Читать книгу Aus dem Blau dieses unfassbare Glück - Stefan G. Wolf - Страница 5

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Clément war gerade dem Unbewussten der frühen Kindheit entwachsen, als sich erstmals in die Schwaden des unerinnerten Graus, die seine Träume durchzogen, hier und da erleuchtet von grellen Blitzen, die ihn gerade genug erschreckten, dass seine kleinen Fäuste das Kissen fassten und er sich umdrehte, um weiter durch die Nebel des Schlafs zu taumeln, zunehmend Wirbel und Wellen von Grün, Türkis und Blau aller Schattierungen mischten, die aus dem unendlichen Raum der Traumwelten zu ihm kamen. Nicht Nacht für Nacht, aber immer wieder über die Wochen dieses ungewöhnlich milden, dann plötzlich frostig-kalten Herbstes hinweg verdrängte die blau-grüne Drift die Nebel seiner Kinderträume. Wenn Clément dann erwachte, fand er sich wieder in einer trüben, farblosen Welt, und schloss schnell die Augen, um noch einmal einzutauchen in das warme Leuchten.

Machte er sich morgens auf den Schulweg, begleiteten ihn bis hinter Bertrands Ziegenstall das Singen der Bandsäge und die dumpfen Hammerschläge, mit denen Roland Robin die Bretter ineinanderfügte. Seit Clément wusste, dass sein Vater, wie schon sein Großvater und dessen Vater, Särge zimmerte und wozu sie dienten, klangen die Geräusche aus der Werkstatt hinter dem Wohnhaus anders, ohne dass Clément darüber nachdachte, wie er das beschreiben sollte – anders eben. Es sollte nicht lange dauern und der Vater würde zum ersten Mal einen Verstorbenen aus einem Trauerhaus holen, um ihn in einem Raum hinter der Werkstatt ordentlich einzusargen, denn in den neuen Mietshäusern am Rand des Nachbarorts war die Möglichkeit für die alten Bräuche (das Aufbahren, die Totenwache) nicht mehr ohne Weiteres gegeben. Von da an nannte sich sein Vater ein wenig großspurig Bestatter und verbarg die Schwielen und blutigen Risse seiner Hände, so gut es ging, aber das sollte noch eine Zeit dauern, und bis dahin änderte sich für Clément und seine Gedanken über die Werkstatt, den Duft des Holzes und das Kreischen der Kreissäge noch nicht allzu viel.

War er erst einmal auf die Rue de la Grande Cour eingebogen, konnte er das kleine Schulhaus am gegenüberliegenden Hang sehen. Noch im Sommer hat­te er ganz genaue Vorstellungen davon gehabt, was ihn dort erwartete. Schule, das war für ihn wie das schönste Buch, das man sich vorstellen kann, bunter, lebhafter, spannender, erfüllender als alles andere, was er seinem jungen Geist je zugeführt hatte. Le Petit Chaperon Rouge, Les Contes du chat perché, Un bon petit Diable oder die Bücher um Babar, den Elefanten. Wenn seine Eltern vom Markt in Saulieu zurückkamen und seine Mutter ihm am Abend ein neues Buch in die Hand drückte, führte er es jedes Mal als erstes an seine Nase, um den Duft von Papier und Druckfarbe einzuatmen, die sich für ihn zu einem süßen verheißungsvollen Parfüm vereinten. Mutter sah ihn verständnislos, aber nachsichtig an, und wenn er über den Rand des Buches ihr in die Augen schaute, erkannte er, dass sie diejenige war, deren Hand er auf dem Weg über den schmalen Steg in ein unbekanntes, doch schon jetzt ihm verheißenes Land auf seinem Rücken spürte. Sie war sein Schutzengel.

Jetzt, nachdem der Sommer endgültig zu Ende gegangen war, da sich die Zweige mit den schweren Äpfeln und Birnen und Quitten den Pflückern entgegenneigten, die meisten Felder zwischen Thorizeau und La Raquette, soweit sein Auge eben von dieser Stelle des Schulwegs aus reichte, abgeerntet und die Schweine hinter seines Onkels Haus rund und speckig geworden waren, sich alles der Vollendung des Jahres zubereitete, da fühlte sich sein junges Leben so weglos an, hatte alle Spannung verloren. Wenn er jetzt zur Rue Basse hinunterlief, dann verschwand das Schulhaus hinter den anderen Häusern, die rechts und links und vor ihm an der Straße standen, doch wusste er immer noch, in welche Richtung er gehen musste, wo sein Ziel lag. Für sein Leben hatte das verwirrte Kind sein Ziel verloren, denn die Schule, dieses unauffällige Gebäude, ein Geschoss hoch und aus grauem Sandstein wie alle anderen Gebäude umher, bot ihm während der Stunden, die er dort verbrachte, nicht das, was er erwartet hatte, und das war nicht mehr gewesen als Überwältigung, Offenbarung, das große Aha. Er aber war gezwungen, mit Buntstiften seine Sommererlebnisse zu malen. Kreise und Wellen auf einer Linie zu ziehen, ooooo und mmmmm und vvvvv. Singen und dabei die Bewegungen von Madame Schwartz nachzuahmen … Savez vous planter les choux? À la mode, à la mode!, und dann pflanzten sie alle imaginäre Kohlköpfe auf ein imaginäres Feld. Das war nicht die Schule, die Clément sich erträumt und erhofft, nein: nach der ihn verlangt hatte, auf die er geradezu ein Anrecht hatte! Am Nachmittag, wenn Madame Schwartz und Monsieur Petitjean, der Lehrer der älteren Kinder, sie an der Schultür verabschiedeten, rannte er so schnell nach Hause, dass er stets außer Atem in der Rue Haute ankam, über den Hof und ins Haus stürzte, den Ranzen von sich warf und sich auf die Eckbank zurückzog, ja, und nicht selten liefen ihm Tränen über die Wangen.

Dann kam Großvater und sprach zu ihm wie zu einem großen Jungen. Er machte Witze und versuchte ihn aufzuheitern, was ihm auch zuweilen gelang und ihn veranlasste, sich wieder aus der Küche zu entfernen und irgendeiner Arbeit zuzu­wenden, im Haus oder draußen, in der Werkstatt, im Hof, so als ob das Lächeln seines Enkels eine erledigte Aufgabe wie jede andere sei. Seine Mutter aber nahm ihn in die Arme und sagte kein einziges Wort, kein falsches und kein richtiges, und das war es, was er jetzt brauchte. Dann drückte sie ihn kurz und ging zu anderen Dingen über. »So, und jetzt holst du die Teller für das Abendbrot aus dem Schrank. Und den Käse aus der Kammer. Und bring die Eier mit!«

Er freute sich darüber, seiner Mutter zur Hand gehen zu können, und was andere Kinder vielleicht eher widerwillig und nachlässig erledigten, tat er gewissenhaft und gern. Dann stand er neben ihr und schaute aus gehörigem Abstand zu, wie sie das Brot aufschnitt oder einen Auflauf zubereitete und in den Ofen schob oder einfach nur Eier buk. Denn er aß auch gern, er hatte Genuss am Geruch der Lebensmittel, der sich veränderte, wenn sie in der Pfanne auf zischendem Fett tanzten oder wenn sie sich aufbäumten unter der Hitze des Backofens, die Farbe wechselten, schmolzen oder fest wurden, je nach Art, wenn sie auf den Teller kamen und sich entspannten und man das riechen konnten, wie gut ihnen das gefiel: gut aussehen, wohl riechen, gut schmecken. Sein Verhältnis zu den einfachen Gerichten seiner Kindheit auf dem Lande war sublim, ohne dass er sich je darüber bewusst wurde – auch später nicht –, was sich aber niemals änderte, sein Leben lang nicht, was immer es war, das er vor Augen, unter die Nase, auf seine Zunge bekam.

Clément musste nicht im Haushalt helfen, seine Mutter hatte ein feines Gespür dafür, wann und wofür sie ihn anstellen konnte und wann und wofür nicht. Niemals hielt sie ihn nach dem Abendessen auf, wenn er, wie sie wusste, schnellstens auf sein Zim­mer gehen wollte, nicht zum Abräumen des Tischs, zum Abtrocknen oder eine andere Handreichung. Sie ließ ihn ziehen, und er wusste, dass sie wusste, dass dies der wertvollste Teil des Tages für ihn war.

Angekommen in seinem Refugium, schloss er leise die Tür, um keine schlafenden Ansprüche zu wecken, die an ihn gerichtet werden könnten, was zuweilen vorkam: dem Großvater Tabak besorgen gehen, dem Vater helfen, den Holzleim für den nächsten Tag anzurühren oder die messingnen Beschläge anzuhalten, während Vater sie am Sarg festschraubte – Dinge, bei denen der Meister, so mutmaßte Clément, eigentlich keine Hilfe brauchte. Warum verlangte er danach, warum stahl er ihm seine wertvollste Zeit? Weil er seinen Sohn gern einmal für sich haben wollte, könnte man sagen, weil er ihm zeigen wollte, was er mit seiner Hände Arbeit schaffte, aus Stolz, vielleicht aus Liebe? Clément schaute verstohlen zu seinem Vater auf, der ihm so vertraut und zugleich so fremd war. Wenn Roland Robin sich konzentrierte, kniff er die Augen zusammen und schob die Zungenspitze links zwischen die Lippen, dorthin wo sonst die Zigarette saß. Der Junge versuchte, diesen Gesichtsausdruck nachzuahmen, doch ohne Spiegel konnte er nicht überprüfen, ob es ihm gelang. Er musste heute Abend daran denken, wenn er sich im Bad für das Zubettgehen fertigmachte. Er konnte zwar noch nicht sein Gesicht vollständig im Spiegel sehen, doch mit dem kleinen Tritthocker musste es gehen. Ein Spiegel in seinem Zimmer, das wäre schön, dann könnte er üben zu sein wie die anderen. Hinterhältig schauen wie Jean-Baptist, klug schauen wie Marc, herausfordernd wie Edmond, fröhlich wie Hardouin, überlegen wie der, den sie alle nur Seigneur nannten, weil er im alten Manoir d’Ogny wohnte, auch wenn er nicht von Adel war.

Wenn er in seinem Zimmer war, übte er Ausschauen, auch ohne Spiegel. Und wenn er ausschaute wie …, dann versuchte er auch zu denken wie … Was dachte sich Pépin dabei, wenn er sich schon vor der ersten Schulstunde an Madame Schwartz heranmachte, um ihr irgendetwas zu erzählen, was keinem anderen als erzählenswert erschienen wäre, von dem Pépin allerdings wohl dachte, es hebe ihn, den kleinen, grau­häutigen, gelbhaarigen Jungen eines Ziegenbauern, der weitab vom Ortsrand hinter Collonges hauste, aus der Schar der anderen rotznasigen Quälgeister heraus? Währenddessen genoss es Clément, nicht aufzufallen, nicht zu stören, still, aber beständig und vorhersehbar seine Bahn zu ziehen, Kometeneinschlägen wie dem Brand des Papierkorbs im Klassenzimmer auszuweichen, nicht zu viel Mühe darauf verwendend, sich beliebt zu machen, beliebter als er meinte, auf natürliche Weise sein zu können.

In der Abgeschiedenheit der kurzen Frist zwischen Abendessen und Zubettgehen versuchte er sich auch darin, die Physiognomien der Bücherwesen nachzubilden. Früher hatte Mutter die Kinderbücher, aus denen sie an seinem Bett vorgelesen hatte, mitgenom­men, damit er nicht noch heimlich darin blätterte, wenn er eigentlich hätte schlafen sollen. Seit einiger Zeit aber stellte sie die Bücher auf ein Bord, auf dem auch sein Plüschhase Panpan saß und die kleine Spieldose stand, die Dodo, l’enfant, do! spielte. Seit einiger Zeit konnte er auch entziffern, was die Bücher erzählten, manches davon wusste er auswendig, doch wenn ein neues Buch hinzukam, dann wanderten jetzt seine Finger über die Zeilen, um die Buchstaben aufzulesen, und nach und nach verwandelte sich der Zauber der Verkündigung aus dem Mund seiner Mutter in Wissenschaft, mit der er sich die Geschichten erarbeitete. Nach und nach auch vernachlässigte seine Mutter ihre abendliche Pflicht, als sie sah, dass ihr Junge ihrer nicht mehr bedurfte, um in die imaginierten Welten einzudringen. Es geschah ganz allmählich, dass er nicht nur seine Mutter zurückließ (wie er es jetzt übrigens auch tat, wenn er allein seine anderen Großeltern in La Comme besuchte, eine halbe Stunde und mehr zu Fuß, in der er den Dorant überqueren und durch ein Wäldchen hindurch hügelaufwärts lau­fen musste), sondern sich bald nicht mehr als Besucher in jener fremden Welt bewegte, sie vielmehr er­oberte und dann, im Einschlafen und zuweilen noch im Traum selbst gestaltete. Er hatte viel Phantasie.

Zu Weihnachten bekam er einen Globus geschenkt, dort, wo die zwei Halbkugeln aus dünnem Blech zusammengefügt waren, lief der Äquator durch Meere, über Berge und durch Urwälder, die Meere waren blau wie die großen Ströme, die Berge dunkler und dunkler, je höher sie ragten, und die höchsten trugen weiße Kronen. Von undurchdringlichem Dun­kelgrün waren die großen Wälder, während blasses Gelb die Trostlosigkeit der Wüsten vermittelte. Und überall die roten Punkte der großen Städte. Im Schlaf noch rezitierte er sein geografisches Mantra: Tromsö, Stambul, Saragossa, Ouagadougou, Mississippi, Addis Abeba, Curitiba, Djibuti, Ushuaia.

Er lernte schnell, keine Frage. Das Lesen und Schreiben vor allem, das Rechnen fiel ihm nicht so leicht, was Pflanzen und Tiere im Unterrichtsstoff zu suchen hatten, war ihm nicht klar, denn sie umgaben ihn doch so selbstverständlich, dass man nicht viele Worte darum machen musste. Über die Sterne hätte er gern mehr gewusst, oder zunächst wenigstens etwas über Katanga, das Feuerland oder die gelb-grünen Punkte im weiten Blau des Ozeans, die so klein waren, dass er sie übersehen hätte, wenn sie nicht alle bezeichnet gewesen wären: Papeete, Nouméa, Pago-Pago, Fidji, Rapa Iti.

Sein erstes Zeugnis hielt er in seinen Händen, ohne recht zu wissen, was er nun damit anfangen sollte. Noch nie hatte ihm jemand gesagt, dass er etwas gut oder weniger gut oder gar schlecht gemacht hätte. Wenn Vater ihn das Bodenbrett eines Sarges beizen ließ, dann zeigte er ihm, wieviel der beißenden Flüssigkeit er aus dem rundum verschmierten Topf zu nehmen, wie er den Pinsel zu halten habe, wie er die Striche führen sollte, wie er dann, kurz nach dem voll­ständigen Trocknen, mit einem zum Ballen gewundenen Tuch Glanz aufzupolieren hatte. Stellte er sich ungeschickt an, führte Papa ihm die Hand, machte er es gut, nickte er. Es fiel niemals ein lautes Wort, geschweige denn, dass Vater ihm seinen Unmut körperlich mitgeteilt hätte. Hatte Clément seine kleinen Arbeiten zur Zufriedenheit seines Meisters ausgeführt, strich dieser über das polierte Brett, prüfte er eine geschmirgelte Plankenkante mit einem zugekniffenen Auge auf ihre Ebenmäßigkeit, fasste seinen Sohn anschließend an den Schultern und nickte.

Mutter sagte ›Bitte‹ und ›Danke‹, wenn er ihr zur Hand ging, und hinterher, wenn der letzte Löffel abgetrocknet, die letzte Schüssel verräumt war, ›Geh jetzt zu deinen Dingen‹ (sie sagte tatsächlich: zu deinen Dingen), und Clément wusste hinterher nie, ob er gerade wegen seines besonders tatkräftigen Einsatzes und seiner löblichen Sorgfalt mit der Freiheit belohnt oder wegen seiner Unfähigkeit und Begriffsstutzigkeit davongejagt worden war.

Nun hatte man ihn also ausdrücklich beurteilt und dies mit blauer Tintenschrift auf einem amtlichen Dokument festgehalten. ›Clément hat das erste Schuljahr mit insgesamt guten Leistungen beendet. Er versteht sehr schnell, zeigt dies aber zu wenig im Unterricht. Vor allem an seinen guten Lesefähigkeiten lässt er die anderen nur ungern teilhaben. Seine Hausaufgaben macht er gewissenhaft und meist fehlerfrei. Auch die ihm in der Schule übertragenen Aufgaben erledigt er schnell und sicher. Er hat sich gut in die Klassengemeinschaft eingefügt, verhält sich aber eher zurückhaltend und abwartend und geht jedem Streit aus dem Weg. Wir wünschen ihm auf dem weiteren schulischen Weg viel Erfolg und Freude.‹

Auf dem Nachhauseweg entzifferte er die ungewohnte Handschrift. Er verstand nicht alles, was das Zeugnis sagen wollte, aber er ahnte, dass jedes Lob mit einem Quentchen Einschränkung, wenn nicht Ab­wertung verbunden war. Doch war er mangels Er­fahrung dem Lob gegenüber so wenig aufgeschlossen wie der Kritik, sie traten nicht an ihn heran, er brauchte sie nicht, um zu wissen, er vermisste sie nicht, um zu fühlen, er tat, was er tat, so gut er es tun konnte, ohne eine Vorstellung von Maß und Messbarkeit, von Unbrauchbarkeit, Mittelmäßigkeit und Vollendung zu besitzen. Darüber hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen, und davon hatte noch nie jemand abhängig gemacht, wie und als wen er ihn ansah.

Er legte das Zeugnis auf den Küchentisch, denn er war ermahnt worden, das Dokument vom Vater unterschreiben zu lassen und nach den Sommerferien Madame Schwartz noch einmal zu präsentieren. Und weil niemand da war, der ein Wort an ihn gerichtet, ihm eine Frage gestellt, einen Auftrag erteilt hätte, stieg er hinauf in sein Zimmer, schloss das Fenster, durch das der unverschämte, aufdringliche Geruch von rohem Holz, billiger Beize und Lack hereindrang, und steckte seine Nase in den vielversprechenden, unfassbaren und stets neuen Duft von Papier und Druck­farbe.

Das war etwa um die Zeit, als sie zum ersten Mal im Traum erschienen. Sie waren stets zu zweit oder zu dritt, und kamen durchaus gemächlich, doch mit gleichmäßiger Bewegung und ohne Zögern durch die Wellen von Grün, Türkis und Blau auf ihn zu. Er ahnte sie mehr, als dass er sie sah, die Gesichter ohne jegliche Unterscheidbarkeit, fast formlos, die Körper von mittlerer, aufrechter Statur, dunkelhäutig (oder zumindest dunkler als die Körper, die Clément kannte). Er erkannte sie als Männer und Frauen, mal waren es zwei vom gleichen Geschlecht, mal ein Paar, mal ein Mann und zwei Frauen, und so weiter. Es war ihm natürlich völlig unmöglich, sie wirklich zu sehen, anders als wenn er sich im Wachsein mit geschlossenen Augen an Menschen erinnerte, die er kannte, denn dann erschienen sie wie im alltäglichen Leben mit all ihren körperlichen Eigenarten. Im Traum aber hätte er noch nicht einmal sagen können, wen er als Frau oder Mann erkannte (und an welchen Merkmalen er das feststellte), aber er fühlte, dass es so war, Mann oder Frau, und dass es Menschen waren sowieso, Menschen fremder Gestalt, doch wenn sie ihm begegnet wären in der Rue Principale oder auf dem Dorfplatz, so hätte er sie nicht wiedererkannt. Wie es halt so geht im Traum, in dem wir Menschen sehen, die wir kennen, oft sogar wiedererkennen aus früheren Träumen oder dem Leben in der wirklichen Welt, ohne dass wir ein Gesicht sehen oder ein Attribut benennen können, das sie als solche kennzeichnet. Ist das eine Art Aura, die Traumwesen mit sich tragen, mithilfe derer sie – mangels sinnlicher Wahrnehmung – direkt mit den Gedanken und Gefühlen der Schläfer sich verständigen?

Wie auch immer – sie kamen auf ihn zu, selbstsicher, ohne Zögern, wie gesagt, so dass er annehmen musste, dass dort, wo nun er sich im Traum befand, diese Menschen zuhause waren, dass sie ein Recht hatten, dort zu sein, und er ein Eindringling war, bestenfalls ein Gast. Doch er hatte keine Angst, er floh nicht, er wich nicht, sondern – dies vielleicht auch erst nach der zweiten oder dritten Traumbegegnung, sie verschwammen in seiner kindlichen Erinnerung – er beweg­te sich vielmehr auf sie zu. Er bemühte sich, sie nachzuahmen, ihren Gesichtsausdruck (die Mimik, die er im Traum zu sehen glaubte), er straffte seinen Körper und wollte sich unerschrocken zeigen, wie eben kleine Jungs forsch auftreten, und dabei zuweilen liebenswert, zuweilen lächerlich erscheinen.

Doch bald bemerkte er zum ersten Mal, dass sie sich unter Wasser befanden, dass die schillernden Blau­töne sie völlig umgaben, nach oben heller, nach unten schnell dunkler werdend, bis sich die Welt in tiefem Schwarz verlor. Er versuchte, zu den Traumwesen zu schwimmen, die ihm freundlich, mit langsamen Armbewegungen zu verstehen gaben, dass er zu ihnen kommen solle, was ihm aber nicht gelingen wollte, denn es war, als zöge ihn eine sanfte, aber gleichmäßige Drift immer wieder zurück, und ob er auch seine Anstrengungen verdoppelte, er kam nicht voran. Dieser Kampf mit dem Element, in dem er versuchte, Raum zu gewinnen, kostete ihn mehr und mehr seiner Kraft und seiner Aufmerksamkeit, schließ­lich ließ er nach, schien er aufzusteigen, es wur­de heller und heller um ihn herum, ihn überkam Scham wegen seines Versagens und der unwürdigen strampelnden Bewegungen (wie musste das für sie aussehen), und am Ende wusste er, dass all seine Bemühungen, zu diesen Fremden zu gelangen, unmöglich war.

Er durchbrach die Wasseroberfläche, doch wider Erwarten musste er nicht sogleich tief Luft holen, vielmehr stockte ihm der Atem, und darüber wachte er auf. Dann war es noch dunkel vor seinem Fenster, und er schaute in die vollkommene Finsternis mit einem Nachglanz der Farben des Traums auf seiner Netzhaut. Die Menschen, die ihm da entgegengekommen waren, konnte er nur als unförmige Figuren, kontur- und farblos erinnern, und nachdem er bald erneut eingeschlafen und am Morgen im ersten Sonnenlicht wiedererwacht war, bewahrte er die Traumbilder nur noch als ein Gefühl überwältigender, doch vergeblicher Sehnsucht in seinem Herzen.

Im zunehmenden Licht des Sommermorgens ver­blassten die Erlebnisse der Nacht. Wenn seine Mutter ihn nicht Besorgungen machen hieß, sein Vater ihn nicht in die Werkstatt rief und sein Großvater ihn nicht mitnahm in den Garten oder zu den Obstbäumen, wo er immer etwas zu tun fand für sich und seinen Enkel, so lief Clément hinunter zum Serein, der durch die Gemarkung des Ortes floss und ein Treffpunkt aller Heranwachsenden jeglichen Alters war. Hier konnte man Staudämme bauen und Kaulquappen fangen, man konnte an manchen Stellen baden, und das Ufer bot genügend Gebüsch, in dessen sommerlichem Zwielicht sich Jungen und Mädchen zurückzogen, um sich ungestört zu besprechen.

Wenn Clément zum Serein kam, dann war seit einiger Zeit das erste, was er machte, dass er so viel Spucke sammelte, wie er konnte, und sie hineinspie in das ruhig dahinströmende Wasser des Flüsschens. Er hatte nämlich im Geografie-Unterricht voller Staunen vernommen, dass die Wasser des Serein bei Bonnard in die Yonne flossen und diese sich wiederum mit der Seine vereinte, die, wie wir alle wissen, nach vielen hunderten Kilometern den Atlantik erreicht, das Meer. Noch wusste er nicht, wie lange es wohl dauern würde, bis sein Spuckebatzen diese Reise zurückgelegt haben würde, und er hatte noch keine Vorstellung da­von, dass sich dieser Speiflecken schon wenige Meter hinter seinem Standort würde aufgelöst haben in Myriaden Tröpfchen, vermischt mit den Tropfen des Gewässers, von Fischen geschluckt und ausgespien, von Bewohnern der Nachbarorte geschöpft und auf ihre Gartenbeete gegossen, von erhitzten Wanderern und Radfahrern getrunken, im weiteren Lauf mit Schöpfrädern in die kleinen Manufakturen hinein- und nach verrichteter Arbeit wieder hinausgeleitet, auf dem Weg durch Paris durchaus auch mit Unflat aufgemischt – und dennoch: wenn irgendein Guillain oder Wibert einen Eimer Wasser aus den salzigen Wogen des Atlantiks über sein Bootsdeck kippte, enthielte er immer noch einige wenige Moleküle von Cléments Spucke, eine Nichtigkeit von Bedeutung, eine intime Spur zu dem Jungen dort unten im tiefen Frankreich, dem Jungen, der vom Meer träumt.

Clément gehörte zu keiner jener Cliquen im Dorf, denen sich die meisten Jungs auf die eine oder andere Art zugehörig fühlten. Sie alle trugen Namen, die weit in die mythische Vergangenheit des Ortes hinabreichten und von niemandem, am wenigsten von den Kindern selbst verstanden wurden. Was sollte man von Namen wie Die Korbschneider, Die Amselkönige oder Die Schmierbärte halten? Dennoch waren sie – bar jeder Sinnhaftigkeit und Bedeutung – hoch emotional aufgeladene Bezeichnungen, mit denen alle auch Beschreibungen der einzelnen Gruppen verbanden, auf die man sich immer mal wieder gesprächsweise bezog. Ah, die Amselkönige, da musst du schnell laufen, wenn du mehr als zwei siehst; einzeln oder zu zweit sind sie harmlos. Die Schmierbärte? Halte deine Taschen zu, sonst haben sie dir flugs die Löcher gestohlen. So oder ähnlich hieß es über die Banden, und keiner dachte wirklich darüber nach, ob das so stimmte, denn niemand konnte sich erinnern, wann zuletzt die Bandenmitglieder sich ihrer Zuschreibung entsprechend verhalten hätten. Manchmal wusste man noch nicht einmal, wer zu welcher Clique gehörte, von unbedeutenderen wie den Bergpfeifern wusste man noch nicht einmal mehr, ob es sie noch gab.

Wenn Clément seinen Großvater danach fragte – der einzige, den er nach so etwas fragen konnte –, dann lächelte der den Jungen zunächst still an, und Clément konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Weißt du«, begann er dann immer, »früher war das ja anders als heute. Da waren die Erwachsenen noch mindestens einen Fuß größer und sie sprachen in einer unverständlichen Sprache. Und abends, sobald es dunkel genug war, kam der Gelbe Zwerg zum Hoftor und klopfte an. Das sei doch bloß der Wind, sagte meine Mutter, aber einmal saß er neben meinem Bett, als ich in der Nacht aufwachte.«

»Du wolltest mir doch von den Schmierbärten und den Amselkönigen und so erzählen!« quengelte Clément dann, der wusste, wohin es führte, wenn man Großvater beim Erzählen nicht Führung anbot.

»Hör mir doch damit auf«, erwiderte der. »Vor denen musst du keine Angst haben, das sind alles genauso kleine Hosenscheißer wie du!«

»Warst du auch mal in einer Bande?« fragte der Junge dann weiter, und Großvater seufzte.

»Hmm, ja, die Bande, freilich war ich in einer Bande, und ob du’s glaubst oder nicht: Ich war ihr Anführer!«

»Und wie hießen die?«

»Ach die, die gibt’s schon lange nicht mehr, die sind sozusagen nach mir ausgestorben.«

»Gestorben?«

»Nein, nicht richtig gestorben, die haben halt aufgehört mit ihrem Treiben, keiner weiß warum.«

»Und wie hießen die?« Clément ließ nicht locker. Der Großvater dachte nach und ließ sich nicht anmerken, ob er in seiner Erinnerung kramte oder nach einem Ausweg suchte.

Schließlich war ihm das eine oder das andere eingefallen und er verkündete: »Die hießen Hexengrinser«.

»Hexengrinser?« wiederholte Clément ungläubig, »ihr habt euch Hexen­grinser genannt?«

»Hör mal, Junge, eines musst du dir merken: Man nennt sich nicht, das war einfach unser Name, schon lange vor mir, der war einfach da. So ist das bei allen Banden, keine hat sich ihren Namen ausgesucht, niemand weiß, wann und wer seine Bande zum ersten Mal so genannt hat, wie sie heute noch heißt.«

Als Clément das nächste Mal am Serein einer Gruppe von Jungs begegnete, von denen einige den Amselkönigen, einige andere den Schmierbärten angehörten, die ihn aber in einträchtiger Gemeinheit schubsten, mit Blutegeln bewarfen und ihn Klappersarg nannten, da stellte er sich ihnen entgegen und fuhr sie an: »Ich hole gleiche meine Leute, das sind die Hexengrinser, die werden euch alle in den Fluss werfen!« Da schütteten sich die anderen aus vor Lachen, einer trat ihm von hinten in die Kniekehle, dass er auf dem Hosenboden landete, und während zwei von ihnen sich auf seine Arme knieten, öffnete der dicke Aimé seinen Hosenstall und pinkelte ihm auf den Bauch. Und alle sangen:

»Eins, zwei, drei – wer’s auf dem Dach dabei?

Vier, fünf, sechse – das Grinsen der Hexe,

sieben, acht, neune – auf dem Dach der Scheune,

zehn, elf, zwölfe – mit dem Ei der Elfe.

Das Ei ist zerkracht,

die Hex’ hat gelacht,

und hat ein Omelette draus gemacht!«

Damit ließen sie ihn liegen und achteten gar nicht mehr auf die Tränen, die über seine Wangen rollten.

Nun sollte man nicht den Fehler begehen und aus Ereignissen wie diesen den voreiligen Schluss ziehen, Clément sei unbeliebt gewesen. Das dachte er übrigens selbst nicht über sich. Doch manchmal macht und sagt man halt Dinge, die besser ungetan und ungesagt geblieben wären, vor allem in be­stimmten Situationen mit gewissen Menschen und wenn man aus augenscheinlichen Gründen von den anderen nicht un­bedingt als Bedrohung angesehen wird. Das Ende ist dann meistens, dass man geschubst wird und sich ohnmächtig anpinkeln lassen muss. Das war einer der Gründe, weshalb sich Clément gern abseits hielt, denn er war sich nicht ganz sicher, was man wann und wie sagen konnte, ohne dass es in einem entwürdigenden Erlebnis endete. Er hätte sogar noch damit leben können, wenn es damit getan gewesen wäre, doch die Jungs waren nachtragend und nutzten seine Unterlegenheit schamlos aus. Seit dem Vorfall mit den Hexengrinsern am Fluss, nannten sie ihn Pisspott und erläuterten den anderen, die nicht dabei gewesen waren, gern, wie er sich diesen Namen verdient hatte. Als sein Vater einmal mitbekam, mit welchem Namen sein Sohn gerufen wurde, stellte er ihn zur Rede. »Was habe ich da gehört?« Cléments schmale Schultern verschwanden fast völlig unter den Tischlerhänden des Alten und es schmerzte, wenn sie zudrückten. »Wie haben die dich eben genannt?«

»Ach, die«, wiegelte der Junge ab und vermied es, seinen Vater anzuschauen. »Die spinnen doch. Was weiß ich.«

»Aber warum … Pisspott? Das muss doch einen Grund haben!«

»Keine Ahnung«, antwortete Clément gespielt gelangweilt. Sein hochroter Kopf erzählte etwas anderes.

Der Vater drückte noch einmal zu, dann verabreichte er seinem Sohn eine Ohrfeige, die nicht wehtat, aber etwas bedeuten sollte, und schickte ihn weg. »Hol mir den Stechbeitel und den Holzhammer! Aber ein bisschen schneller als sonst!« Die Anspannung fiel so schnell von Clément ab, dass es ihn schier schwindelte. »Und sie zu, wo du hintrittst!« Monsieur Robin konnte nur den Kopf schütteln über einen solchen Sohn.

Clément war zwar nicht unbeliebt, aber er hatte nicht das, was eine Kindheit und Jugend auch so besonders macht: den besten Freund. Häufig dachte er kurz vor dem Einschlafen darüber nach, wen er sich zum besten Freund nehmen würde, und da der Kreis derer, die er mit gutem Recht als Freunde bezeichnen konnte, klein war, war auch die Kandidatenliste zur Wahl des Besten nicht lang. Er ging dabei gewissenhaft vor, wägte Vorzüge und Einwände sorgfältig gegeneinander ab, versuchte, sich die so gewonnenen Erkenntnisse im Gedächtnis zu behalten, um dann die Auswahl immer enger zu fassen. Jeannot ist stark, aber er grinst immer so dämlich. Mit Jean-Claude kann man gut reden, aber nicht zu nah, denn er riecht aus dem Mund. Vincent verfügt über einen nie versiegenden Vorrat an Bonbons, vornehmlich Zitrone und Apfel, aber er ist so … Clément scheute sich, dieses Urteil über jemand anderen zu fällen, aber es half ja nichts, wenn er nicht wenigstens sich selbst gegenüber offen und ehrlich war, Vincent also war dumm, und das war nicht nur seine Einschätzung.

Meistens war Clément irgendwann im Verlauf des Vorentscheids eingeschlafen. Wenn es ihm aber gelang, die Wahl in seinen Gedanken bis zum Ende durch­zuspielen, dann blieb nur einer seiner Spielgefährten übrig, besser gesagt: eine, und das war Anne-Laure, von allen Nana genannt. Sie hatte dunkles Haar, das sie hoch auf dem Hinterkopf zu einem frechen Pferdeschwanz band, war gelenkig und flink, den anderen immer voraus, ob es darum ging malzunehmen, Blumen zu bestimmen oder auf einen Baum zu klettern. Wobei, genau genommen ließen die anderen ihr gern den Vortritt beim Klettern, da sie alle erwarteten, auf diese Weise den weiblichen Geheim­nissen näher zu kommen. Doch auch wenn Clément zu Nana als Kandidatin kein einziger schwacher Punkt einfiel – ein Mädchen als bester Freund, damit würde er sich endgültig unmöglich machen. Und so blieb alles, wie es war, er ging allein zur Schule, hielt sich am Rand des Schulhofs auf, wechselte nicht viele Worte mit seinen Klassenkameraden, streunte an den Nachmittagen und in den Ferien allein am Serein oder im Wald umher und saß dann irgendwann in seiner Kammer, wo er in den Büchern genügend beste Freunde fand, um mit ihnen den Globus zu erobern.

Aus dem Blau dieses unfassbare Glück

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