Читать книгу Der Funke eines Augenblicks - Stefan G. Rohr - Страница 5

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Als ich das Zimmer meines Vaters betrat, war er dieses Mal wach. Er saß, mit dem Rücken zur Türe, und schien aus dem Fenster zu schauen. Seine Arme hingen schlaff herab und nichts regte sich bei ihm, als ich den Raum betrat und ihn freundlich ansprach.

Schnell stellte ich fest, dass er zwar wach, dennoch aber abwesend war. Nur kurz begegnete er meinem Blick, nickte kaum merklich, und schon verfiel er in die Pose zuvor, flach atmend, mit rundem Rücken und eingefallener Brust. Er trug seine Pyjamajacke, die ihm ordentlich zugeknöpft worden war, doch darunter erspähte ich nur eine seiner Feinripp-Unterhosen, während seine Schlafanzughose quer, einem lästigen Utensil gleich, unordentlich über die Lehne des beistehenden Stuhls gelegt war.

„Wie geht es Dir, Papa?“ fragte ich, und ich bemühte mich, die Sorge, die in meinem Unterton mitschwang, nicht allzu offen kundzutun.

Er zuckte kaum merklich mit den Achseln. „Ich habe von Deiner Mutter geträumt.“ begann er leise. „Von damals, als wir uns kennen gelernt haben, weißt Du? Und wie schön sie war. Dass mir der Atem stockte und ich kein Wort herausbrachte, als sie mich nach der Uhrzeit fragte. Ich hatte mich sofort in sie verliebt. Wäre für einen Kuss von ihr barfuß durch die Sahara gelaufen.“ Und sein Blick schweifte aus dem Fenster, hinaus in die Ferne, als sähe er sie am Horizont sitzend, ihr langes Haar kämmend und ihm zuwinkend. Er lächelte kurz. Dann senkte er wieder den Kopf.

„Oh ja, Papa. Sie war wirklich eine Schönheit.“ Ich nahm die Hose von der Lehne, legte sie zusammen und setzte mich vor ihm auf den Stuhl neben seinem Bett. „Aber Du musstest Dich ja auch nicht verstecken. Und wie mir Mama oft erzählt hast, schauten Dir fast alle Mädels auf dem Campus hinterher.“ Ich machte eine kurze Pause und sah nun ebenfalls aus dem Fenster in die Ferne. „Ein Traumpaar. Ja, das ward ihr Zwei. Und immer glücklich.“

„Ich konnte sie riechen, im Traum, Ludwig.“ Er schloss die Augen, so als wolle er in sich hineinhorchen. Und er atmete einige Male unruhig durch. „Sie hatte ja immer einen so eigenen Duft. Wie eine Rose nach dem Sonnenaufgang, wenn der Morgentau noch nicht verdunstet ist. Wenn von der Nacht nur noch deren Tränen geblieben sind, glänzend im jungen Licht, als wären sie aus der Dunkelheit herabgefallene Sterne.“ Er schaute mich nun mit einem bitteren Lächeln an. „Du weißt doch, Ludwig, dann entfalten die Rosen ihren schönsten Duft. Ganz kurz, für einen einzigen Moment. Manchmal sind es nur wenige Sekunden. Aber erlebst Du ihn, kannst Du diesen Dein ganzes Leben mit Dir führen. So wunderschön ist er, so unendlich fest in Deiner Erinnerung.“

Ein leichtes Zittern zeigte sich auf seiner Kinnspitze, und er schloss nun wieder die Augen. „Und irgendwann beginnt es in Dir zu brennen. Alles Schöne hat Feuer gefangen, Deine Erinnerungen glühen in Deiner Seele. Und mit den Flammen bäumen sie sich noch einmal auf, werden nochmals klarer, als würden sie sich dagegen wehren, im Nichts der kalten Asche zu vergehen. Sie tanzen in Deinem Kopf, Deinem Herzen, Du erlebst sie wieder und wieder. Und mit jedem Mal wird Dir bewusster, dass Du keinen einzigen dieser Augenblicke mehr zurückholen kannst. Sie sind auf ewig verloren, nur ihre Schatten berühren Dich noch, wollen nicht von Dir lassen. Ja manchmal lachen sie Dich aus, gaukeln Dir im Traum das Glück vor, als würdest Du es noch einmal erleben dürfen. Aber sie sind Dämonen, denn sie versagen Dir die Gnade des Vergessens, quälend, beharrlich, unabänderlich.“

Auf seinem Gesicht vernahm ich ein spöttisches Lächeln. „Mit jedem neuen Tag entfernst Du Dich noch einen Schritt weiter von Deinem Gestern. Und die Flammen lodern nochmals höher, brennen immer heißer. Und wenn Du dann die Augen schließt, wird es Dir vor Deinem letzten Atemzug das Herz zerreißen, denn alle Deine Erinnerungen werden sich Dir ein letztes Mal zeigen. Wie die Tänzer eines monströsen Balletts beim Finale. Und Du wirst mit dem Gedanken scheiden, dass nichts von ihnen bleibt, sie niemals existiert haben, nur Träume eines verschwundenen Schattens waren.“

„Aber Deine Erinnerungen werden nicht verschwunden sein!“ Meine Stimme war ein wenig laut geworden. „Sie bleiben existent, weil sie geschehen sind. Und so viele davon sind auch in meinem Gedächtnis, in meinem Bewusstsein verankert. Es sind zudem Deine Erzählungen, die Bilder in den Alben, so viele Dinge, die jeweils ihre eigene Erinnerung in sich tragen. Geschichten, Erlebnisse, aus unserem Leben. Ein so wunderbarer Schatz, ohne den wir niemals nach Hinten blicken könnten, uns an dem erfreuen dürften, was in unseren Herzen ruht, auch wenn die Zeit vorangeschritten ist. Die Uhr kann niemand zurückdrehen, aber wir können in unseren inneren Tagebüchern stöbern, in Poesiealben blättern, in unseren Autobiographien ein ums andere Kapitel nochmals lesen. Nichts von dem ist fort, wenn wir unsere Erinnerungen nicht verfluchen.“

„Und das Brennen?“ fragte mein Vater voller Bitterkeit. „Wie kann es aufhören?“

„Es brennt nur das Salz Deiner Tränen.“ antwortete ich ihm. „Begrüße jede Erinnerung, wie eine alte Freundin. Lache mit ihr und genieße den Augenblick wie ein erneutes Geschenk, nicht wie eine Tortur. Dann wird es keine Tränen geben. Nichts wird dann mehr brennen.“

„Ich würde gern einfach alles vergessen.“ Er blickte nun wieder aus dem Fenster in die Ferne. „Es wäre leichter, glaube mir. Noch im Traum war Deine Mutter bei mir. Ihr Rosenduft. Ihre Berührung. Sie war so nah und warm. Und Du öffnest die Augen, und Dir wird wieder klar, dass alles vorbei ist. Das ist kein Geschenk, Ludwig.“ Ich konnte sehen, dass ihn das Gespräch sehr zu ermüden begonnen hatte. Seine Stimme war nun wieder gebrochen, seine Augen begannen trüber zu werden. „Ein Geschenk wäre es, die letzten Zentimeter des Lebensmaßes frei von Erinnerungen gehen zu dürfen. Jeder Duft wäre neu, jedes Bild jungfräulich und hypothekenfrei. Es wäre leichter, Ludwig. Leichter! Ganz bestimmt.“

Bei dem letzten Satz begann er sich bereits mit einem Seufzer nach hinten zu legen. Ich nahm die Decke und legte sie ihm über die Beine. Dann war er auch schon eingeschlafen. So stand ich noch einen Moment am Fußende seines Bettes und schaute auf meinen alten Vater. Er lag ruhig auf dem Rücken, nur seine Hände hatten wieder leicht zu zittern begonnen. Als ich sein Krankenzimmer verließ, traf ich auf dem Flur einen der behandelnden Ärzte, der mich freundlich anlächelte und neben mir stehen blieb.

„Hatten Sie mit ihm ein paar Minuten bei klarem Bewusstsein?“ fragte er mich offen.

„Ich denke ja.“ antwortete ich ihm, zögerte dabei jedoch ein wenig, denn ich war mir nicht wirklich sicher, ob mein Vater während des so kurzen Gespräches wirklich klarer Gedanken war. „Ich hatte aber auch den Eindruck, dass er sehr depressiv war.“

Der Arzt nickte. „Nicht ungewöhnlich, für diese Phase. Er spürt in den diesen Momenten das herannahende Ende. Und er klammert sich an das Leben. Und obwohl er leidet, wir ihm nicht alles ersparen können, so will er doch auch nicht loslassen. Wir kennen das schon.“

„Ich fühle mich vollkommen hilflos dabei.“ hörte ich mich sagen.

„Sie sind da.“ lächelte mich der Arzt an. „Das ist sehr viel mehr, als Sie sich vorstellen können. Auch wenn er es nicht zeigen kann, doch eine bessere Hilfe gibt es nicht.“ Er schaute mir kurz und mit festem Blick in die Augen, dann drückte er mir die Hand. Während er sich schon umdrehte und weitergehen wollte sagte er mir: „Bleiben Sie stark, Herr Maler. Er wird sich nicht mehr lange zu quälen haben. Schenken Sie ihm so viel Zeit, wie Sie es ermöglichen können.“ Dann ging er, und sein offener Kittel wehte, während er mit schnellen Schritten dem Ende des Flures zu stampfte.

Ich verließ die Klinik und ging in Richtung meines Appartements in der Bäckerallee. Es war erst später Vormittag und ich hatte vor, mich ein wenig in den sonnigen Garten zu setzen und vielleicht etwas zu schreiben. Es war fast windstill und die Luft hatte sich unter der Frühlingssonne in für mich ungewohnter Weise aufgeheizt. Mein Weg führte mich durch eine wohltuend schattige Allee von Lindenbäumen, deren flockige Samen wie kleine Wölkchen die Luft erfüllten.

Die steile Bäckerallee war bei diesen Temperaturen eine kleine Herausforderung. Vor allem war ich es nicht gewöhnt, derlei Hänge zu Fuß zu bewältigen und so hatte ich schon nach wenigen Metern einen leichten Schweißfilm auf der Stirn. Als ich an meinem Haus angekommen war, schnaufte ich hörbar und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich mich besser wieder einmal mit sportlicher Betätigung befassen sollte.

Vor meiner Wohnungstüre stand eine Flasche Champagner. An dieser klebte ein kleiner Zettel. Ich las die handgeschriebene Nachricht: „Sonntag, 15 Uhr, Grillen bei den Metzgers, Kilianstraße 1“. Ich schloss die Türe auf und stellte die Flasche in den Kühlschrank. Den Zettel klemmte ich mit einem der vorhandenen Magneten, der ein Dollarzeichen darstellte, auf die Gerätetür und schaute noch einmal auf die Nachricht. Ich war mir nicht ganz klar, ob ich mich über diese Einladung freuen sollte. Nach kurzem Überlegen aber entschloss ich mich, es einfach positiv zu sehen. Schließlich war ich hier allein und ein wenig Abwechslung und kurzweiliger Zeitvertreib würden mir sicher nicht schaden.

Mit einem Kaffee und meinem Computer ausgestattet, ging ich hinaus in den Garten und setzte mich in die schattige Weinlaube. Es war das erste Mal, dass ich hier alleine und in aller Stille saß. Und dieses Plätzchen hatte etwas Magisches. Fast hätte man glauben können, der Garten sei mit feinem Gespür und sensiblem Blick in einen Zustand gebracht worden, der bewusst das Maß einer gerade noch zulässigen Verwilderung beschreiben sollte, kunstvoll einer Urbanität überlassen war, bei der allein der geschulte Blick eines Gärtners zu erkennen vermochte, wie sehr sich die Geschicklichkeit der Pflanzenauswahl mit einer nahezu impressionistisch anmutenden Natürlichkeit verbinden sollte. Gräser sprossen zwischen Steinen empor, wogen ihre Ähren im sanften Hauch der warmen Luft, neigten sich herab zu wilden Erdbeeren, deren weiße Blüten sich wie Tupfer von Kalkfarbe an den Wegbegrenzungen aneinanderreihten. Kurz vernahm ich einen zarten Duft von Waldmeister, doch als ich ihn bemerkte, war er auch schon wieder verflogen. Kirschbäumchen, Apfel und Birne daneben, standen in üppiger Blütenpracht und sahen fast so aus, als ob sich später Schnee auf ihnen niedergelegt hatte.

Die Rasenflächen trugen knöchelhohes Gras. Ein sattes Grün, das einem bunt gefleckten Teppich gleich mit lila, roten, blauen und gelben Primeln übersäht war. Große Kirschlorbeerbüsche umgrenzten das Grundstück, und ihre weißen Dolden ragten steil in den Himmel, während ein kleiner Schwarm Bienen auf den Blüten nach Nektar suchten. In den Fugen der gepflasterten Wege hatte sich Moos abgesetzt, trieb hier und dort winzige dünne Halme empor, und gelb blühender Löwenzahl wartete inmitten der Beete auf seine Metamorphose zur Pusteblume, um in Bälde seine Samen vom Wind verteilen zu lassen. Ein großer Busch Pfingstrosen hatte bereits eine Vielzahl von frühen Blüten gebildet, von denen nun schon einige in voller Pracht blühten und ihren intensiven Geruch betörend an meine Nase führten.

Meine Gedanken führten mich zurück in die Klinik, ans Bett meines Vaters. Würde es mir auch einmal so ergehen, dass mir die Erinnerung an diesen Garten, an einen Moment eines glücklichen Einvernehmens und stillem Genusses, Schmerzen bereiten sollte? Können sich schöne Augenblicke, das genossene Erlebte, in eine Qual umkehren? Wäre es demnach eine göttliche Milde, wenn uns die Erinnerungen abhandenkämen, wir uns nicht mit ihnen plagen müssten, sie sich nicht mehr als schmerzhafter Verlust erweisen würden?

Eine Gnade wäre es gewiss für all diejenigen, deren Erinnerungen von Bomben, Granaten und dem Zischen der Geschosse über dem Schützengraben erfüllt sind. Oder von anderen Leiden, von Schmerzen, dem Verlust geliebter Menschen, Vertreibung, Hunger oder Folter. Aber die Momente, in denen die Liebe, das Schöne, Wärme, Edelmut und Glück vorherrschen, diese Augenblicke und Erinnerungen sind es doch, die wie Seelenbalsam sind, uns erhellen und unser Glück wie in einem Lebensweckglas schützend konservieren. Wie konnte es sein, dass sich derlei so gegen uns wendete?

Für einen Moment erschrak ich, denn ein Gesicht tauchte urplötzlich am Zaun auf. Es war das Antlitz von Herrn Fiedler, der mich erstaunt, zugleich aber auch neugierig beäugte.

„Herr Fiedler“, rief ich aus. „Sie haben mir jetzt aber einen kleinen Schrecken eingejagt.“

Er zeigte wenig Reaktion. Nur sein Blick wanderte von mir kurz über den Garten, wobei er missmutig den Kopf schüttelte. „Kennen wir uns, junger Mann?“ Seine Stimme klang herrisch und angriffslustig.

„Nun, wir hatten bereits einmal das Vergnügen.“ antwortete ich brav. „Gestern. An gleicher Stelle.“ Ich stand auf und ging ein wenig näher. „Wir sprachen über das Geheimnis der Wolken.“

„Was für ein Quatsch!“ rief er zornig, und das Schütteln seines Kopfes wurde kräftiger. „Wolken sind Wolken. Gase, Dunst, physikalische, chemische Reaktionen. Nichts an ihnen ist geheimnisvoll. Alles leicht zu erklären.“

„Auch was leicht zu erklären ist kann ein Geheimnis bergen.“ Doch als ich das ausgesprochen hatte, bereute ich sofort ihm widersprochen zu haben. Denn er schien mir nicht in der Verfassung für eine tiefergehende Diskussion.

„Wer sind Sie überhaupt?“ donnerte er mir aber an den Kopf, ohne auf meine Antwort einzugehen.

„Sie haben Recht, ich bin unhöflich.“ versuchte ich zu beschwichtigen. „Mein Name ist Ludwig Maler, und für eine unbestimmte Zeit ihr Nachbar.“ Ich zeigte mit dem Daumen nach Hinten auf das Haus. „Habe gerade das kleine Appartement in dem Parterre bezogen.“

„Noch so ein Fernseh-Fuzzi!“ schnaubte er abfällig. „Hört das denn nie auf …?“

„Ich kann Sie beruhigen, ich bin nicht beim Fernsehen.“ Dabei versuchte ich ein mildes Lächeln aufzulegen. „Wie geht es Ihrer Tochter? Ist sie zuhause?“ Doch es schien mir, als hätte mich der alte Mann gar nicht gehört. Seine Stirn lag in tiefen Falten und er stierte nun mit hohlem Blick auf das Haus, als würde er in einen tiefen, dunklen Tunnel blicken. In mir kam leichte Hilflosigkeit auf, und ich machte noch einen Schritt näher an den Zaun heran.

„Was ist nur mit diesem Haus geschehen?“ fragte er mich unvermittelt. „Es sieht so anders aus?“

„Es wurde wohl kürzlich renoviert.“ erklärte ich vorsichtig. „Drei kleine möblierte Wohnungen, für Leute, die nur für kurze Zeit in der Stadt zu tun haben.“

„Ist Isabella da?“ Er reckte seinen Kopf in die Höhe und schaute über den Garten. „Wo ist Isabella?“

Was sollte ich ihm antworten? Wer war `Isabella´? Fragen aber wollte ich ihn jetzt auch nicht.

Er suchte mit aufgeregten Blicken weiterer das Grundstück ab. „Kommt sie nicht zum Spielen raus?“ fragte er mit vernehmbarer Enttäuschung.

„Isabella wohnt hier nicht mehr.“ versuchte ich zaghaft zu erklären. „Wohl schon lange nicht mehr.“

„Ist sie abgeholt worden?“ Auf seinem Gesicht machte sich ein Anflug von Verzweiflung breit.

„Nein.“ log ich. „Sie ist mit ihren Eltern in eine andere Stadt gezogen. In ein größeres Haus. Mit einem noch viel schöneren Garten.“

„Ist sie dort glücklich?“ Der Alte schien sich etwas zu beruhigen.

„Ja.“ log ich weiter. „Vollkommen. Sie hat es dort wirklich sehr gut.“ Ich schluckte kurz, denn mein Mund wurde mit einem Schlag ganz trocken. „Es ist so viel besser als hier.“

„Aber ist sie auch sicher?“ Beim Alten klang ein Schimmer aufkeimender Hoffnung mit.

Allmählich begann ich zu ahnen worum es ihm ging. „Dort, wo sie ist, sind alle sicher. Es gibt dort nichts wovor sie Angst haben müssten.“

Der Mann am Zaun blickte mit einem schwachen Lächeln wieder über den Garten und zum Haus. Es war ihm, als flögen altbekannte Bilder an ihm vorbei, als hörte er das Lachen spielender Kinder, das Klappern der Hufe von Kutschpferden oder das Sägen des Tischlers in der Werkstatt um die Ecke. Fahrradklingeln läuteten in seinen Ohren, ein paar Turmglocken in der Ferne schlugen die Zeit, und der Postmann schellte an der Tür, denn es gab einen Brief aus Übersee, von der Verwandtschaft aus Amerika. Aus einem geöffneten Fenster ertönte Klavierspiel, leicht holprige Versuche mit Schubert und Chopin. Ein Schornsteinfeger, mit Zylinder, Besen und Leiter, kam die Straße entlang. Eine Schaar von Kindern hatte ihn sofort umzingelt. Sie begannen fröhlich ein Lied zu singen: `Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann …´. Und ein wenig weiter, straßenabwärts, schob der Scherenschleifer gerade seinen Karren den steilen Hang hinauf. Er schwang seine in der Sonne glänzende Handglocke, denn man sollte wissen, dass er nun wieder da sei. Und nicht fern von ihm schlenderte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Uniformkragen hochgeschlossenem, der Schutzmann. Auf seinem Kopf thronte eine schwarze Pickelhaube mit silbernen Beschlägen. Galant grüßte er mit einem kurzen Griff an seine Stirn so manchen ihm entgegenkommenden Bürger. Dann strich er sich gern noch den breiten Schnauzbart, ein wenig majestätisch, als Geste seiner Amtsgewalt.

Ein zweiter Kopf erschien am Zaun. Es war der von Frau Fiedler, der Tochter. Sie nickte mir kurz zur Begrüßung zu. „Verzeihen Sie, Herr Maler.“ sagte sie ein wenig außer Atem. „Er ist heute besonders schwierig. Und wenn ich mich nur kurz einmal umdrehe, ist er auch schon verschwunden.“

Ihr Vater schien wieder völlig abwesend zu sein. In sich gekehrt stand er wie angewurzelt am Zaun und blickte in die Ferne.

„Wer ist Isabella?“ fragte ich neugierig. „Er sprach gerade von ihr.“

Laura Fiedler setzte ein kurzes Lächeln auf. „Oh, Isabella. Ja, ich erinnere mich, aber das ist aber schon sehr lange her. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft meines Vaters. Als sie noch in Berlin lebten, vor dem Krieg.“

„Was ist mit ihr geschehen?“ fragte ich weiter.

„Das, was mit den meisten geschehen ist, die einen gelben Stern auf dem Ärmel trugen.“ antwortete Laura Fiedler trocken.

Ich hielt für einen Moment inne und schaute in das Gesicht des Alten. „Seltsam, dass er mich hier nach ihr gefragt hat.“ überlegte ich laut. „Es war mir so, als ob Isabella hier gewohnt hätte.“

„In seinem Kopf wirbeln die Ereignisse durcheinander, das ist der Grund.“ Laura sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast erschrecken ließ. „Und heute ist es mal wieder besonders arg. Er springt binnen Sekunden von einem Jahrzehnt ins andere. Er steuert das natürlich nicht. Es ist sein Unterbewusstsein. Er sieht eine Fliege, und er glaubt gerade als Kind am Seeufer zu angeln. Drei Sekunden später sitzt er zitternd im Luftschutzkeller und hält sich die Ohren zu, weil er das Dröhnen der Bomber nicht mehr erträgt. Und nach einer Minute darauf lächelt er glücklich, weil ihm sein Hochzeitswalzer im Ohr zu klingen begonnen hat. Dann tanzt er sogar, glaubt meine Mutter im Arm zu halten, küsst grotesk in die Luft. Wie gesagt, das alles in der Abfolge von wenigen Minuten. Er durchlebt in solchen Phasen die unterschiedlichsten Szenen seines Lebens. Unaufhörlich. Ein Martyrium.“

Ich wusste darauf nichts zu erwidern. Wie sollte ich auch. Wie ungleich erschien mir das Schicksal meines eigenen Vaters. Er, der er vielleicht bislang noch ein wenig klarer im Kopf geblieben war, sich aber deshalb grämte, seine Erinnerungen als Dämonen betrachtete, weil sie ihm doch wie ein Mahnmal seines nahen Ablebens so schmerzlich in der Seele brannten. Wer von beiden hatte es denn nun besser? Gab es in diesem Vergleich überhaupt ein `Besser´ oder `Schlechter´?

Laura Fiedler wandte sich zum Gehen. „Ich werde es wohl kaum verhindern können, dass er nicht hin und wieder hier bei Ihnen am Zaun erscheint.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ erwiderte ich sofort. „Ich fühle mich mitnichten gestört.“ Ein kleiner Gedanke flog mir nun durch den Kopf. „Ebenso hoffe ich, dass Sie sich durch meine Anwesenheit in diesem Haus nicht gestört fühlen.“

Laura Fiedler begann zu lachen. Und es war ein sehr schönes Lachen, ein wenig zauberhaft sogar, und ihre Augen blitzten mich freundlich an. „Da hat die verehrte Frau Metzger also bereits schon ihr Gift gespritzt. Aber machen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen. Es sind ganz bestimmt nicht die Bewohner der Appartements, um die es geht. Die können nichts für die vermeintliche Eigentümerin, die an sie vermietet. Und eigentlich …“ fügte sie hinzu, „finde ich es durchaus ganz angenehm, wenn nette Nachbarn zugegen sind.“

„Da bin ich wirklich froh.“ bekundete ich, und war ehrlich ein wenig erleichtert. Ich wollte aber noch zu einem Punkt nachhaken: „Aber wieso `vermeintliche´ Eigentümerin?“ Das war mir doch sofort aufgefallen und hatte mein Interesse geweckt.

Laura Fiedler lächelte immer noch. „Das müssen Sie schon alleine herausfinden. Und ich bin sicher, dass Sie nicht allzu lange dazu brauchen.“

Sie winkte mir noch kurz zu, dann hakte sie ihren Vater unter und führte ihn behutsam weg vom Zaun, zurück in ihr Haus.

Der Funke eines Augenblicks

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