Читать книгу Aus dem Blau dieses unfassbare Glück - Stefan G. Wolf - Страница 4
Prolog
ОглавлениеWenn man in den Ort im Herzen Burgunds hineinfährt, kommt man – aus welcher Richtung auch immer – unweigerlich zur Kirche Saint Ghislain mit ihrem schiefen Dach. Davor liegt ein abschüssiger Platz, den die zweigeschossigen grauen Sandsteinfassaden mit verschlossener Miene anschweigen und an dessen unterem Ende das kleine Rathaus von St. Didier-les-Saules missmutig hinaufschaut, davor das Kriegerdenkmal. In der oberen Hälfte des Platzes zweigt links eine Gasse ab, schlägt ein Haken nach rechts, und da steht man schon vor dem Anwesen der Familie Robin: Wohnhaus, Hof, Werkstatt, ein paar niedrige Nebengebäude, dahinter ein trostloser Garten. Heute wohnt hier eine Frau aus Paris mit ihrem Freund, der aus Australien oder Neuseeland zugeflogen sein soll. Sie gibt Malkurse, im Sommer ist das Haus voll, viele Frauen, auch einzelne Männer. Dann und wann zieht eine Gruppe, bepackt mit Staffeleien, Mal- und Picknickutensilien früh morgens hinaus in die Natur, manchmal sitzen sie alle im Hof, es wird viel geschwiegen und dann wieder viel gelacht. Was sie sonst so machen, wo sie alle schlafen: Wen interessiert das heute noch? Einmal im Jahr, außerhalb der Saison, veranstaltet Mélanie, die Malerin, eine Ausstellung im Atelier, das mal eine Werkstatt war, »um den Bürgerinnen und Bürgern von St. Didier-les-Saules etwas zurückzugeben«, wie sie sagt. Die kommen auch, schauen sich die Bilder an, trinken ein Glas Wein, das ihnen Neil, der Australier (oder Neuseeländer) eingießt, und gehen wieder. Gekauft hat noch niemand jemals etwas.
Wenn sie wieder draußen sind, schauen sich die Leute aus dem Dorf schweigend, aber bedeutungsvoll an. Sie kennen ja alle die Geschichte vom kleinen Clément Robin, der früher hier wohnte und der eines Tages begann, in einer Sprache zu reden, die im Traum zu ihm gekommen sein soll. Ein seltsames Kind, das sich durch nichts und niemanden davon abbringen ließ, dieses Kauderwelsch zu produzieren. Irgendwann war es dann weg. Und viele Jahre später lief Roland, sein Vater – da war er schon ein alter, zuweilen seltsamer Mann – mit einem Brief durchs Dorf, hielt jeden an, der ihm entgegenkam, klopfte da und dort auch an die Haustüren. »Hier«, sagte er, dem sein Sohn schon immer fremd war, und schwenkte den Brief durch die Luft wie eine erbeutete Fahne, »er schreibt: ›Ich habe das Paradies meiner Träume gefunden‹. Heilige Maria, Muttergottes, er hat das Paradies gefunden!«