das Wasser mit dem Wein in einem Glas zusammenmixen. Ein Frevel in seinen Augen, zugegeben, aber mit einem Stückchen Zitrone und zwei, drei Eiswürfeln herrlich erfrischend. Und Champagner behalte ich mir für Gelegenheiten vor, die sich mit französischen Spitzendessous, kirschfarbenen Lippenstiften und pfirsichzarter Haut zu erkennen geben.“

„Das, Ludwig, macht Dich nun wieder salonfähig.“ Bodo probierte jetzt den Champagner, nickte, nachdem er einen kleinen Schluck verkostet hatte, und sah mit sichtbarer Ehrfurcht zu, als ihm das dünne Glas halbvoll geschenkt überreicht wurde.

An diesem Nachmittag, zugegeben, es war sicher bereits Abend, rauchte ich nach langer Zeit einmal wieder eine Zigarre. Mir fehlte zwar jedwede Hingabe dazu, obwohl das prachtvolle und aromavolle Stück gewiss zu einer ebensolchen Luxuskategorie gehörte, wie der Champagner im Kühler neben Bodo, dennoch gab ich recht glaubwürdig den äußeren Anschein eines Semi-Verständigen ab. Gottlob hatte ich schon einmal von `Montecristo´, `Bolivar´oder `Partagas´ gehört und verfiel somit nicht der Gefahr, diese mit etwaigen Bossen südamerikanischer Drogenkartelle zu verwechseln. Auch wusste ich, dass es einem Frevel gleichkam, die Asche zu früh fallen zu lassen oder an dem Stängel zu saugen, als säße dort ein Schnuller. Rundum, ich tat mein Bestes, und es gelang mir wohl in ausreichender Weise, meine beiden Beobachter zufrieden zu stellen.

Wie ich im Laufe des fortschreitenden Miteinanders erfuhr, würde ich Bodo nur ab und zu an diesem Ort wiedersehen. Er verbrachte seine Zeit auf Reisen, tingelte von Cannes nach Monaco, frönte dem Müßiggang in der elterlichen Villa in Saint Tropez, jettete zum Frühstück nach Ibiza oder besuchte Freunde auf ihren Motoryachten in Port Andratx.

Kurt Kaiser, alias Rontrop von Welfenbein, hingegen war seit über vierzig Jahren mit diesem Städtchen verbunden und behauptete von sich selbst, ein lokales Unikum mit `Inventarcharakter´ zu sein. Ihn würde ich fast ausnahmslos in den einschlägigen Cafés und Bistros sowie den anliegenden Hotelbars treffen, sollte ich es denn wünschen.

Vorsorglich tauschten wir unsere Telefonnummern aus und versprachen, ein wenig trug der Alkohol dazu bei, uns recht bald wieder zu sehen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, wie sehr sich dieses Vorhaben tatsächlich verwirklichen sollte.

Der Funke eines Augenblicks

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