Читать книгу Der Funke eines Augenblicks - Stefan G. Rohr - Страница 4

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Die Bäckerallee war gar keine Allee. Es fehlten dazu die Bäume, die links und rechts in einer solchen Straße zu stehen haben. Mir erschien diese kleine Straße auch viel eher als Gasse, wenngleich sich mir nicht der Eindruck aufdrängte, dass die Gegend hier etwa ärmlich erschien. Denn Gassen beherbergen gewöhnlich keine Patrizier. Und die Bäckerallee war, so die Dame, die ich gleich treffen sollte, eine ausgezeichnete Adresse mit erlesenen Anwohnern. Ein Schauspieler des städtischen Theaters, zum Beispiel. Mehrere Rundfunk- und Fernsehgrößen der naheliegenden Sendeanstalt. Auch ein Stadtabgeordneter gab sich hier die Ehre. Und, sie sagte es voller Stolz in der Stimme: sogar eine Millionärin. Obwohl eine derartige Tatsache für dieses Städtchen nur wirklich keine Besonderheit bedeutete.

Mir war das alles ziemlich egal. Nach vielen Wochen als Gast in einem der billigen Hotels dieses ansonsten so mondänen Ortes sehnte ich mich nur nach einer Bleibe, die mir wenigstens ein klein wenig das Gefühl geben sollte, eine Art Zuhause, ein Deut an Privatsphäre zu besitzen. Und was lag da in meiner Situation näher, als ein kleines möbliertes Appartement, welches exakt auf solche Menschen wie mich zugeschnitten zu sein schien. Es sollte nach der Anzeige auch alles vorhanden sein, was zum Übergangs- oder Zwischenleben in einer neuen Stadt notwendig war. Zudem würden Wäsche und ein wöchentlicher Hausputz im Preis inbegriffen sein, TV, Geschirrspüler, Waschmaschine und Bügelgerätschaften ebenso. Und was die Dame am Telefon mir vorgeschwärmt hatte, sollte mich zufrieden stellen, selbst wenn sie ein wenig übertrieben haben würde.

Der Bäckerallee fehlte es aber nicht nur an Bäumen. Auch an horizontaler Ausgewogenheit. Von Anfang bis Ende erwies sie sich als Straße mit Extremgefälle sowie Zuwegung hinauf zu einem noch steileren Hang, der zu den sich angrenzenden Wäldern führte, zu einer der vielen Bergkuppen, die das Städtchen umschlossen. Die Steigung war enorm, und mir kam sofort der Gedanke in den Sinn, dass es den Anwohnern sicher ein besonderes Anliegen sein würde, die Handbremsen ihrer Autos regelmäßig auf Funktion prüfen zu lassen.

Mein Grund in dieser Stadt zu verweilen war kein angenehmer. So konnte ich die Freude, die so viele Neubürger und Gäste des noblen Kurortes empfanden, selbst leider nicht teilen. Meine Freude darüber, für eine unbestimmte Zeit hierhin verschlagen worden zu sein, hielt sich in Grenzen, denn mein alter Vater lag sterbenskrank seit einigen Wochen in einer der hiesigen Spezialkliniken. Ich wollte ihn seine letzte Zeit nicht allein verbringen lassen, und so reiste ich ihm hierher nach. Meine Zeitung hatte mir unbezahlte Dispens gegeben, zudem das Versprechen, dass ich hin und wieder etwas schreiben könnte, damit ich nicht ganz verarme. Somit befand ich mich inmitten eines echten Abenteuers, denn die Reichweite meiner Ersparnisse war überschaubar, und das mich nun beherbergende Städtchen zu allem Übel auch noch für seine hohen Preise und sein mondänes Publikum weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

Ich suchte nach der Hausnummer, doch ich wurde schnell erlöst. Mein Blick fiel auf eine Dame, die bereits mit den Armen wedelte und ganz offensichtlich wusste, dass ich ihr neuer Gast war, der da den Berg heraufschlich. Mit großer Geste wies sie mir, einem Flugzeugeinweiser gleich, einen Parkplatz zu, der sich direkt neben einem kleinen und auf Anhieb sympathisch wirkenden alten Haus befand. Mir fiel sofort auf, dass sie einen Pelzmantel trug, obwohl der April bereits mit warmer Sonne auftrumpfte und es eher angeraten war, die leichten Blusen vom Bügel zu nehmen. Als ich ausstieg hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als überlegte sie, ob sie sich zu einer freundschaftlichen Umarmung hinreißen lassen sollte, und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre dem nachgekommen.

Vor mir stand eine kleine, zunächst äußerst elegant wirkende Dame, deren dunkle Glutaugen unter einem schwarzen Pony herausstachen und mich freundlich, doch unverhohlen neugierig musterten. Ihr Nerzmantel war mit großer Wahrscheinlichkeit teurer als mein Auto, ihre goldene Armbanduhr, zusammen mit Ohrringen und Handschmuck, schien mir durchaus den Wert eines Mittelreihenhauses in gehobener Lage auszumachen. Nun wusste ich, dass der Wohnungspreis sicher nicht am unteren Ende des Mietspiegels angesiedelt war, mangels Alternativen bemühte ich mich jedoch, diesen Gedanken nicht weiter auszugestalten. Ihre Lippen waren mit einem knallroten Fett belegt, und mich umhüllte eine Wolke satten, süßlichen Parfums, das zweifelsfrei einen sündhaften Preis hatte. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig ein, und konnte mich kaum erwehren, ein wenig in ihren Bann gezogen zu werden. Zwar war sie nicht der Typ Frau, auf den ich reflektierte, doch schien sie mir spontan so außergewöhnlich, ja ein wenig exotisch, dass ich innerlich hoffte, nicht zu erröten.

„Normalerweise vermieten wir ausschließlich an das Fernsehen.“ betonte sie, die sich mir als Frau Metzger vorgestellt hatte. „Vor allem kommen die Regisseure gerne zu uns. Wegen des Gartens und der Ruhe. Und weil alles so nah liegt, man alles zu Fuß erreicht.“ Und sie lächelte keck, während sie mich erneut von Kopf bis Fuß musterte. „Aber sagten Sie nicht, Sie sind Journalist?“ Meine Antwort wartete sie jedoch gar nicht ab. „Das ist ja dem Fernsehen sehr ähnlich.“

„Ein wenig.“ antwortete ich. „Nur eben ohne Werbepausen.“

Frau Metzgern musste scheinbar überlegen. Sie entschied sich für die Fortsetzung ihres Lächelns und nickte verständig, wirkte dabei aber fast abwesend.

„Vor einiger Zeit hat schon einmal ein Zeitungsredakteur bei uns gewohnt.“ Sie nahm bei diesem Hinweis schier glückliche Züge an. „Auch ein sehr netter Mann. Und so zurückhaltend.“ Sie stierte nun wieder in meine Augen. „Er war Polizeireporter und beriet bei einer Krimi-Produktion des Senders als Experte vom Fach.“

„Na, dass passt doch!“ lächelte ich erleichtert.

Wir hatten das Haus betreten und Frau Metzger schloss die Türe zu dem Appartement in das Parterre auf. Das ganze Häuschen bestand zwar aus drei Etagen, da es aber ein sehr schmales Gebäude darstellte, befand sich jeweils nur eine Wohnung auf jeder Ebene. Gebaut musste es um 1920 worden sein. Die Eingangstüre hatte bunte Glasscheiben, knarrte und war mit einem großen blankgeputzten Messingknopf ausgestattet, ein amerikanisches Model zum Drehen, was jemanden, der nicht daran gewöhnt war, schon mal verwirren konnte.

Das Appartement umfasste vielleicht fünfzig Quadratmeter. Neben einer großen Küche und einem Mini-Bad, das die Ausmaße von zwei Telefonzellen aufwies, besaß es ein Wohn- sowie ein Schlafzimmer. Alles war ordentlich und hübsch eingerichtet und machte einen recht gepflegten Eindruck. Das schönste allerdings war der Ausgang in den hinten liegenden großen Garten. Man gelangte direkt aus der Küche auf einen kleinen, im Hochparterre gelegenen Balkon, von dem eine Treppe auf das Grundstück führte. Dort standen einige Obstbäume und an der Seite, zwischen einem hölzernen Schuppen und einer riesengroßen Tanne, war eine offene Laube platziert, deren Sprossenwände von Wein umrankt waren. Lauschig stand dort ein alter Gartentisch mit vier gusseisernen Klappstühlen.

Mir gefiel dieser Ort sofort. Das Appartement hatte die richtige Größe, alles war vorhanden. Und dieser leicht verwilderte Garten, mit seiner ganzen Ruhe und Besonnenheit, die dieses Fleckchen spontan auf mich ausstrahlte, hatte einen ganz eigenen Zauber.

„Gefällt es Ihnen nicht?“ fragte mich Frau Metzger urplötzlich.

Ich wusste nicht, was mich so zweifelnd erscheinen ließ, doch scheinbar interpretierte sie meine stille Bewunderung dieses Örtchens als Ablehnung.

„Oh, ganz im Gegenteil.“ bekundete ich sofort. „Ich hatte es mir nur nicht so schön vorgestellt.“

Sie schaute mich mit leicht listig zusammengekniffenen Augen an. Einen Blick, den ich bei ihr noch einige Male zu sehen bekommen sollte. „Wann möchten Sie denn gerne einziehen?“

„Heute?“ krachte es aus mir heraus.

Sie lächelte bereits wieder. „Sehr gut.“ erwiderte sie knapp und in einem perfekten Tonfall geschäftsmäßiger Abmachung. „Ich habe auf dem Küchentresen einen vorbereiteten Mietvertrag liegen. Wenn Sie wollen …?“

Während wir wieder hineingingen, erklärte mir meine zukünftige Vermieterin die wichtigsten Punkte aus dem Vertrag. Ich könnte jederzeit kündigen, es würde tagesgenau abgerechnet. Strom, einmal wöchentlicher Hausputz, vierzehntägig frische Bettwäsche, Wasser und Heizung wären im Mietpreis enthalten. Die Putzfrau käme jeweils Mittwochvormittag. Waschmaschinen und Trockner befänden sich im Keller und würden über einen Münzspender bezahlt. Alle Gebühren für TV und Kabel sowie die Kurtaxe wären ebenfalls inklusive. Allerdings war ein Anmeldeformular von mir auszufüllen, was vom Fremdenverkehrsamt gefordert war.

Ich hatte alles verstanden und unterzeichnete den Vertrag. Noch heute wollte ich mein Hotelzimmer räumen, was nicht allzu große Mühe bereiten würde, denn ich hatte außer zwei größeren Koffern keine weitere Habe dabei.

Frau Metzger bat mich kurz zu warten und verschwand darauf für einen Moment im Keller. Als sie wieder erschien, hielt sie eine eisgekühlte Flasche Champagner in der Hand, überreichte sie mir und machte Zeichen, dass ich diese gleich öffnen sollte. Sie griff in einen Küchenschrank und im Nu hielt sie mir mit ausgestreckten Armen zwei Gläser entgegen.

„Vor fünf Uhr schon Alkohol?“ fragte ich süffisant.

„Irgendwo auf der Welt ist es immer Fünf!“ war ihre trockene Antwort.

Und so kam ich nicht umhin, das kostbare Nass zu entkorken und die Gläser zu füllen.

„Ich heiße Louisa.“ Und sie nickte mir freundlich zu. „Jetzt, wo wir doch Vermieter und Mieter sind …“

„Für Dich gerne Ludwig.“ erwiderte ich höflich, allerdings doch ein wenig über das von ihr hingelegte Tempo erstaunt.

„Das ist so üblich bei uns Metzgers.“ Sie schien meine leichte Irritation bemerkt zu haben. „Und schließlich trinkst Du gerade mit einer waschechten Prinzessin.“ Sie schaute mir geradewegs ins Gesicht. Offensichtlich wollte Sie schauen, wie diese Information bei mir ankommen würde.

„Na so was!“ Ich war tatsächlich ein wenig verblüfft. „Eine Adlige also?“

„Gewiss doch.“ Ihr Mund verzog sich ein wenig. „Mein Vater war ein echter Hawaiianischer König.“ Sie genoss den Augenblick ausgiebig und sicher nicht das erste Mal.

Ich überlegte sofort, wie sie dann wohl heißen würde, bevor sie Herrn Metzger geheiratet hatte. Vielleicht `Prinzessin von Hula-Hula´? Doch ich verkniff es mir, den Gedanken laut auszusprechen. Aber mir erschloss sich nun ihr zuvor bereits bemerktes exotisches Aussehen. Hawaii, das passte durchaus.

„Wie kommt eine Hawaiianische Prinzessin in diese Stadt?“ wollte ich wissen.

„Oh, das war ein weiter Weg.“ erklärte sie bereitwillig. „Von Hawaii bin ich nach Boston zum Studieren gegangen. Dort lernte ich meinen ersten Mann kennen. Er war Offizier bei der Army und wurde ein paar Jahre nach unserer Hochzeit hierher in diese Stadt versetzt. Und ich bin dann hiergeblieben.“

„Du sprichst aber völlig akzentfrei.“ bemerkte ich.

Und Louisa lachte nun herzlich und laut. „Ja, so ist es. Schließlich hatte ich eine deutsche Mutter. Das hat es mir sehr leicht gemacht hier zu bleiben.“

Wir waren inzwischen aus der Küche wieder auf die kleine Terrasse hinausgegangen. Die warme Aprilsonne stand freudig am Himmel und das frische Grün auf den Bäumen mischte sich mit den ersten weißen Blüten der Obstbäume um uns herum. Louisa Metzger befand, dass wir uns nun durchaus in die Weinlaube setzen sollten, zauberte zwei Sitzkissen hervor, und schon nahmen wir an dem Gartentischchen Platz.

Und ich erschrak auf einmal. Denn direkt neben uns, am Zaun zum Nachbargrundstück, stand regungslos ein alter Mann und schaute mich mit leerem Blick an. Ich nickte ihm höflich zu und grüßte, wie es sich unter neuen Nachbarn gehört. Doch er antwortete nicht, schaute mich nur weiter an.

„Das ist Herr Fiedler …“ erklärte mir meine Vermieterin und neue Duzfreundin flüsternd. „Er wohnt in der Villa nebenan.“ Sie räusperte sich kurz, dann fuhr sie fort. „Wie soll ich sagen? Er ist verwirrt. Also eigentlich nicht mehr ganz bei Sinnen. Und er kann einem schon wirklich einen Schrecken einjagen, wenn er plötzlich, wie aus dem Nichts, am Zaun steht und gafft. Aber wie mir seine Tochter erklärt hat, bekommt er gar nichts mehr mit. Demenz im Endstadium. Völlig gagga, sozusagen.“ Louisa streckte ihm jetzt geradewegs die Zunge aus. „Siehst Du, keine Reaktion. Das dauert sicher nicht mehr lange mit ihm.“

Gerne hätte ich ihr ein paar passende Worte erwidert, Doch während ich noch nach einer verträglichen Formulierung suchte, wurden die Augen des Alten ein wenig klarer und er sprach mich direkt an.

„Die schönen Wolken! All diese schönen Wolken am Himmel …“ sagte er sehr leise und langsam. Und er schaute kurz in den Himmel hinauf. „Sie werden uns sicher kennen, diese Wolken. Sie waren doch schon einmal da. Über uns. Ganz gewiss.“

Louisa hielt die Hand vor den Mund, rollte leicht mit den Augen und kicherte amüsiert vor sich hin. Ich stand auf und ging ein wenig näher an den Zaun heran. Ich bewegte mich behutsam, denn ich wollte den alten Mann nicht erschrecken. „Ja, es sind schöne Wolken. Und die Götter haben uns etwas sehr Wunderbares geschenkt, als sie diese erfunden haben.“

„Sie fliegen immer um den Erdball. Immer an den gleichen Stellen. Und so waren sie bestimmt schon häufig über uns. Immer die gleichen Wolken.“ Er blickte mich nun wieder direkt an. „Wissen Sie, warum sie es nicht sein lassen können?“

„Vielleicht würden sie es ja gerne sein lassen. Nur sie können nicht. Es ist ihre Aufgabe hoch am Himmel über uns hinweg zu reisen.“

„Aber wozu?“ fragte der Alte nun fast völlig klar. „Wozu soll das gut sein?“

„Oh, da gibt es viele Gründe.“ antwortete ich und ging noch einen weiteren Schritt näher an den Zaun. „Sie können uns von all den exotischen Orten erzählen, über denen sie schon gewesen sind. Mit ihren Formen malen sie den Menschen Bilder in den Himmel, und sie sprechen so mit uns. Man muss sich nur hinstellen und ihre Sprache erlernen.“

„Manchmal glaube ich, dass es gar nicht dieselben Wolken sind. Sie sehen so verschieden aus.“ Auch der alte Mann war etwas näher an den Zaun getreten. „Glauben Sie, dass es immer die gleichen sind?“

„Ja, es sind ganz gewiss immer die gleichen.“ bestätigte ich dem Alten. „Sie verschwinden nie ganz. Sie verändern sich höchstens, um uns Menschen etwas klar zu machen, etwas Bestimmtes vor Augen zu führen. Sie wechseln dabei nur ihre Kleider, manchmal zudem die Farben. Sie vereinigen sich zu gewaltigen Gewitterfronten. Dann gefällt es ihnen nicht, was sie zuvor sehen mussten. Aber viel öfter werden sie zu luftigen Wolkenbändern, durch die wilde Gänse schweben, und der Wind darf mit ihnen spielen, dann tanzen sie wie Kinder einen Reigen.“

„Ich würde gerne mit ihnen fliegen. Hoch über den Feldern, dem Meer, den Gebirgen. Immer fort und mit dem Wind. Wie ein Fesselballon, lautlos und von niemandem zu fangen.“ Er lächelte bei seinen Worten und es schien, dass er für einen Augenblick voller Glück war.

„Das werden Sie.“ sagte ich leise. „Wir alle fliegen irgendwann mit den Wolken davon.“

„Kommen sie uns dann holen?“

„Ja, es ist auch eine ihrer Aufgaben.“ Nun schaute auch in zum Himmel hinauf. „Wenn wir schlafen kommen sie am liebsten. Sie lassen sich herabfallen, umarmen uns mit ihren weichen Kissen aus Himmelswatte, lassen uns federleicht werden und dann, wie in einem wunderschönen Daunenbett, nehmen sie uns auf ihre Reisen mit. Und alles, was uns zuvor gesorgt hat, haben sie von uns genommen. Wir spüren dann keine Schmerzen und keine Sehnsüchte mehr. Keine Trauer, keine Ängste. Wir sind selbst zu einer Wolke geworden und umkreisen die Erde für alle Zeit und auf Ewigkeit.“

„Und das Vergessen?“ über sein Gesicht flog ein wehmütiger Zug. „Wird es vorbei damit sein? Werde ich mich dann wieder an alles erinnern. So wie früher?“

„Aber natürlich.“ Ich lächelte ihn an. „Das ist eines der großen Geheimnisse der Wolken. In jeder steckt ein ganzes Leben. Und es ist ihnen möglich, die schönsten Momente immer und immer wieder zu erleben. Nichts ist mehr wie auf Erden. Und alles, was einen heute noch quält, wird von uns genommen sein.“

Da stand er, der alte Mann. Ich schätzte ihn auf Mitte Achtzig. Er trug einen gepflegten grauen Schnauzbart, der gut zu seinen buschigen Brauen passte. Sein Kopf war fast kahl und sein Schädel übersäht mit Altersflecken. Doch seinen Augen, die noch vor wenigen Minuten trübe und leer hereinblickten, funkelten fröhlich. Ein kleines Strahlen geriet ihm ins Gesicht und nun schaute er nochmals zum Himmel hinauf, nickte mit dem Kopf und er murmelte etwas, was ich aber nicht mehr verstehen konnte.

Am Zaun erschien eine Frau. Sie stand ganz plötzlich neben dem Alten und ihr Gesichtsausdruck zeugte von Sorge.

„Da bist Du ja, Papa.“ sagte sie erleichtert. „Und ich hatte schon befürchtet, dass Du wieder einmal ausgebüxt bist.“ Dann schaute sie Louisa und mich an. „Ich hoffe, Ihnen ist mein Vater nicht auf die Nerven gegangen. Aber es ist manchmal schwierig, denn er ist unberechenbar.“

„Oh nein, ganz und gar nicht!“ bekundete ich aufrichtig. „Wir haben uns bestens unterhalten.“ Ich schaute auf den alten Herrn. Der war jedoch schon wieder ganz in sich gesunken und sein Blick war nun ebenso leer, wie bei unserem Zusammentreffen.

„Sie sind sehr höflich, vielen Dank!“ entgegnete die Tochter. „Manchmal scheint es so, als habe er ein paar helle Minuten. Das ist dann aber schnell wieder vorbei. Er erinnert sich auch nicht daran. Es ist einfach so, als wische ein großer Schwamm alles wieder hinfort. Und es ist solange niederschmetternd, bis man zu hoffen aufgehört hat, man eben weiß, dass da nichts mehr bleibt. Nie. Egal, was man zu sehen glaubt.“

„Aber in diesen wenigen Momenten ist er glücklich. Und darauf kommt es doch an, oder? Und gerade, kurz bevor Sie kamen, da konnte ich Ihren Vater lächeln sehen. Er schien Freude zu empfinden, sprach durchaus klar und wir hatten eine sehr schöne Unterredung.“

Sie lächelte mich milde an, sagte nun aber nichts mehr dazu.

„Darf ich mich vorstellen?“ versuchte ich die Situation zu retten. „Mein Name ist Ludwig Maler. Seit wenigen Minuten, und für unbestimmte Zeit, Mieter des Parterre-Appartements in der Nummer 17, und somit vorrübergehend Ihr neuer Nachbar.“ Ich blickte kurz zu meiner Vermieterin. „Und Frau Metzger werden Sie ja sicher schon kennen.“

„Herzlich willkommen in der schönen Bäckerallee.“ erwiderte mein Gegenüber am Zaun. „Ich heiße Laura Fiedler. Und natürlich: Frau Metzger kenne ich bereits.“ Doch bei ihrem letzten Satz schien es mir mehr als deutlich, dass die beiden Damen nicht sonderlich viel voneinander hielten. Dann nahm sie ihren Vater an den Arm. „Papa, es wird Zeit. Komm lasse uns zurück ins Haus gehen.“ Sie nickte kurz zu Louisa und mir herüber, dann waren Vater und Tochter auch schon verschwunden.

„Arrogante Schnepfe!“ hörte ich Louisa murmeln. Sie hatte während der letzten Minuten schweigend auf ihrem Gartenstuhl gesessen und dabei die halbe Champagnerflasche geleert.

„Sie mögen sich wohl nicht besonders?“ bemerkte ich ein wenig belustigt.

„Pahh!“ krächzte Louisa laut. „Nach alledem, was war? Der feinen Dame passt es eben nicht, dass ich hier an seriöse Geschäftsleute vermiete. Fühlt sich in ihrer Villenlage wohl durch Leute wie Dich gestört. Und was die blöde Kuh alles versucht hat. Die Behörden hat sie mir auf den Hals gehetzt. Das Bauamt, den Zoll, der nach Schwarzarbeitern bei uns fahndete. Selbst die Parkplätze neben dem Haus wollte sie verhindern. Die Nachbarn hat sie gegen uns aufgehetzt, Briefe verfasst, mit Unterschriften von allen Hiesigen, wir sollten hier besser wieder verschwinden. Hat bis heute nichts Besseres zu tun, als mich anzugiften. Lebt vom Geld ihres Vaters, von dubiosen Einnahmen, und den Alten würde sie ganz gewiss lieber heute als morgen unter der Erde sehen. Aber ehrbaren Bürgern wie meinem Mann und mir die übelsten Machenschaften zu unterstellen. Nein! Ganz ehrlich: Diese Dame ist wirklich nicht nach meinem Geschmack.“

Ich beschloss, jetzt besser keine weiteren Details zu erfragen. Zudem waren die beiden Kontrahentinnen so offensichtlich unterschiedlich, wie es maximal nur sein konnte. Die Tochter, eine großgewachsene blonde Frau von vielleicht Mitte Vierzig, ganz gewiss sehr attraktiv, doch insgesamt eher dezent anmutend, mit einer fast englisch wirkenden Zurückhaltung, einer klaren Ausstrahlung und einer Stilart, die vor allem auch eine gute Bildung vermuten ließ. Louisa Metzger hingegen stach, ich musst es mir einfach so deutlich eingestehen, in einer Offensichtlichkeit von dieser Laura Fiedler ab, die größer kaum sein konnte. Sie wirkte zwar weder ungebildet noch dumm. Doch im Vergleich mit der Nachbarin unterschied sie sich ungefähr so, wie eine überladen bunte Buttercremetorte von einem eleganten Zitronen Parfait. Louisa war gewiss auch eine hübsche Frau. Vielleicht nur ein wenig zu klein geraten, und deswegen etwas gedrungen wirkend. Doch ihr unübersehbares exotisches Flair, glühende schwarze Augen, ein Teint, der nur allzu gut zur Südsee passte, machten sie für die meisten Betrachter durchaus begehrenswert.

Mir persönlich missfiel allerdings ihre deutliche Überladenheit. Vom Pelz und dem protzigen Schmuck, über ihren Schminkstil, bis hin zu einer fast theatral wirkenden Gestik, kam sie mir als typische Vertreterin der Kaste Neureich vor, denn diese zeichnet sich nicht selten dadurch aus, ihre Freude über das eigene Vermögen durch besonders ausgeprägte Zurschaustellung dessen zutage zu fördern. Alles an ihr war irgendwie `zu viel´. Gar nicht einmal auf den ersten Blick, bei dem sie jeder sofort, treffsicher und wohl auch richtiger Weise in die Kategorie `wohlhabend´ einsortieren würde. Dann doch aber bei näherer Inaugenscheinnahme. Vernahm das sensible Ohr eines semantischen Feingeistes dazu noch ihre etwas derb anmutende Sprache, gepaart mit der ihr eigenen mangelhaften Contenance, blieb von ihr nicht allzu viel mehr übrig.

Da ich nicht vorhatte, mich weder mit der einen, noch der anderen zu ehelichen, beschloss ich meine Bewertungen zu beenden und mich darauf zu freuen, endlich aus dem Hotel ausziehen zu können. Und da ich davon ausgehen konnte, dass meine Begegnungen mit Louisa dann doch wohl eher selten, wenn dann aber in jedem Falle rein geschäftlich sein würden, wollte ich mir auch keine weiteren Gedanken um Buttercremetorten oder Parfaits machen. Das kleine Appartement war hübsch, passte bestens zu meinen Bedürfnissen und lag optimal nahe dem Zentrum der Bäderstadt. Der Kurpark war fußläufig gerade einmal zehn Minuten entfernt, direkt daneben lag die Fußgängerzone mit all ihren Geschäften und Cafés, den Kolonaden und einigen reizvollen Restaurants und Bars. Langweilig sollte es hier nicht werden, was diesem Örtchen im Übrigen auch als Ruf vorauseilte. Zudem reihten sich diverse Hotels aneinander, und hätte ich deren Sterne zusammengezählt, wäre die Zahl nicht wesentlich geringer als die Anzahl von Himmelskörpern in unserer Milchstraße ausgefallen. Und zudem war auch das Hospital, in dem mein Vater lag, nur einen Katzensprung entfernt, was meiner Betreuungsaufgabe sehr entgegen kam.

Alles in Allem also eine recht reizvolle Mischung, die mich ein klein wenig in erwartungsvolle Spannung zu versetzen mochte. Ich war nie ein ausgeprägter Abenteurer gewesen, suchte bisher mitnichten das Prickelnde oder gar das Exzessive. Doch immer, wenn mich meine beruflichen Aufgaben an neue Orte verfrachteten, verspürte ich eine innere Aufregung und Neugier, ja vielleicht ein Quäntchen leicht überreizter Entdeckungslust. Ich hatte gelernt, dass in jeder neuen Situation unerwartete Begegnungen warten können. Das Schicksal, das stets so unvorhersehbar agiert, hielte mit jedem Mal aufs Neue eine Überraschung parat. Und so überkam mich dann ein klein wenig ein Kribbeln im Bauch, welches dem ähnelte, das einem als Kind in der Magengrube kreiste, wenn es auf Weihnachten zuging.

Prinzessin von Hula-Hula hatte nun auch den Rest des Champagners konsumiert. Mir war es recht, denn ich wollte schnellstmöglich nicht nur meine Koffer aus dem Hotel holen, sondern auch noch meinem Vater den täglichen Besuch abstatten.

„Komme doch mal zu uns, zum Grillen.“ Sie stand auf und schickte sich an zu gehen. „Vielleicht am Sonntag? Das Wetter soll gut bleiben.“

Da blieb mir wohl kaum eine Chance zur Ablehnung. Warum aber auch nicht. Schließlich war ich allein in dieser Stadt und ein wenig Zerstreuung würde mir sicher guttun, ganz besonders nach meinen Krankenbesuchen. So verabschiedeten wir uns mit dieser Verabredung, ich erhielt die Wohnungsschlüssel, dann rauschte sie mit ihrem schwarzen Sportwagen die Bäckergasse hinab und ich war allein.

Der Funke eines Augenblicks

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